Die «Philosophin» Ayn Rand lesen! Die USA und Israel verstehen?

Politik

26. Juli 2018

Ayn Rand, in Europa fast unbekannt, in den USA jahrelang der politische Bestseller und essenziell für die heutige Politik der USA.

Eine junge Frau in der S-Bahn von Boston mit einem Buch von Ayn Rand.
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Eine junge Frau in der S-Bahn von Boston mit einem Buch von Ayn Rand. Foto: Seth Tisue (CC BY-SA 2.0 cropped)

26. Juli 2018
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Sie zählt in den USA zu den einflussreichsten politischen Autoren des 20. Jahrhunderts: Ayn Rand. Ihre Schriften haben eine Gesamtauflage von 25 Millionen erreicht. Auch alle heute massgeblichen Politiker und Politikerinnen standen und stehen unter ihrem Einfluss. Ihr Credo: Ethisch handelt, wer ausschliesslich seine eigenen Interessen vertritt. Etwas für andere tun ist verlogen, amoralisch und unethisch. Die USA sind in ihren Augen das edelste Land der Menschheitsgeschichte, weil sie das Selbstinteresse zum einzig richtigen moralischen Prinzip gemacht haben.

Ayn Rand wörtlich: «Sehen Sie sich die Ergebnisse einer Gesellschaft an, die auf dem Prinzip des Individualismus aufgebaut ist. Dieses, unser Land (die USA. Red.). Das edelste Land der Menschheitsgeschichte. Das Land der grössten Leistung, des grössten Wohlstands, der grössten Freiheit. Das Land, das nicht gegründet ist auf selbstlosem Dienst, auf Opfer, auf Verzicht oder irgendeine Vorschrift des Altruismus. Es wurde gegründet auf dem Menschenrecht auf das Streben nach Glück. Seinem eigenen Glück. Nicht das Glück eines anderen. Ein privates, persönliches, eigennütziges Motiv. Sehen Sie sich die Ergebnisse an.»

Und an anderer Stelle, Ayn Rand wörtlich: «Zum Ruhme der Menschheit gab es zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte ein Land des Geldes – und ich kann mir keine höhere, ehrwürdigere Auszeichnung für Amerika vorstellen, denn es bedeutet: ein Land der Vernunft, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Produktion und der Leistung. [ ] Wenn ich die stolzeste Eigenschaft der Amerikaner nennen sollte, würde ich – weil darin alle anderen enthalten sind – die Tatsache wählen, dass sie das Volk waren, das den Ausdruck ‹Geld machen› geprägt hat. In keiner anderen Sprache oder Nation wurden diese Worte jemals zuvor verwendet; die Menschen hatten Reichtum stets als statische Grösse betrachtet – etwas, das erobert, erbettelt, geerbt, geteilt, geplündert oder als Gefälligkeit erlangt wurde. Die Amerikaner haben als erste verstanden, dass Reichtum geschaffen werden muss. Die Worte ‹Geld machen› enthalten den Kern der menschlichen Moral.» Die USA, das ersehnte Land! «Ayn Rands Eltern waren russische Juden; ihr Vater stammte aus Brest-Litowsk, ihre Mutter aus St. Petersburg. Mit neun Jahren beschloss sie, Schriftstellerin zu werden. Im Jahr 1917 erlebte sie sowohl die Februarrevolution als auch die Oktoberrevolution mit. Die Besitztümer ihrer Familie (ihr Vater war Apotheker) wurden enteignet. In der Folge verarmte die Familie, die bald darauf in die Ukraine und kurze Zeit später auf die Krim zog, wo die Sechzehnjährige 1921 ihren Schulabschluss machte. Im selben Jahr ging die Familie zurück nach Petrograd, wo Rand an der Petrograder Staatlichen Universität Philosophie und Geschichte studierte. 1924 ging sie nach erfolgreichem Abschluss des Studiums an das Staatliche Institut der Filmkünste, um das Drehbuchschreiben zu erlernen.

Gegen Ende 1925 erhielt sie ein Ausreisevisum für einen befristeten Besuch ihrer Verwandten in den USA. Am 17. Januar 1926 verliess sie ihre Geburtsstadt und kehrte nie mehr zurück.» Diese kurzen biografischen Angaben, zitiert nach Wikipedia, mögen genügen, um zu sehen, wo der Ursprung ihrer Verherrlichung des Egoismus liegen könnte.

Ayn Rand verstand sich selbst als Philosophin, nicht etwa nur als Schriftstellerin. Von den philosophischen Fakultäten an den Universitäten wurde sie aber nicht ernst genommen, nicht als ‹Philosophin› anerkannt, eine eingehende akademische Auseinandersetzung mit ihrem Werk gab es deshalb nicht. Leider, muss man heute sagen, denn ihr Einfluss auf das Denken in den USA war und ist noch immer ausserordentlich stark. In den USA kam ihre Botschaft sehr gut an, der von ihr verherrlichte Egoismus legitimierte die Mentalität der Einwanderer, die sich vom neuen Land genommen hatten, was sie wollten. In Europa dagegen blieb sie weitestgehend unbekannt. In ihren Schriften hat sie für Europa denn auch kaum ein gutes Wort übrig. Für sie war Europa – Europa, nicht etwa nur das damals kommunistische Russland! – eine verlorene Region, weil viel zu sehr dem Altruismus und dem Kollektivismus erlegen.

Ayn Rands Denken ist das, was heute «libertär» genannt wird. Ein Beispiel: Wenn eine Stadt aufgrund einer demokratischen Abstimmung eine öffentliche Parkanlage baut, dann ist das jenen gegenüber, die dagegen gestimmt haben, in dieser Stadt aber Steuern zahlen müssen, ein Akt der Enteignung. Der Staat und die Gemeinde haben nach Ayn Rands libertärer Auffassung absolut kein Recht, zum Wohle der Gemeinschaft Geld auszugeben.

Ayn Rands Einfluss heute stärker als der von Marx

Am 14. November 2017 schrieb die israelische Zeitung Haaretz: «Die (israelische) Justizministerin Ayelet Shaked, ohne Zweifel die grösste Reformerin in Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Regierung, sagte 2015 der ‹New York Times›, ihre Neigung, das Gesicht der Gesellschaft zu verändern, basiere teilweise auf den Thesen der Autorin Ayn Rand. ‹Es ist Tatsache, dass du manchmal anders denkst als andere›, so sagte sie der Zeitung, ‹und trotzdem musst du auf deiner Meinung beharren, auch wenn du dabei angegriffen wirst›. Shaked ist nicht die einzige Person, die von Rand beeinflusst wurde. Die extrem libertäre Philosophie der russisch-amerikanischen Autorin hat gegenwärtig einen deutlich grösseren Einfluss auf die Welt als die diskreditierte Theorie von Marx. Rands Bücher sind unter dem Strich die Lektüre von Donald Trump und etlichen Mitgliedern seines Kabinetts und haben auch auf Netanjahu einen tiefen Eindruck gemacht.»

Ayn Rand muss gelesen werden!

Ayn Rand zu lesen, macht keinen Spass. Im Gegenteil. Es erstaunt, um nicht zu sagen, erschreckt einen – zumindest einen Europäer – zu lesen, was ein menschliches Wesen, eine Frau, imstande ist zu schreiben – und damit einen Riesenerfolg zu haben: Ethisch ist, wer nur seine eigenen Interessen vertritt. Wer die Interessen anderer vertritt, handelt unethisch. Nur Egoismus schafft Freiheit und Gerechtigkeit. Die USA sind das edelste Land der Menschheitsgeschichte, weil sie das Eigeninteresse zum einzig richtigen moralischen Prinzip erhoben haben. Usw. usw.

Und doch muss Ayn Rand zur Kenntnis genommen werden. Als Warnung. Ihre Botschaft wirkt nach, ist präsent, ist eine der Wurzeln des US-amerikanischen Denkens und Fühlens: Nur der Egoist ist ehrlich, nur das Eigeninteresse zählt, nur der Selfmademan, der, mit welchen Methoden auch immer, zum Milliardär geworden ist, ist ein wahrer Held. – Wir müssen, gerade auch in Europa, zur Kenntnis nehmen, was da noch auf uns zukommen kann. Der überhandnehmende Neoliberalismus ist nur der Vorbote. Und Donald Trumps bisherige Finanz-Entscheide zugunsten der Reichen und Superreichen bestätigen den Trend.

Ayn Rand hat Fach- und Sachbücher geschrieben für die gebildete, interessierte Oberschicht. Und einen Roman – «Der Streik» – für die Masse. 25 Millionen US-Amerikaner haben in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren mindestens eines ihrer Bücher gekauft – und ihre Botschaft durch die eigene Lektüre verinnerlicht. Nicht zuletzt die US-Politiker, die heute in den USA an den Hebeln der Macht sind. Und auch die Politiker, die heute in Israel das Sagen haben – wie Netanjahu, der seine Studienjahre in den USA verbrachte.

Christian Müller / Infosperber