Das Lager, das vollständig vom Militär umstellt ist, liegt nahe der viertgrössten Stadt des Libanon, Sidon, und ist nur rund 1,5 km² gross, obwohl hier mittlerweile über 100.000 Menschen leben. Es besteht aus zwei Hauptverkehrswegen, der oberen und der unteren Strasse, die parallel zueinander verlaufen und durch zahllose kleine, enge, verschachtelte Gassen verbunden sind. Nur auf Einladung aus dem Camp kommt man durch die Militärsperren, als Ausländer alleine das Lager zu betreten, so machten uns viele Freunde klar, sei nicht empfehlenswert. Ja, Ain el-Hilweh kann gefährlich sein.
Fast jeder Mann im wehrfähigen Alter trägt Kalaschnikow oder Revolver, regelmässig gibt es Meldungen von Konflikten und Scharmützeln zwischen säkularen palästinensischen Gruppen wie der PLO oder der PFLP mit radikal-islamistischen Kräften. Dennoch: Das von den libanesischen Medien gezeichnete Bild von Ain el-Hilweh als Hort des Terrorismus und der Kriminalität ist falsch. In dem Lager leben zum weitaus überwiegenden Teil „normale“ Menschen, die versuchen, ihren von ökonomischer und politischer Diskriminierung geprägten Alltag zu bewältigen.
Empowerment unter schwierigen Bedingungen
Einer der Besuche, den wir in dem Camp machen, führt uns zu Nashet, einer Jugendorganisation, die von Medico International unterstützt wird, und ihre Arbeit vorwiegend palästinensischen Mädchen zwischen 6 und 16 Jahren widmet. In ihren kleinen Räumlichkeiten an der oberen Hauptstrasse gleich gegenüber vom Büro der Fatah betreut die Organisation über 60 junge Mädchen.Theaterkurse, Folklore, arabische Poesie, Sprachen, Computerskills – das Programm ist vielfältig. Im „girls club“ wählen die Teilnehmerinnen ihr eigenes Parlament, samt Ministerinnen und Sprecherinnen. Eine Sozialarbeiterin und eine Psychologin stehen bereit, wenn es um Probleme wie sexuellen missbrauch, Gewalterfahrungen oder frühe/erzwungene Hochzeiten geht.
„Es geht um Empowerment“, erklärt uns Sara, eine der Betreuerinnen des girls club. „Die Mädchen lernen oft nicht, ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren, haben Probleme, sich auszudrücken und sind sehr schüchtern.“ Nashet will ihnen die Möglichkeit geben, ihre eigenen Stärken kennenzulernen und für ihre Interessen und Rechte einzutreten. Das klappt, soviel können wir schon nach einem Tag mit den Mädchen aus dem grils club mit Sicherheit sagen.
Und das, obwohl die äusseren Bedingungen denkbar schwierig sind. Denn einerseits gibt es im Lager selbst als Resultat langer Kämpfe mit Israel und im libanesischen Bürgerkrieg eine militarisierte Atmosphäre, in der Frauen kaum vorgesehen sind. Die Kämpfer, die wir treffen, sind männlich, die Vertreter der Politik ebenso, die Märtyrer auf den Bildern auch.
Diskriminierung in allen Lebensbereichen
Dazu kommt, dass die libanesische Regierung, trotz aller Lippenbekenntnisse zu Palästina, offenbar nicht willens ist, den hunderttausenden PalästinenserInnen im Land wenigstens die basalsten Rechte zu gewähren. PalästinenserInnen können zum Beispiel in 72 Berufen im Libanon nicht arbeiten, es ist ihnen schlichtweg verboten. Meistens kommen sie, auch bei weitaus besserer Qualifaktion, in Dumpinglohnjobs unter, die Arbeitslosigkeit unter PalästinenserInnen ist höher als im Landesschnitt. PalästinenserInnen werden häufiger an Checkpoints kontrolliert oder verhaftet, ihre Gesundheitsversorgung und Bildungsmöglichkeiten sind eingeschränkt, sie dürfen im Libanon kein Eigentum erwerben. 66 Prozent von ihnen leben unter der Armutsgrenze, aber „nur“ etwa 30 Prozent der LibanesInnen.Die Mädchen aus dem Girls Club wissen sehr gut über die Diskriminierung bescheid, der sie ausgesetzt sind. Als wir sie fragen, was sie einmal werden wollen, lautet die Antwort fast bei allen gleich: Ich habe einen Berufswunsch, aber ich weiss, ich darf das, was ich werden will, im Libanon nicht werden. Weil ich Palästinenserin bin.