Harper als Philosoph oder: Die Philosophie seiner kritischen und politischen Fehler Politik und Philosophie von Lenin bis Harper (Teil 1)

Politik

17. Januar 2013

Bei der Lektüre von Harpers Buch über Lenin wird deutlich, dass es sich um eine ernsthafte und tiefgehende Studie über Lenins philosophische Arbeit handelt, getragen von einer klaren Struktur der materialistischen Dialektik, mit der er Lenins philosophisches Konzept abgleicht.

Politik und Philosophie von Lenin bis Harper.
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Politik und Philosophie von Lenin bis Harper. Foto: Ivar Leidus (CC BY-SA 3.0 cropped)

17. Januar 2013
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Für Harper stellt sich das Problem folgendermassen: Statt Lenins Konzeption der Welt von seiner politischen Aktivität zu trennen, besteht der beste Weg, sich das Handeln dieses Revolutionärs anzuschauen, darin, die dialektischen Ursprünge seiner Aktivität zu begreifen. Für Harper ist „Materialismus und Empiriokritizismus” das Werk, das Lenins Denken am besten beschreibt. Hier startet Lenin seinen Angriff auf den ausgeprägten Idealismus, den grosse Teile der russischen Intelligentsia, beeinflusst durch das philosophische Konzept Machs, angenommen hatten. Sein Ziel war es, dem Marxismus neues Leben einzuflössen, da dieser litt nicht nur unter dem Revisionismus Bernsteins sondern auch unter dem Machs itt.

Ausgehend von Marx und Dietzgen leitet Harper das Problem mit einer tiefgreifenden und scharfsinnigen Analyse der Dialektik ein. Mehr noch, Harper macht in seiner Untersuchung einen deutlichen Unterschied zwischen dem frühen Marx mit seinen ersten philosophischen Studien und dem späteren Marx, der mit der bürgerlichen Ideologie gebrochen hatte und den Klassenkampf „entdeckt“ hatte. Diese Unterscheidung erlaubt ihm den Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Materialismus der prosperierenden kapitalistischen Epoche – verkörpert durch die Naturwissenschaft – und des revolutionären Materialismus, konkretisiert in der Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung, hervorzuheben. Harper bemüht sich, verschiedene, von Lenin entwickelte Konzeptionen zu widerlegen, die sich nach seiner Meinung weniger auf die Auseinandersetzung mit Machs Ideen bezogen als eher aus polemischen Gründen benutzt wurden, um die Einheit der russischen sozialdemokratischen Partei zu festigen.

Interessant ist Harpers Arbeit in Bezug auf sein Studium der Dialektik, wichtig seine Behandlung der Art und Weise, wie Lenin Machs Ideen korrigiert, doch der unbestreitbar interessanteste Teil (da er die wichtigsten Konsequenzen nach sich zieht) ist die Analyse der Quellen des Materialismus Lenins und ihr Einfluss auf seine Aktivitäten in der internationalen sozialistischen Diskussion und der Revolution 1917 in Russland.

Der erste Teil der Kritik beginnt mit einer Studie der philosophischen Ahnen Lenins, von Holbach über verschiedene französische Materialisten wie Lametrie bis hin zu Avenarius. Das gesamte Problem dreht sich um die Erkenntnistheorie. Selbst Plechanow entkam nicht der Sogwirkung des bürgerlichen Materialismus. Feuerbach ging Marx voran. All dies erschwerte das soziale Denken des gesamten russischen Marxismus, allen voran Lenins.

Harper betont korrekterweise den statischen Blick auf die Welt, der die Erkenntnistheorie des bürgerlichen Materialismus kennzeichnet, und kontrastiert dies mit der Natur und Orientierung des revolutionären Materialismus.

Die Bourgeoisie betrachtet die Erkenntnis als ein rein empfangendes Phänomen (nach Harper teilt auch Engels diese Sicht). Für sie bedeutet Erkenntnis einfach Vorstellung und Empfindung der externen Welt - als ob wir nicht mehr als ein Spiegel seien, dermehr oder weniger zuverlässig die externe Welt widerspiegeln würde. Darin erkennen wir, warum die Naturwissenschaften das Schlachtross der bürgerlichen Welt waren. In ihren ersten Ausformungen basierten Physik, Chemie und Biologie mehr auf einem Versuch, die Phänomene der externen Welt festzuschreiben, als auf den Versuch, die Realität zu interpretieren und zu analysieren. Die Natur schien ein grosses Buch zu sein und das Ziel war es, natürliche Äusserungen in verständliche Zeichen zu übertragen.

Alles schien geordnet, rational zu sein; Ausnahmen von dieser Ansicht konnten nicht zugelassen werden, es sei denn, sie würden als Unvollkommenheiten unserer Wahrnehmungsmittel erklärt werden. Zusammengefasst wurde Wissenschaft zu einem Abbild der Welt, deren Gesetze unabhängig von Zeit und Raum immer die gleichen waren – jedoch abhängig von dem jeweiligen separaten Gesetz.

Das natürliche Objekt der ersten Bemühungen dieser Wissenschaft war dem Menschen äusserlich: Diese Wahl ist Ausdruck dafür, dass es einfacher war, die externe sinnliche Welt zu erfassen als die weit konfusere menschliche Welt, deren Gesetze sich den einfachen Gleichungen der Naturwissenschaft entziehen. Wir müssen auch an die Bedürfnisse der aufstrebenden Bourgeoisie denken, die schnell und empirisch Zugriff auf alles ausserhalb ihrer selbst benötigte, um dies für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu benutzen. Schnell, da die Grundlagen ihres sozial-ökonomischen Systems noch nicht so sicher waren. Empirisch, da der Kapitalismus mehr an Ergebnissen und Schlussfolgerungen als an dem Weg, diese zu erreichen, interessiert war.

Die Naturwissenschaften, die sich im Rahmen des bürgerlichen Materialismus entwickelten, beeinflussten das Studium andererBereiche und bewirkten den Aufstieg der Geisteswissenschaften wie Geschichte, Psychologie und Soziologie, die die gleichenMethoden der Erkenntnis anwandten.

Der erste Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, der den menschlichen Geist beschäftigte, war die Religion. Diese wurde zum ersten Mal als historisches und nicht als philosophisches Problem behandelt. Dahinter stand auch die Notwendigkeit einer jungen Bourgeoisie, sich vor religiösen Festschreibungen zu hüten, die die natürliche Rationalität des kapitalistischen Systems in Frage stellten. Dies drückte sich in dem Aufkommen einer ganzen Reihe von bürgerlichen Denkern wie Renan, Strauss, Feuerbach usw. aus. Aber was versucht wurde, war stets eine methodische Zergliederung: Sie kritisierten die ideologische Figur Religion nicht auf ihrer gesellschaftlichen Grundlage, sondern verfolgten das Ziel, ihre menschlichen Grundlagen zu entdecken.

Dadurch reduzierten sie die Untersuchungen auf ein naturwissenschaftliches Niveau, als ginge es darum, historische Dokumente und ihre Veränderung über die Jahrhunderte fotografisch genau nachzuzeichnen. Letztendlich normalisierte der bürgerliche Materialismus den gegenwärtigen Stand der Dinge und schrieb diesen auf ewig und unveränderbar fest. Er behandelte die Natur als unbestimmte Wiederholung rationaler Ursachen. Der bürgerliche Mensch reduzierte die Natur auf das Verlangen nach einer konservativen Unbeweglichkeit. Er spürte, dass er die Natur bis zu einem gewissen Punkt beherrschen würde, doch er begriff nicht, dass die Instrumente seiner Beherrschung dabei waren, sich vom Menschen zu befreien und sich gegen diesen zu wenden.

Bürgerlicher Materialismus war ein Fortschritt in der Entwicklung des menschlichen Wissens. Er wurde konservativ – was so weit ging, dass er von der Bourgeoisie selbst abgelehnt wurde –, als das kapitalistische System seinen Höhepunkt erreicht hatte und sein Untergang eingeläutet wurde.

Diese Denkweise begegnet uns auch in Marx' frühen Werken. Doch Harper sah den Weg, der Marx zum revolutionären Materialismus führte, erst durch die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse als Reaktion auf die ersten schweren Widersprüche des kapitalistischen Systems eröffnet.

Harper beharrt darauf, dass der revolutionäre Marxismus nicht einfach das Produkt reiner Vernunft sei. Der bürgerliche Materialismus wuchs in einem bestimmten sozio-ökonomischen Umfeld auf; entsprechend war auch für den revolutionären Materialismus ein bestimmtes sozio-ökonomisches Milieu erforderlich. Marx wurde bewusst, dass die Existenz ein Prozess permanenter Veränderung war. Und wo die Bourgeoisie nur Rationalismus, die Wiederholung von Ursache und Wirkung sah, entdeckte Marx das sich entwickelnde sozio-ökonomische Milieu als neues Element, das in die Sphäre der Erkenntnis integriert werden müsse. Für ihn war das Bewusstsein nicht ein Abbild der äusseren Welt. Sein Materialismus wurde durch all die natürlichen Faktoren angeregt – zuallererst durch den Menschen selbst.

Die Bourgeoisie konnte den menschlichen Anteil an der Erkenntnis vernachlässigen, da zu Beginn ihr System mit einer präzisen Regelmässigkeit - wie die Gesetze der Astronomie - zu funktionieren schienen. Ihr Wirtschaftssystem hatte keinen Platz für den Menschen.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich die Nachlässigkeit des Systems gegenüber dem Menschen in den gesellschaftlichen Beziehungen langsam bemerkbar: Revolutionäres Bewusstsein begann zu reifen und mit diesem wurde deutlich, dass die Erkenntnis nicht ein Spiegel der äusseren Welt war, wie der bürgerliche Materialismus behauptete: Die menschliche Erkenntnis ist nicht nur ein empfangender, sondern auch ein aktiver und verändernder Faktor.

Für Marx war demnach die Erkenntnis sowohl das Produkt der Empfindung der äusseren Welt als auch das der Ideen und Handlungen des Menschen, der Mensch war also selbst ein Faktor und Motor der Erkenntnis.

Die Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung war damit geboren; diese eliminierte die alten Geisteswissenschaften und war Ausdruck eines deutlichen Fortschritts. Auch die Naturwissenschaften durchbrachen ihre engen Grenzen. Die bürgerliche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts kollabierte aufgrund ihrer eigenen Blindheit.

Dieses falsche Verständnis der Rolle der menschlichen Handlung für die Erkenntnis gibt Lenins philosophischer Arbeit einen ideologischen Charakter. Wie bereits angedeutet, untersucht Harper Lenins philosophische Quellen und misst diesen einen entscheidenden Einfluss auf Lenins politische Tätigkeit zu.

Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Lenin kam aus einem rückschrittlichen Gesellschaftsmilieu. Hier herrschte noch der Feudalismus, die Bourgeoisie war schwach und liess jede revolutionäre Energie missen. In Russland entwickelte sich der Kapitalismus zu einer Zeit, als die reife Bourgeoisie des Westens bereits in ihren Niedergang trat. Russland wurde ein kapitalistisches Land, ohne dass die eigene nationale Bourgeoisie gegen den feudalen Absolutismus des Zaren aufbegehrte. Diese Leistung fiel dem ausländischen Kapital zu, das die gesamte kapitalistische Struktur in Russland dominierte.

Da der bürgerliche Materialismus durch die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Widersprüche immer unbedeutender wurde, musste die russische Intelligentsia in ihrem Kampf gegen den Absolutismus ihr Heil im revolutionären Materialismus suchen. Für diesen revolutionären Materialismus galt der Kampf dem Feudalismus, nicht dem Kapitalismus, der keine wirkungsvolle Kraft darstellte. Lenin war Teil dieser Intelligentsia – deren Grundlage die revolutionäre Klasse des Proletariats war –, deren Aufgabe die verspätete kapitalistische Umwandlung des feudalen Russlands war.

So interpretiert Harper die Fakten.

Harper sieht die russische Revolution als Ausdruck der objektiven Reife der Arbeiterklasse, jedoch hat diese für ihn einen bürgerlichen politischen Inhalt. Nach Harper wird dieser bürgerliche politische Inhalt von Lenin ausgedrückt. Lenins Bewusstsein sei geprägt von den unmittelbaren Aufgaben Russlands, ein Land, das mit seiner sozio-ökonomischen Struktur wie eine Kolonie ohne nationale Bourgeoisie erschien. Die einzig entscheidenden Kräfte seien die Arbeiterklasse und der Absolutismus.

Das Proletariat könne sich also nur unter diesen rückständigen Bedingungen ausdrücken, daher sei Lenins materialistische Ideologie bürgerlich. So sagt Harper über Lenin und die russische Revolution:

„Diese materialistische Philosophie war gerade die richtige Lehre für die Masse der neuen russischen Intelligenz, die voll Begeisterung in Naturwissenschaft und Technik die Basis einer von ihnen geleiteten Produktion erkannte – mit den noch religiösen Bauern als einzigen Widerstand – und die als neue herrschende Klasse eines Riesenreichs die Zukunft vor sich offen sah.“ (Pannekoek, Lenin als Philosoph, in: Pannekoek, Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, S. 362)

Harpers Methode in „Lenin als Philosoph” gehört, wie auch seine Darstellung des Problems der Erkenntnis, zu den besten Arbeiten des Marxismus. Jedoch führen seine politischen Schlussfolgerungen zu solchen Konfusionen, dass er uns zwingt, seine politischen Schlussfolgerungen, die uns fehlerhaft erscheinen und unter dem Niveau der übrigen Arbeit liegen, deutlich von der Formulierung des Problem zu trennen.

Harper schreibt:

“Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht…“ (ebenda, S. 311).

Dies führt ihn nach seiner Feststellung, dass Lenins Philosophie in „Materialismus und Empiriokritizismus“ in ihren Grundzügen bürgerlicher Materialismus sei, dazu, dass die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917 :

„ … eine bürgerliche Revolution, die auf dem Proletariat fusst.“

Hier verfängt sich Harper in seiner eigenen Dialektik und versäumt es, eine wichtige Frage zu beantworten: Wie kann es zu einer Zeit, in der der Kapitalismus in die tiefste Krise seiner Geschichte stürzt, eine bürgerliche Revolution geben? Die dazu noch ihre eigene Ideologie – entsprechend der revolutionären Periode der Bourgeoisie eine materialistische - produziert? Die Krise von 1914 – 20 scheint Harper überhaupt nicht zu berühren.

Noch einmal, wie konnte diese Revolution bürgerlich sein, und dies zumal in dieser Situation? Vorangetrieben von den fortschrittlichsten und bewusstesten Arbeitern und Soldaten Russlands, solidarisch begrüsst von den Arbeitern und Soldaten der ganzen Welt, insbesondere in jenem Land, in dem der Kapitalismus am meisten fortgeschritten war, d.h. Deutschland? Wie konnte es sein, dass genau in diesem Moment die Marxisten, die gründlichsten Dialektiker, die besten Theoretiker des Sozialismus, die materialistische Geschichtsauffassung wie Lenin selbst – wenn nicht gar besser – verteidigten? Wie konnte es sein, dass ausgerechnet Leute wie Plechanow und Kautsky sich auf der Seite der Bourgeoisie gegen die revolutionären Arbeiter und Soldaten der gesamten Welt und insbesondere gegen Lenin und die Bolschewiki wiederfanden?

Harper stellte sich nicht einmal diese Fragen, wie sollte er also Antworten finden? Umso überraschender ist es, dass er diese Fragen nicht stellt.

Weiterhin fällt auf, dass Harpers grundsätzlich richtige philosophische Studie einige Behauptungen enthält, die Erstere wiederum in ein anderes Licht stellt. Nach Harper gibt es unter den marxistischen Theoretikern zum Problem der Erkenntnis zwei fundamental entgegengesetzte Tendenzen. Diese Trennung, die er bereits im Leben und Werk von Marx selbst sieht, ist etwas vereinfachend und schematisch. Harper sieht in Marx' Werk zwei Perioden:

1. Vor 1848 Marx, der fortschrittliche bürgerliche Materialist: „Religion ist das Opium des Volkes“, eine Aussage, die später von Lenin aufgegriffen wurde; weder Stalin noch die russische Bourgeoisie haben es für notwendig gehalten, die Parole von den Denkmälern der offiziellen Parteipropaganda zu verbannen.

2. Dann Marx, der revolutionäre Materialist und Dialektiker: der Angriff auf Feuerbach, das Kommunistische Manifest usw., „das Sein bestimmt das Bewusstsein“.

Für Harper ist es kein Zufall, dass Lenins Werk („Materialismus und Empiriokritizismus“) im Grunde genommen ein Beispiel für die erste Periode des Marxismus darstellt. Ausgehend von der Vorstellung, dass Lenins Ideologie durch die historische Bewegung, an der er teilnahm, bestimmt ist, behauptet Harper, dass sich der grundlegende Charakter dieser Bewegung als eine Variation des bürgerlichen Materialismus in Lenins Ideologie ausdrückt (Harper berücksichtigt hier allein „Materialismus und Empiriokritizismus“).

Dies führt Harper zu der Schlussfolgerung, dass “Materialismus und Empiriokritizismus” nun die Bibel der russischen Intellektuellen, Techniker usw. – der Repräsentanten der neuen staatskapitalistischen Klasse – sei. Aus seiner Sicht sind die russische Revolution im Allgemeinen und die Bolschewiki im Besonderen die Vorwegnahme einer allgemeineren revolutionären Entwicklung: die Evolution des Kapitalismus zum Staatskapitalismus, die revolutionäre Mutation der liberalen Bourgeoisie zu einer bürokratischen Staats-Bourgeoisie, von der der Stalinismus der vollkommenste Ausdruck sei.

Harpers Vorstellung ist, dass diese Klasse, die überall „Materialismus und Empiriokritizismus“ als ihre Bibel ansieht (Stalin und seine Freunde verteidigen weiterhin das Buch), das Proletariat als Basis für ihre staatskapitalistische Revolution benutzt. Deshalb ist die neue Klasse auf die marxistische Theorie angewiesen.

Daher ist es Ziel dieser Ausführungen, nachzuweisen, dass diese erste Ausformung des Marxismus über Lenin direkt zu Stalin führt. Ähnliches haben wir bereits von bestimmten Anarchisten gehört, wobei diese dies gleich auf den gesamten Marxismus beziehen. Stalin ist danach das logische Ergebnis des Marxismus – nach anarchistischer „Logik“ ist es das tatsächlich!

Dieser Ansatz versucht ebenfalls zu zeigen, dass eine neue – sich auf das Proletariat stützende - revolutionäre Klasse genau in dem Moment auf der Bühne der Geschichte erscheint, wo der Kapitalismus selbst, aufgrund der Hyperentwicklung der Produktivkräfte innerhalb einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der menschlichen Arbeit (Mehrwertabpressung) basiert, in seine permanente Krise eingetreten ist.

Diese zwei Ideen, die Harper in „Lenin als Philosoph“ vor dem Krieg von 1939 – 45 entwickelt, wurden bereits von Anderen mit unterschiedlichstem sozialem und politischem Hintergrund vorgetragen. Die erste Vorstellung wird von den meisten Anarchisten vertreten, die zweite von vielen reaktionären bürgerlichen Schreiberlingen, wie James Burnham.

Es ist nicht überraschend, dass Anarchisten solch mechanistische und schematische Konzepte vorbringen, die behaupten, dass der Marxismus die Quelle des Stalinismus und der staatskapitalistischen Ideologie oder der neuen herrschenden Management-/Bürokraten-Klasse sei. Sie sind das Problem der Philosophie nie in der Form angegangen, wie Revolutionäre es getan haben: Für sie stammen Marx und Lenin von Auguste Comte ab und alle marxistischen Strömungen werden ausnahmslos mit der „bolschewistisch-stalinistischen Ideologie“ in einen Topf geworfen. Zwischenzeitlich orientiert sich die anarchistische Version des philosophischen Denkens an der letzten Mode des Idealismus, von Nietzsche zum Existenzialismus, von Tolstoi zu Sartre.

Harpers These ist, dass Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ als philosophische Untersuchung des Problems der Erkenntnis nicht weiter geht als die Interpretationsmethoden, die typisch für den mechanistischen, bürgerlichen Materialismus sind. Doch von hier zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass weder die Bolschewiki noch der Bolschewismus oder die russische Revolution über das Stadium der bürgerlichen Revolution hinaus kommen konnten, lässt Harper in derselben Position wie die Anarchisten oder Vertreter der Bourgeoisie, wie Burnham, enden. Darüber hinaus widerspricht diese Schlussfolgerung einer anderen korrekten Aussage von Harper:

„Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht. Nur solange diese glauben konnte, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung, mit ihrem Privateigentum, ihrer persönlichen Freiheit und ihrem freien Wettbewerb, durch die Entwicklung der Produktion unter dem endlosen Fortschritt der Wissenschaft und der Technik die praktischen Probleme des Lebens für jeden lösen würde, nur solange konnte sie glauben, dass mittels der Naturwissenschaft die theoretischen Probleme gelöst wurden, und brauchte sie keine übernatürlichen geistigen Mächte mehr. Als die Tatsache, dass der Kapitalismus die Frage der Existenz für die Massen nicht lösen konnte, hervortrat in dem emporkommenden Klassenkampf des Proletariats, verschwand die zuversichtliche materialistische Betrachtung der Welt. Die Welt erschien nun voll der Unsicherheit und der unlösbaren Widersprüche, voll unheimlich drohender Mächte.“ (ebenda, S. 311)

Wir werden im weiteren Verlauf dieses Problem vertiefen, hier sehen wir uns – in der Hoffnung, nicht in eine sterile Polemik hineingezogen zu werden – jedoch veranlasst, auf diesen unlösbaren Widerspruch, in den Harper sich selbst bringt, hinzuweisen - auf der einen Seite ein solch komplexes Problem so simpel anzugehen und auf der anderen Seite unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen, die er über Bolschewismus und Stalinismus zieht.

Noch einmal fragen wir: Wie erklärt man die Tatsache, dass genau zu dem Zeitpunkt, als der Klassenkampf beispiellose Höhen erklomm, innerhalb der Bourgeoisie eine materialistische Strömung geboren wurde, die eine neue bürgerlich-kapitalistische Klasse hervorbrachte - wenn wir gleichzeitig Harpers These folgen, dass die Bourgeoisie idealistisch wurde, als der proletarische Klassenkampf auf der Bühne erschien? Harper erkennt in Lenins Philosophie den Aufstieg einer bürgerlichen materialistischen Strömung genau zu dem Zeitpunkt, als die Bourgeoisie eigentlich vollständig idealistisch sein sollte. Und falls, nach Harper, Lenin „gezwungen war, materialistisch zu sein, um die Arbeitern hinter sich zu sammeln“, müssen wir folgende Frage stellen: Nahmen die Arbeiter die Ideologie Lenins an, oder passte sich Lenin den Bedürfnissen des Klassenkampfes an? Harper präsentiert uns diesen erstaunlichen Widerspruch: Entweder folgte das Proletariat einer bürgerlichen Strömung, oder eine Bewegung der Arbeiterklasse scheidet eine bürgerliche Ideologie aus.

In beiden Fällen würde das Proletariat nicht mit einem eigenen Blick auf die Welt auf der Bühne erscheinen. Es ist eine merkwürdige Version des marxistischen Materialismus, die uns zu solchen Schlussfolgerungen verleiten kann: Das Proletariat lässt sich auf unabhängige Aktionen ein, aber produziert dabei eine bürgerliche Ideologie. Das ist exakt das Ergebnis von Harpers These.

Des Weiteren ist es nicht ganz richtig zu behaupten, dass die Bourgeoisie in einer bestimmten Phase rein materialistisch und in einer anderen rein idealistisch war. In der bürgerlichen Revolution von 1789 ersetzte der Kult der Vernunft in Frankreich den Gotteskult. Dies ist typisch für den dualen Charakter der Konzepte– materialistisch und idealistisch zugleich -, die die gegen Feudalismus, Religion und die Macht der Kirche kämpfende Bourgeoisie benötigte (ein Kampf im Übrigen, der sehr heftige Formen annahm, wie die Verfolgung von Priestern und das Niederbrennen von Kirchen zeigt). Wir werden später auf diesen permanenten dualen Aspekt der bürgerlichen Ideologie zurückkommen, der selbst in seinen höchsten Ausschlägen der „Grossen Revolution“ nie über das Stadium von „Religion ist das Opium des Volkes“ hinauskam.

Wir haben jedoch noch längst nicht alle Schlussfolgerungen gezogen, zu denen uns Harpers Arbeit bringt. Dazu müssen wir all jenen einige historische Tatsachen in Erinnerungen zurückrufen, die die Oktoberrevolution dem bürgerlichen Lager zuschreiben wollen. Die erste Untersuchung von Harpers philosophischen Schlussfolgerungen und Theorien hat uns dazu gebracht, bestimmte Fragen, die wir später entwickeln werden, zu reflektieren. Darüber hinaus gibt es andere Fakten, die Harper wohl nicht übergehen wollte. Seitenlang spricht er über bürgerliche Philosophie und Lenins Philosophie und kommt zu Schlussfolgerungen, die, gelinde gesagt, gewagt sind und die eine ernsthafte und tiefere Untersuchung verlangen. Welcher marxistische Materialist kann eine Person, eine politische Gruppe oder Partei in dieser Weise anklagen, wie Harper Lenin und die bolschewistische Partei dafür anklagt, dass sie eine bürgerliche Strömung und Ideologie - „… auf dem Proletariat basierend“ (Harper) - repräsentieren würden, ohne zuerst die historische Bewegung, der sie angehörten, zu untersuchen?

Es war die Bewegung der internationalen und russischen Sozialdemokratie, die die bolschewistische Fraktion und alle anderen links-sozialistischen Fraktionen hervorgebracht hat. Wie wurde diese Fraktion gebildet? Welche ideologischen Kämpfe hatte diese zu führen, um sich als separate Gruppe, dann als Partei, schliesslich als Avantgarde einer internationalen Bewegung herauszuschälen?

Der Kampf gegen den Menschewismus, Lenins Iskra und „Was tun?“, die Revolution von 1905 und die Rolle Trotzkis; Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die ihm dazu brachte, zwischen dem Februar und dem Oktober 1917 mit den Bolschewiki zu fusionieren; der revolutionäre Prozess zwischen Februar und Oktober; die rechten Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre; Lenins Aprilthesen; die Konstitution der Sowjets und der Arbeitermacht; Lenins Position zum imperialistischen Krieg - Harper verliert hierzu nicht ein Wort. Dies ist keineswegs zufällig.



Mousso und Phillipe / iks