Die Realität des Amerikanischen Polizeistaates Ferguson: Gewalt wurde von der Polizei provoziert

Politik

25. August 2014

Joseph Sulier nahm vergangene Woche an den Protesten nach dem Mord an Michael Brown in Ferguson, Missouri teil. „Mike Brown darf nicht vergessen werden“, sagt er und spricht über seine Erlebnisse und Gedanken über die Ereignisse der letzten beiden Wochen im „Amerikanischen Polizeistaat“.

Einsatz der SWAT während den Riots in Ferguson, August 2014.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Einsatz der SWAT während den Riots in Ferguson, August 2014. Foto: Loavesofbread (CC BY-SA 4.0 cropped)

25. August 2014
2
0
8 min.
Drucken
Korrektur
LCM: Weshalb bist du nach Ferguson gefahren?

Joseph: Ich lebe im südlichen Teil von St. Louis City. Ferguson ist etwa eine 15minütige Autofahrt von meiner Wohnung entfernt, liegt also quasi in meinem Hinterhof. Ich möchte zunächst klarstellen, dass ich nicht in allen Protestnächsten in Ferguson war, ich möchte nicht den falschen Eindruck erwecken, dass meine Meinung richtiger und besser wäre als die jener Menschen, die ihre persönliche Sicherheit jede Nacht in diesem Kampf aufs Spiel setzten, vor diesen Leuten muss man für ihr Engagement den Hut ziehen, vor allem vor den Menschen in Ferguson, die keine Möglichkeit hatten sich einfach zurückzuziehen. Ich selbst war mehrere Male vor Ort, und wenn ich nicht da war, habe ich in jeder Protestnacht mehrere Live-Video- und Twitter-Kanäle verfolgt – so viel wie menschenmöglich war, sodass ich das Gefühl habe, eine recht umfassende Perspektive auf die Ereignisse zu haben. Was mich motiviert hat selbst hinzufahren ist, dass wir alle, weiss oder schwarz, aus St. Louis oder woher auch immer, gegenüber den Menschen in Ferguson und gegenüber der schwarzen Community insgesamt die Verantwortung haben, diese Bewegung und die Community zu unterstützen und gegen systematische Polizeibrutalität und Rassismus aufzustehen.

LCM: Wann bist du in Ferguson angekommen und wie waren deine ersten Eindrücke?

Joseph: Ich habe zum ersten Mal am Donnerstag, nachdem Captain Johnson von der Highway Patrol als Einsatzleiter eingesetzt wurde, an den Protesten teilgenommen. Dies war die einzige Nacht, in der keine Gewalt gegen DemonstrantInnen gerichtet wurde. Mein unmittelbarer Eindruck war ausschliesslich positiv. Innerhalb von zehn Minuten, nachdem ich bei der QuickTrip-Tankstelle angekommen war [diese wurde in den ersten Tagen der Proteste niedergebrannt und wurde dann zu einem Sammelpunkt für Kundgebungen; Anm. LCM], kam eine afroamerikanische Frau auf mich zu und fragte mich: „Entschuldigen Sie, Sir, sind Sie weiss?“. Ich antwortete lachend: „Lady, ich bin so weiss wie nur möglich.“ Sie erwiderte: „Danke, dass Sie hier sind, wir wissen das zu schätzen“, und stellte mir ihre Freundin und ihre zwei Töchter vor. Ich nehme an, sie wollte sensibel bezüglich meinem ethnischen Background sein, was ich toll fand. Die Atmosphäre war friedlich und beinahe frohlockend, eine sehr vielfältig Menge an Menschen in Autos und zu Fuss füllte die Strassen. Polizei war kaum zu sehen, was meines Erachtens darauf hinweist, dass jegliche Gewalt tatsächlich von Polizeieinsätzen provoziert und angefacht wurde.

LCM: Was passierte in den folgenden Nächten?

Joseph: In jeder anderen der folgenden Nächte gab es klare Provokationen, Einschüchterungen und Aufwiegelungen der DemonstrantInnen durch Polizei. Sie sprechen immer noch davon, dass Molotowcocktails und Steine geflogen und sogar auf sie geschossen worden wäre. Ich habe bis jetzt nicht einen Molotowcocktail oder ähnliches gesehen. Das einzige, was ich gesehen habe, waren Wasserflaschen aus Plastik, die in Richtung Polizei geworfen wurden, und das ist ganz offensichtlich keine Bedrohung für eine Armada schwer bewaffneter und gerüsteter Polizeieinheiten. Hingegen habe ich unzählige Journalisten gesehen, die angegriffen und festgenommen wurden, nur weil sie die Ereignisse dokumentiert haben. Ich habe DemonstrantInnen gesehen, die von Gummigeschossen getroffen wurden, Lärm- und Blendgranaten und Knüppel, durch die sie sich nicht provozieren liessen. Ich habe automatische Waffen gesehen, die direkt auf friedliche DemonstrantInnen und JournalistInnen, die niemanden bedrohten, gerichtet waren; zudem gab es verbale Gewaltandrohungen und Beschimpfungen. Ich habe bisher keine DemonstrantInnen gesehen, die die Polizei attackiert haben – abgesehen von den bereits erwähnten Wasserflaschen.

LCM: Es gab viele Berichte darüber, dass JournalistInnen von der Polizei an der Arbeit gehindert wurden. Kannst du darüber etwas mehr sagen?

Joseph: Es war eine der erschreckenderen Entwicklungen der letzten Tage, dass in jeder Nacht zu irgendeinem Zeitpunkt sämtliche Medien ausgesperrt wurden. Dies ist, wie wir alle wissen, eine Verletzung des ersten Zusatzartikels der US-Verfassung und somit illegal. Zu Beginn der Proteste gab es kaum Restriktionen für die Medien, später gab es dann Situationen, wo wir nicht wissen, was passiert ist nachdem die JournalistInnen vom Ort des Geschehens entfernt wurden. Einige Dinge wissen wir aber trotzdem. Beispielsweise dass die Polizei mindestens einmal Razzien in ganzen Wohnvierteln durchgeführt hat, von Tür zu Tür ging und Waffen der Bewohner konfisziert hat. Ausserdem beschossen sie Wohnviertel, die zwar in der Nähe der Proteste, aber nicht direkt in diese involviert waren, mit Tränengas. Die Polizei hat zudem vor einigen Tagen die St. Mark's Missionary Church durchsucht, wo Verpflegung und Ausrüstung für DemonstrantInnen gesammelt und verteilt wurde. Anscheinend wurde dabei ausschliesslich Maalox konfisziert, das gegen die Auswirkungen von Tränengas verwendet wird.

LCM: Wer ist überhaupt in Ferguson auf die Strasse gegangen? Welche Gruppen oder Organisationen spielten eine Rolle bei den Protesten?

Joseph: Das ist ziemlich schwer zu sagen, weil es eine so vielfältige Menge war. Es wird von der Polizei und bestimmten „zivilgesellschaftlichen Persönlichkeiten“ wie Alderman Antonio French ständig von „Agitatoren von ausserhalb“ gesprochen, die für die Gewalt verantwortlich seien. Ich weiss nicht einmal was das sein soll. Es wurde auch mit dem Finger auf „weisse Anarchisten“ gezeigt, die Gewalt provoziert hätten. Auch in diesem Fall muss ich sagen, dass ich viele AnarchistInnen gesehen habe, aber keine, die in irgend Ferguson Tuesdayeiner Form „agitiert“ oder Gewalt ausgeübt hätten. Die TeilnehmerInnen an den Protesten bilden eine sehr einige Gruppe, die alle dasselbe Ziel vereint, nämlich den empörenden Rassismus und die Brutalität der Polizei öffentlich zu machen, die alltägliche Realität in diesem Land sind. Seitens der Polizei wiederum scheint es Versuche zu geben, Zwiespalt und Misstrauen unter den DemonstrantInnen zu säen und diese zu vereinnahmen. Das ist ihnen zumindest teilweise leider auch gelungen.

LCM: Viele Mainstream-Medien haben mal wieder vor allem über Plünderungen berichtet. Wie denkst du darüber?

Joseph: Es hat Plünderungen gegeben, aber ich glaube, das kann man ein paar Teenagern zuschreiben, die sich wie Idioten aufführen und nicht wirklich darüber nachdenken. Wie wir alle wissen sind Teenager zu ziemlich unsinnigen und auch furchtbaren Dingen in der Lage, einfach weil sie Teenager sind und es nicht besser wissen oder wissen wollen. Wenn ich für alle Dinge, die ich als Teenager gemacht habe, zur Verantwortung gezogen würde, würde ich nicht besonders gut dastehen! Weit mehr Menschen aus der Community als es Protesters gesture as they stand in a street in defiance of a midnight curfew in FergusonPlünderer gab haben sich hingestellt und verschiedene Örtlichkeiten vor Plünderungen beschützt, denn die Polizei hat sich hier immer wieder zurückgezogen und diesen Dingen freien Lauf gelassen. Nebenbei bemerkt haben lokale, von AfroamerikanerInnen betriebene Geschäfte davon profitiert, dass einige grosse Ketten aufgrund von Plünderungen nicht zur Verfügung standen. Über diesen Zusammenhang haben die Medien nicht berichtet. Während der Proteste gab es viele Gespräche darüber, die Gegend um West Florissant [dem Zentrum der Proteste; Anm. LCM] mit ausschliesslich von AfroamerikanerInnen aus der Gegend betriebenen Geschäfte neu zu gestalten.

LCM: Wie wurde die Ermordung von Kajieme Powell von den Menschen auf der Strasse aufgenommen? In europäischen Medien wurde über diesen Vorfall kaum berichtet.

Joseph: Das passierte ebenfalls [wie die Ermordung von Michael Brown; Anm. LCM] am helllichten Tag, nur dass dieses Mal viele ZeugInnen vor Ort waren, die das Ganze gefilmt haben. Ich habe mir das Video nicht angesehen, weil ich es persönlich für geschmacklos halte, die Ermordung eines Menschen anzusehen oder das Video zu veröffentlichen. Es gab jedenfalls sofort neue Proteste, und irgendwie ist das Ganze bereits sehr surreal. Es ist schwer zu verstehen, was die Logik hinter all dem ist. Wie weit können sie diese Community – oder das Land insgesamt – noch bedrängen?

LCM: Wie ist deine Antwort auf diese Frage? Und wie sieht deine Bilanz der vergangenen Wochen aus?

Joseph: Das einzige, was man mit Sicherheit sagen kann, ist dass noch ein langer Kampf vor uns liegt und dass Mike Brown nicht vergessen werden darf. Er war ein unbewaffneter Menschen, der auf eine Art und Weise exekutiert wurde, wie es einer weissen Person unter denselben Umständen kaum passieren kann. Die USA ist nicht nur im eigenen Land schwer militarisiert, sondern besetzt auch ständig andere Nationen. Ich haben vor einigen Monaten eine Reise durch Europa gemacht und auch einige Zeit in Deutschland und Österreich verbracht. Ich glaube, ich kann sagen, dass ich die PolizistInnen, die ich in dieser Zeit gesehen habe, an einer Hand abzählen kann. Es war nicht so einfach, wieder in die Realität des Amerikanischen Polizeistaates zurückzukehren.

lcm