Ein Sieg der Demokratie über die Demagogie Der Tag danach

Politik

21. Januar 2021

Nur wenige Male in den letzten Jahren meines Lebens habe ich so lange vor dem Fernseher gesessen wie an diesem 20. Januar des Jahres 2021: es waren genau 12 Stunden.

Amtseinführung von Joe Biden in Washington, 20. Januar 2021.
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Amtseinführung von Joe Biden in Washington, 20. Januar 2021. Foto: The Old Guard (PD)

21. Januar 2021
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In diesen Stunden wanderte ich ziemlich aufgeregt immer wieder durch die Programme diverser TV-Sender, um bei diesem traditionsreichen amerikanischen Spektakel aus der Ferne dabei sein zu können und um mir von den Sendern vor allem bestätigen zu lassen, dass ich die Inauguration des 46. US-Präsidenten nicht geträumt habe, sondern dass sie tatsächlich stattgefunden hat, also absolute weltpolitische Wirklichkeit geworden ist und somit auch keinen mich quälenden Albtraum in mir auszulösen brauchte.

Also waren meine anfänglichen nicht gerade kleinen Befürchtungen, der böse Geist des 45. Präsidenten könnte sich vielleicht als mehrköpfiger Rachegott in jedem Winkel des von hirnlosen Trump-Anhängern am 6. Januar 2021 geschändeten Capitols versteckt haben und nur darauf warten, noch einmal so recht nach Law and Order losschlagen und sich nochmals an die Macht putschen zu können.

25.000 bis an die Zähne bewaffnete Soldaten vor und hinter hohen Gitter-Absperrungen verhinderten also einen erneuten Angriff von manipulierten rechten Chaoten auf den heiligen Polittempel und auf die durch Trump ins Rutschen gekommene und in allergrösste Lebensgefahr geratene „ältestes Demokratie der Welt“.

Das geduldige Ausharren vor dem Fernseher lohnte sich, denn was ich da im Verlauf von zwölf Stunden alles sehen und hören, bestaunen und bewundern, politisch und emotional verstehen und auch freudig begrüssen konnte, das hat mich fasziniert.

Bei der Inszenierung dieser Amtseinführung hat mich zum Beispiel die ausserordentliche Bescheidenheit des gesamten Zeremoniells beeindruckt, also der totale Verzicht auf „grosse Oper“ und auf jeden Glitzer-Firlefanz à la Hollywood, wobei die mit Inbrust gesprochenen Gebete zum Heil und Segen Amerikas und seines neuen Präsidenten und seiner Vize-Präsidentin mich ebenso tief berührten wie die feierliche Vereidigung des Gespanns Biden & Harris, und vor allem die grossartige Rede des nunmehr „mächtigsten Mannes auf dem Planeten Erde“.

Ich empfand diese als nicht zu lange und auch nicht zu kurze Rede als einen Schwur, ja, ich habe diese wohlgesetzte und über ein Dutzend wichtiger Themen beinhaltende Rede als das Versprechen eines glaubwürdigen Politikers wahrgenommen, der kraft seines hohen Amtes alles tun wird, um alle Amerikaner und überhaupt alle zerstrittenen Menschen auf der Welt wieder miteinander zu versöhnen.

Ich deutete diese Rede zugleich auch als eine weit über die Grenzen Amerikas und über die Grenzen aller vorhandenen ideologischen, religiösen und Gesellschaftssysteme hinaus getragene Botschaft und als einen leidenschaftlichen Appell an die Vernunft aller denkenden Menschen, sich mehr auf Demut, auf Toleranz, auf Respekt, auf Würde und Liebe, auf Ehre und Anstand, auf soziale Verantwortung auch gegenüber unserer so arg gebeutelten Erde zu besinnen, anstatt sich mit dem Bösen zu verbünden, sich also von Hass und Hetze, von Gewalt, von Terror und Krieg vergiften zu lassen.

Joe Biden hat mit seiner gestrigen Rede der Demokratie in seinem Land zum ersten Punktsieg über die Demagogie von gestern verhelfen können. Der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat allerdings noch sehr viel tun, um den wie giftige Pilze nachwachsenden Demagogen von morgen endgültig den K.O.-Schlag versetzen zu können: „Denn der Schoss ist fruchtbar noch“ (Brecht). Kurz: Als ich gegen Morgengrauen todmüde ins Bett fiel, wagte ich es, mich für einen der glücklichsten Menschen auf Erden zu halten, fühlte ich mich doch plötzlich befreit von einem bösen Geist.

Axel Michael Sallowsky