Eine US-Wahlnachlese aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht „You are fired“

Politik

7. Dezember 2020

Viele von uns haben in „Staatsbürgerkunde“ oder „Gemeinschaftskunde“ erörtert, wie bedenklich niedrig die Wahlbeteiligung in den USA sei, Zeichen einer entpolitisierten Konsumgesellschaft oder Gefahr für die Demokratie, die durch Desinteresse ins Koma fallen könnte.

Biden-Harris Feiern auf der Black Lives Matter Plaza in Washington, 7. November 2020.
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Biden-Harris Feiern auf der Black Lives Matter Plaza in Washington, 7. November 2020. Foto: Elvert Barnes (CC BY-SA 2.0 cropped)

7. Dezember 2020
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2020 haben sich mehr WählerInnen als je bei den Republikanern wie Demokraten registrieren lassen, Trump hatte mehr Stimmen auf sich vereinigt als irgend ein republikanischer Präsidentschaftskandidat vor ihm, über 70 Millionen, also noch zehn Millionen mehr als vor vier Jahren; Biden kommt auf etwa 78 Millionen WählerInnen, zwölf Millionen Stimmen mehr als Hillary Clinton 2016.

Nach dem derzeitigen Stand haben WechselwählerInnen nur eine geringe Bedeutung gehabt; in den Vorstädten und Orten des „Rust Belt“ gab es heftig umkämpfte Regionen, aber grosse Teile der USA sind „alternativlos“ festgelegt, eindeutig in der Hand einer Partei. Beide „Lager“ konnten aber massiv WählerInnen neu mobilisieren, ein Beleg für die Polarisierung. Anders als in europäischen Ländern zersetzten sich die „alten“ Parteien nicht, sondern WählerInnen legen sich generell auf ein „Lager“ fest, auch als Ergebnis des Wahlsystems.

Diese Spaltungen – vereinfacht gesagt ist es häufig eine Stadt-Land-Spaltung und eine der niedergehenden und aufsteigenden Industrien – haben zur Folge, dass Trump in 2600 der 3141 Counties (Landkreise) siegt, und das in 1500 Landkreisen mit mehr als 40% Vorsprung gegen Biden; in den 550 dichtbesiedelten, städtischen Landkreisen, die Biden gewann, hatte er in mehr als 100 Counties einen 40%-Vorsprung (Zahlen nach: Andreas Ross: Wie konnten sie nur? FAZ, 14.11.2020).

Die US-Gesellschaft ist tief gespalten, die unter Trump systematisch beschädigten Institutionen werden entwertet, an der Auszählung der Stimmen und der Legitimität der Wahlen wird von seinen Anhänger-Innen gezweifelt, die Familie Trump bastelt eine Dolchstosslegende von angeblichen Wahlfälschungen.

Es wäre jedoch ein Fehler und eine Überschätzung der Rolle einzelner Personen, wenn das Klima der Gewalt, der polarisierenden Demagogie und der systematischen Entwertung von ergebnisoffenen Diskussionen auf Trump allein zurückgeführt würde. Er bietet sich für solche Darstellungen an, er erzeugt immer neu Erschrecken (und Faszination) durch seine dreisten Lügen und zugespitzten Gemeinheiten, lädt zur Identifikation mit dem Aggressor ein und zu einer „Angstlust“ aggressiver Verachtung.

Aber die Strukturprobleme der amerikanischen Demokratie haben die Marke „Trump“ gross werden lassen, nicht Trump hat Armut, Rassismus, Kriminalisierung der schwarzen Bevölkerung, aggressive Aussenpolitik und die Wiederkehr der Folter, wenn sie nur der guten, amerikanischen Sache dient, hervorgebracht. Daran zu erinnern, heisst auch, keine Illusionen in die „Hoffnungsträger“ der Demokratischen Partei oder „gemässigte“ RepublikanerInnen zu nähren.

Die Krise der Repräsentation, die Selbstzerstörung demokratischer Institutionen hat eine Vorgeschichte, die viel weiter zurückreicht. Es wird keineswegs alles gut, wenn nur der Dämon Trump verschwindet. Nicht alles, was Trump schadet oder gegen ihn gerichtet ist, ist deshalb schon emanzipatorisch. In der eskalierenden Polarisierung und zunehmenden Gewalt-Rhetorik zerstören sich auch die Kräfte zunehmend selbst, die angetreten waren, Vielfalt, Mehrdeutigkeiten und freiheitliche Diskussionen zu fördern.

In der Anti-Trump-Bewegung an den Unis, in der New York Times oder CNN, von kleineren „linken“ Organen ganz zu schweigen, verstärkt sich, was man einen „illiberalen Liberalismus“ genannt hat, ein Wille zu Homogenität, Eindeutigkeit, komplettem Sieg. Abweichungen, Differenzen, Ambivalenzen sind nicht gern gesehen, gar die Kritik an den „eigenen Leuten“. Das kann in Hollywood oder Standorten des urbanen Liberalismus zu Ausgrenzungen und Entlassungen führen. Sind die Geschäfte von Bidens Sohn wirklich über jeden Zweifel erhaben? Die (Drohnen-)kriegerische Aussenpolitik der Demokraten?

Die Kriminalisierung schwarzer Bevölkerungen in den Grossstädten?

Kurz: Zwei Parteien, finanziert und gestützt von verschiedenen Eliten (Biden war der Kandidat der Banken, des Silicon Valley und der Unterhaltungsindustrie, Trump der Kandidat der Ölkon-zerne und der Glücksspielindustrie), in manchen Positionen gar nicht so verschieden wie die Show-Inszenierungen vermuten lassen, überlagern den Unterschied von „oben“ und „unten“, von Reichen und Armen, Ausbeutern und Ausgebeuteten mit Symbolen von Identitätspolitik, „kulturellen“ Unterschieden. Die armen Weissen waren schon lange „only a pawn in their game“, ob aber die schwarze, antirassistische Wut nicht doch schliesslich ein Klassenbündnis braucht, damit die Unterdrückung endet?

Aus Positionen, die für sich in Anspruch nehmen, „keine Toleranz für die Feinde der Toleranz“ zuzulassen, „keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“, drohen – so sympathisch uns ihre Anliegen sein mögen – auch militarisierte, autoritäre, unduldsame Antworten. Wenn Google, Facebook und Twitter bestimmte Botschaften löschen oder mit Warnhinweisen versehen, weil sie dem Wahrheitstest nicht standhalten, oder wenn sie den Algorithmus darüber entscheiden lassen, was „relevant“ ist, ist das nicht unbedingt ein Sieg über „Fake News“, sondern eine Ausweitung der Machtstellung solcher Medien.

Es ist das alte Thema: Sich die Mittel und Perspektiven von Gegnern vorschreiben zu lassen, kann die grösste Niederlage und gerade deren Triumph werden. Vertrauensverlust der „Mainstream-Medien“ macht die Hass- und Verschwörungsportale stark. Trump hatte versucht, Kapital aus der Gewalt bei „Black Lives Matter“-Demonstrationen zu schlagen, eine Polarisierung voranzutreiben, die ihm weitere Fans zutreiben würde. Wie so oft: How violence protects the state!

Die Über-Gang

Wahlen galten Jahrzehnte lang fast weltweit und in vielen Bürgerkriegssituationen als die Alternative zum Bürgerkrieg, Bürgerkriege wurden durch Vereinbarungen eines kontrollierten und nicht selten durch internationale BeobachterInnen abgesicherten Verfahrens befriedet, zumindest signalisierten solche Prozesse, dass die kämpfenden Parteien versuchten, sich von den Verstrickungen in Gewalt zu lösen. Plötzlich gelten Wahlen nicht mehr als die friedliche Alternative, sondern als mögliche Vorstufe zum Bürgerkrieg: Trumps Sohn rief gegen die behaupteten Fälschungen gar zum „totalen Krieg“ auf.

Auch wenn das in diesem Fall „nicht so heiss gegessen wie gekocht“ wird, hatten auch viele BeobachterInnen schon vor den Wahlen befürchtet, die Aufrüstung in verschiedenen Bewegungen und Gruppen, der Aufmarsch von Milizen, die um sich greifenden Verschwörungserzählungen könnten auf eine unkontrollierbare Situation hinauslaufen, eine Eigendynamik entwickeln, die zumindest einzelne terroristische Akte wahrscheinlich machen würden – so wie ja seit Monaten das Gewaltniveau zunahm.

Offenbar setzen Trump und seine Anwälte ihre Hoffnung auf eine Konstellation, bei der der 12. Zusatzartikel zur Verfassung Anwendung findet. Wenn es im Wahlmännerkollegium keine absolute Mehrheit gibt, wählt das Repräsentantenhaus, und zwar nach Staaten:

„Die neuen Regeln traten für die Präsidentschaftswahlen von 
1804 in Kraft und haben alle nachfolgenden Präsidentschafts-wahlen geregelt. Der Zusatzartikel veranlasst Trumps Rechtsanwälte, eine gerichtliche Entscheidung zu suchen und den Prozess der Wahl durch das Wahlmännergremium zu verschleppen, denn wenn es nach dem üblichen Verfahren ginge, hätte Trump die Wahl endgültig verloren. Sollte aber dank der juristischen Verzögerung im Januar 2021 noch keine Entscheidung feststehen, würde die Wahl vom Repräsentantenhaus durchgeführt, in dem zwar die Demokraten die absolute Mehrheit der Stimmen haben, die Republikaner aber die Mehrheit der Staaten repräsentieren – und damit gemäss dem 12. Amendment nach der Regel „ein Staat, eine Stimme“ den Präsidenten wählen. Dies ist keine absurde Episode von House of Cards, sondern eine Regel der Verfassung“, erläutert Norbert Finzsch. (1)

Trumps konservative Revolution

Mit welchem Knall Trump abtreten würde, wenn er denn abtreten würde, haben sich viele gefragt. In seinem Skript kommt es nicht vor, „loser“ zu sein; allenfalls ein um den Sieg betrogener Gewinner ist für ihn überhaupt vorstellbar. Seine Macht war über die Jahre immer angewachsen, in seinem Selbstverständnis war er von Sieg zu Sieg geeilt, seine war die grösste und bedeutendste Amtseinführung „ever“ gewesen, zum Schluss hatte er sogar Corona „besiegt“!

Er hatte „gefeuert“ aus allen Rohren, die Geschichte seiner Präsidentschaft liesse sich als eine des genussvollen „Feuerns“ beschreiben; schliesslich war er dafür schon in seiner Reality-Show The Apprentice bekannt, die Castingshows von Klum oder Bohlen hatte er weit hinter sich gelassen, er hatte die „Verlierer“ erniedrigt, hemmungsloser noch als Pocher mit Gemeinheiten und Obszönitäten überschüttet, selbst schamlos hatte er sie vier Jahre alle beschämt. „Ist das geil“?! Aber sicher.

Früher haben sich die schlechten Lehrer die Zustimmung der Klasse erworben, indem sie einen Sündenbock oder eine Aussenseiterin erniedrigt haben, die Klasse johlte dann zuverlässig und jede/r war froh, dass es ihn/sie nicht getroffen hat. Oder die stärkeren SchülerInnen terrorisierten die schwächeren auf dem Schulweg, die Muster sind so neu nicht, bloss digitalisiert. Und so wie er schon einen Endpunkt liberaler Öffentlichkeit bildet, hat Trump diesen Punkt immer noch weiter verschoben: Beleidigungen, Schadenfreude, Herablassung – was hatte das doch für einen Unterhaltungswert! Das bringt Einschaltquoten, offensichtlich auch eine Polarisierung, die sich in Stimmen niederschlägt (die BRD-Parteien könnten in Versuchung geführt werden, denn die staatliche Parteienfinanzierung würde sie belohnen, wenn sie so etwas erreichten).

Die Zuspitzung durch „soziale Medien“, vor allem aber die Talk Radios, Fernsehanstalten wie Fox News oder Verkaufskanäle wie „Gun TV“ leben von der Eskalation – und das nicht schlecht: „Ein selbstdeklarierter ‚Meinungsjournalist' wie der Fox- und Radiomoderator Sean Hannity verdient 38 Millionen Dollar im Jahr damit, den Leuten auf dem Lande einzureden, die Eliten in New York würden Tag und Nacht nichts anderes tun, als über ‚rednecks', Angehörige der weissen Unterschicht, die Nase zu rümpfen“ (Jan-Werner Müller in der FAZ, 10.11.2020). Trump ist Antreiber und Getriebener dieser Skandal-Kultur. Dabei hat er für seine Klientel „geliefert“; zumindest hat er nicht die sonst von Politikern erwartete Kompromissbereitschaft und Mässigung gezeigt. Er scheute nicht vor Eskalationen zurück, sein Programm wurde nicht zurückgenommen.

Wirklich durchsetzen konnte er allerdings vor allem das, was auch früher schon Programm der Republikaner war: Steuersenkungen, Besetzung der Richterstellen mit Konservativen, Abbau von Umweltschutzbestimmungen und Regulierungen. Er war für viele Liberale der Horror-Clown, aber er verweigerte die Maske und gab sich immer „authentisch“, twitterte seine Stimmungen und Erfindungen in die Welt. Er bediente das Interesse von Arbeitergruppen an Arbeitsplätzen, die ohne Hochschulabschluss erreichbar sind: Dafür attackierte er Firmen, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern und forderte deren Rückkehr. Vor der Corona-Krise war die Arbeitslosenquote auch für Schwarze und Latinos niedrig, 2019 gab es deutliche Erhöhungen des Einkommens auch einfacher ArbeiterInnen. Wenn solche ökonomischen Erfolge erzielt werden, ist auch Fracking populär, Umweltschutz gilt vielerorts als Gedöns von Leuten, die sich so etwas leisten können.

Über 60% der Weissen ohne Hochschulabschluss haben Trump gewählt, wenn man Meinungsumfragen glauben kann. Ohne die Folgen von Corona hätte Trump jede Chance auf eine zweite Amtszeit gehabt. Seine Erfolge beruhen aber nicht nur auf rein materiellen Interessen, sondern auch auf der Beschwörung von Lebensweisen, Wertvorstellungen und Gefühlslagen, die so gar nicht die Trumps sind und von ihm ununterbrochen konterkariert werden. Wenn aber das idealisierte Film-Amerika durch Modernisierungsprozesse und soziale Bewegungen entwertet wird, scharen sich die Verteidiger um die Fahne der Republikaner. Verteidiger, die ohne Zweifel auch (aber vielleicht nicht nur!) rassistische, sexistische und nationalistische Traditionen bewahren wollen. Andererseits sollte man nicht verschweigen, dass im „liberalen“ Milieu die Vorurteile von Menschen mit Uniabschluss gegen die „Ungebildeten“ stärker sind als solche, die sich auf Hautfarbe oder Geschlecht beziehen.

Was für die WählerInnen von Trump und die der Demokraten „normal“ ist, fällt weit auseinander; sie verorten „Unterdrückung“ und Unfreiheit zunehmend gegensätzlich. Es ist absehbar, dass ein Scheitern von Trumps ökonomischen Versprechen nur die Verschwörungsmythen stark machen würde: Die UNO hat das Land besetzt! Klimawandel, Corona, Unterdrückung von People of Color, … alles Erfindungen, um das Land der Freien und Tapferen zu vernichten, Antirassismus soll die USA für den Bevölkerungsaustausch freischiessen, damit die Weissen in die Minderheit geraten, der Feminismus die Männer entwaffnen, damit die letzten Verteidigungslinien kapitulieren… Vor allem sind diese Verschwörungserzählungen ein ertragsstarkes Geschäftsfeld. Sie bewegen Menschen so sehr, dass sie auf die Strassen gehen, Geld geben, sich organisieren, sich bewaffnen.

Aber: Strategisch ist es ein grosses Problem, wenn die Ambivalenzen bestimmter Lebensweisen nicht gesehen werden und nicht respektiert wird, dass die Diskriminierung bestimmter Werte, Emotionen, Lebensweisen auch ein Problem ist. Ist „Heimat“ wirklich schon eine Chiffre für Faschismus? Es scheint mir gefährlich, so zu denken. Die „feinen Unterschiede“, die gegenüber der weniger gebildeten oder ländlichen Bevölkerung herausgekehrt werden, dienen sozialer Distinktion, aber nicht emanzipatorischen Prozessen. Die rassistische Polizei in den Städten dürfte überwiegend unter demokratischer Stadtverwaltung stehen.

Es ist auch nicht die weisse republikanische Unterschicht auf dem Land und in Kleinstädten, die für die schlechten Ausbildungs- und Berufschancen Schwarzer, für deren Unterwerfung unter ein Kriminalitäts-Regime (das Biden als Senator vorangetrieben hatte) oder für deren Unterrepräsentation in den „liberalen“ und „diversen“ Konzernen verantwortlich waren. Und als die Kinder aus asiatischen Familien bessere Schulleistungen zeigten als die der weissen Mittelschicht, zogen die Weissen aus den Mittelklasse-Vierteln aus, um die Kinder gegen die Konkurrenz zu schützen, und plötzlich wurden Disziplin, Leistung und andere typische Mittelschicht-Werte mit seelischer Grausamkeit und übertriebenem Ehrgeiz einer freudlosen Kindheit assoziiert.

Grand Old Party?

Erstaunlich ist, dass die Republikaner so geschlossen bleiben: Trump hatte viele Konkurrenten verhöhnt – aber es gibt bisher keine Stunde der Abrechnung. Offensichtlich sehen auch die Unterlegenen ihre Zukunft eher mit als gegen Trump; hier beeindrucken auch die neu gewonnenen WählerInnen. Viele dürften Angst haben, von Trumps Massenbasis als „Verräter“ behandelt zu werden, mit „Shitstorm“ fängt das dann erst an. Die „Trump-Demokratie“ hat in einem bestimmten Sinn sehr bedrohliche Züge. Die Demokraten aber zerlegen sich bereits; es ist nicht etwa ihr Problem (wie viele „Linke“ glauben), sondern ihre Hoffnung, dass sie ihre weit auseinander driftenden Perspektiven hinter republikanischen Mehrheiten im Senat und den 200 RichterInnen, die Trump ernannt hat, verstecken können.

Es droht eine Spaltung der Gesellschaft in eine Öko-Digital-Technokratie, die mit Solarstrom ihre grandiosen Anlagen betreibt, während eine verarmte Bevölkerung mit Notstromdieselgeneratoren Energie erzeugt – bis das kriminalisiert wird. Ein ökologisches Problem ist ja jetzt schon der Lebensstil einer sich moralisch erhaben fühlenden Oberschicht, nicht der Armen.

Für viele BeobachterInnen war immer neu ein Rätsel: Wieso wählen Menschen ihn, die ihn sogar unsympathisch finden, sein Leben, seine Werte vielleicht gar abscheulich? Das typische Exempel für diese Fragestellung sind die evangelikalen Christen, vielleicht die entscheidende Machtbasis Trumps (wie etwa auch Bolsonaros). Darunter gibt es Menschen, die glauben, Trump sei von Gott gesandt (und nicht etwa, was für mich noch eine gewisse Plausibilität beanspruchen könnte, als Strafe!); zumindest sehen sie in ihm ein Bollwerk gegen „Genderideologie“ und Homosexualität. Nun ist Trump religiös „unmusikalischer“ als Biden, aber Trumps fundamentalistisch-evangelikale AnhängerInnen stört das ebenso wenig wie seine sozialdarwinistische Haltung in der Corona-Krise. Offenbar genügt es ihnen, dass Trump ihre Agenda gegen Abtreibung bedient. Sie sind in vielen anderen Fragen manchmal seiner Meinung, manchmal gar nicht. Aber diese Frage ist – durch eine lange gesellschaftliche Polarisierung, die dazu geführt hat, dass dieses Thema über Zugehörigkeiten, „Identität“ scheidet – eine wahl-entscheidende.

Es sind oft Gefühle des Bedrohtseins und Zukunftsängste, die den „starken Mann“ Trump wählbar machen. Die Zeit zitiert eine Trump-Unterstützerin aus einem Vorort, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Söhne macht: „Als christliche weisse Männer haben sie in unserer Welt doch eine Zielscheibe auf dem Rücken“ (Zeit, 42/2020, 8.10.2020). Die Vororte waren lange rein-weiss: Schwarze bekamen keine Kredite, und in einigen Suburbs verpflichteten sich Hausbesitzer, nicht an Schwarze zu verkaufen, falls sie auszögen. Randale begrüsste die ersten Schwarzen, die es auf Umwegen in einen Vorort geschafft hatten.

Für andere sind entscheidend das „Recht auf Waffenbesitz“, die Steuersenkungen, Schutzzölle für amerikanische Industrien, die Arbeitsplätze, die gefürchtete Konkurrenz von EinwandererInnen fernzuhalten, … Das alles bündelt Trump zu einem Bild von „Amerika“ wie es war und sein soll. Dann muss nur die Alternative der DemokratInnen noch „unamerikanisch“ genug aussehen. Selbst in der Corona-Krise, die ihn Stimmen gekostet hat, weil sie zu Arbeitslosigkeit führte und Schutzversprechen dementierte, liess Trump durchblicken, Masken etwa seien „unamerikanisch“. Die „amerikanische“ Lösung ist die schnelle technische Innovation: Impfstoff! Da er selbst – im Gegenteil zu seinen Followern, deren Lebenserwartung sinkt – sich bester medizinischer Betreuung sicher sein kann, konnte er schnell den Siegertypen geben.

Das Super-Ego ohne Über-Ich?

Trump hat auch bei erstaunlich vielen Schwarzen und Latinos Stimmen gewonnen: Die Drohung mit Zuständen wie in Venezuela oder Nicaragua, die Trump im Fall eines Biden-Sieges beschwor, hat bei etlichen MigrantInnen aus Mittelamerika eine Wirkung gehabt. Aber es wirkt auch das Motiv: Man ist angekommen, hat es geschafft, identifiziert sich mit den USA, hat die Staatsbürgerschaft erhalten – soll man das durch neu ankommende MigrantInnen mit schlechtem Ruf gefährden lassen? Auch die Möglichkeit, Arbeitsplätze zu übernehmen, für die keine grossen Qualifikationen erforderlich sind, mag manchmal eine Rolle gespielt haben.

Zentral für seine Botschaften ist auch, dass einfache, hart arbeitende Menschen von den Eliten verachtet und an den Rand gedrückt werden. Dabei ist Trump Teil dieser „Eliten“, auch wenn er sich als Rebell in Szene setzt, den Fakten nicht interessieren, der undiplomatisch ist, offen heraus redet, gegen das „Establishment“ pöbelt.

Der Niedergang des Liberalismus ist der Niedergang der Print-Medien. „Fakten“, Wahrheitssuche, Argumente – das war einmal. Kaum noch jemand liest eine Tageszeitung; die als „seriös“ gepriesenen Leitorgane stehen unter Generalverdacht. Sie gelten als Propaganda eines „Establishments“ (was sie oft tatsächlich sind! Wir haben solche Medien ja selbst lange genug kritisiert). Aus traditionsreichen Zeitungsverlagen sind Multimedia-Konzerne, Think-Tanks, heftig politisierende Agenten geworden, oft ähnlich intolerant wie die immer noch verachteten Boulevard-Blätter. Die New York Times hat den Chef ihrer Debatten-Seite entlassen, weil dieser den Text eines konservativen Senators verantwortet hatte.

Es ist aber keine gegenkulturelle Presse, die bürgerliche Zeitungen entmachtet hätte, sondern es sind extrem kommerzielle Fernsehsender, Nachrichtenportale, die nur selbst produzierte „Fakten“ verbreiten und eine – zunächst von Hippies und AnarchistInnen begeistert gefeierte – Internet-Kultur extremster Subjektivität. Was als offenes, diverses, partizipatives „Tool“ herbeiphantasiert wurde, mit dem sogar die Ausgeschlossenen eine Stimme haben würden, hat sich zu einer Monopol- und Kontroll-Industrie entwickelt, die Kommerz, Manipulation und Hass-Sprache kultiviert.

Was immer schon totalitäre Sprachen kennzeichnete, „Wahrheit ist Lüge, Freiheit ist Sklaverei“, hat hier unerreichte Höhepunkte erreicht und lebt sogar noch davon, dass jede abweichende Ansicht als „Fake News“ gebrandmarkt wird. Ein Argumentieren ist bei Twitter nicht vorgesehen, Erörterungen komplizierter Sachverhalte sind geradezu unerwünscht und deshalb schon technisch ausgeschlossen. Eine Figur wie Trump, der die Klaviatur dieser Medien spielt, gleichzeitig noch „die Medien“ beschimpft und sich als Anti-Establishment-Kämpfer kostümiert, ist hier zu Hause. Sein Heimspiel zwischen Alleinunterhalter und einsamem Kämpfer gegen eine Welt von Feinden und Verrätern treibt ihm „Follower“ zu.

Kann es in den USA Sozialismus geben?

Was dürfen wir von einer Regierung der Demokraten erwarten? Vielleicht, dass die Dynamik sozialer Bewegungen gegen das Recht, Waffen zu tragen und „Selbstverteidigung“ für ein jederzeit gutes Recht zu halten, stärker wird. Sicher: Bessere Ausgangsbedingungen für antirassistische und feministische Bewegungen. Vielleicht schon das mehr Rhetorik als Praxis? Hoffentlich: Bemühungen, die Klimakatastrophe noch aufzuhalten. Hier liegen aber viele Fallstricke der Silicon-Valley-Kultur, die durchaus Tendenzen zu einer Erhöhung des CO2-Ausstosses kennt (vgl. GWR 451). Es droht eine Spaltung der Gesellschaft in eine Öko-Digital-Technokratie, die mit Solarstrom ihre grandiosen Anlagen betreibt, während eine verarmte Bevölkerung mit Notstromdieselgeneratoren Energie erzeugt – bis das kriminalisiert wird. Ein ökologisches Problem ist ja jetzt schon der Lebensstil einer sich moralisch erhaben fühlenden Oberschicht, nicht der Armen.

Absehbar sind einige Massnahmen, die nicht gering geschätzt werden sollen: Studierende müssen sich weniger verschulden, um ihr Studium zu finanzieren; Obamas Reformen der Krankenversicherung werden verbessert, so dass weniger Menschen ohne Krankenversicherung sind oder sich den Eigenanteil der Gesundheitskosten nicht leisten können; Verbraucherschutz und Umweltschutz werden gestärkt; Illegale werden legalisiert.

Aber die demokratische Regierung wird – besonders, da sie keine bedeutenden Mehrheiten im Kongress hat, von den Mehrheitsverhältnissen im Senat und bei den Gerichten zu schweigen – eine ziemliche Kontinuität zu Trumps „America first“-Politik zeigen, auch zu Obamas Drohnenkrieg, die Verbindungen zu den Konzernen des Silicon Valley sind ebenso eng wie die zur Wallstreet und den Rüstungskonzernen. Vor allem: Der Backlash ist immer schon vorhersehbar: Wenn mir jemand meine Waffen abnehmen will – ist das der Verteidigungsfall. So droht „Notwehr“ auch gegen eine gemässigte Sozialpolitik, diese gilt nicht wenigen US-AmerikanerInnen als „unamerikanisch“ und „sozialistisch“. Und die sich „SozialistInnen“ nennen, verstehen unter „Sozialismus“ ungefähr das, was Bismarck vor 130 Jahren durchgesetzt hat, und das tat er, um dem Sozialismus gerade vorzubeugen.

Johann Bauer / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 454, Dezember 2020, www.graswurzel.net

Fussnoten:

(1) https://geschichtedergegenwart.ch/corrupt-bargain-die-us-praesidentschaftswahlen-1824-und-2020/