Viktor Orban und die neue Rechte Europa: Von der Schockwelle zur Normalität

Politik

20. Februar 2019

Die neue Rechte arbeitet zielstrebig an ihrer Vormacht in westlichen Demokratien. Eine entscheidende Rolle spielt Viktor Orban.

Viktor Orbán, Dezember 2010.
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Viktor Orbán, Dezember 2010. Foto: European People's Party (CC BY-SA 2.0 cropped)

20. Februar 2019
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Es gibt sie manchmal, diese Kippeffekte in der Politik, wo man spürt, dass ein neues Muster sich durchsetzt. Dass eine Wahl oder eine Abstimmung nicht bloss ein spektakuläres Einzelereignis darstellt, sondern Symptom eines grundlegenden Wandels ist. Man merkt es dann, wenn sich solche Ereignisse häufen, der Bruch nicht mehr Bruch ist, sondern Normalität. Das Brexit-Referendum vom Juni 2016 wurde noch als starke Erschütterung registriert, ebenso die Wahl Donald Trumps im November des gleichen Jahres.

Doch im Lichte weiterer Entwicklungen wirken diese beiden Ereignisse nur noch halb so exotisch. «Die Disruption war gestern, wir befinden uns bereits in der nächsten Phase: der Etablierung einer neuen Ordnung», heisst es in einem lesenswerten Essay des österreichischen Magazins Profil. Denn es geht nicht mehr um zwei, drei isolierte Erdbeben, vielmehr sind «die tektonischen Platten der Politik in der gesamten westlichen Welt verschoben worden».

Beschleunigte Entwicklung

Mit welcher Wucht sich die «neue Ordnung» durchsetzt, zeigte sich in den vergangenen Monaten und Jahren deutlich – und die Entwicklung beschleunigt sich. Den jüngsten prominenten Zugang an den Schalthebeln der Macht konnten die Rechtsradikalen und Nationalisten Anfang Jahr mit dem neuen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro verbuchen; er ist offen rassistisch und antidemokratisch. Auch in Spanien brechen die Dämme: Entgegen dem gesamteuropäischen Trend hatten Ultrarechte dort lange Zeit keine Chance; doch mit dem Machtwechsel in Andalusien von Mitte Januar 2019 und dem Regierungsbündnis mit der Rechtspartei Vox hat sich das auch dort geändert.

In Europa sind Rechtsradikale seit einiger Zeit an den Regierungen in Italien und Österreich beteiligt. In Polen und Ungarn arbeiten rechtsnationale Regierungen bereits seit Jahren am Umbau des politischen Systems Richtung Autoritarismus. Fast überall in Europa sind in der jüngsten Vergangenheit ultrarechte Parteien gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen, besonders spektakulär in Deutschland: Dort ist die AfD mittlerweile nicht nur in allen Parlamenten der Bundesländer vertreten, sondern auch im Bundestag.

Ringen um das Seelenheil

Bei dieser «tektonischen Plattenverschiebung» geht es ja nicht um die Neuausrichtung einzelner Politikbereiche und um Reformen. Alle diese Kräfte greifen mehr oder weniger offen die bisher geltenden Grundwerte der europäisch-atlantischen Demokratie an: Freiheit, Gleichheit, Gewaltentrennung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Minderheitenschutz, Meinungs- und Pressefreiheit. Oder, wie es der Schweizer Historiker Thomas Maissen in der NZZ am Sonntag vom 20. Januar 2019 formuliert: «Statt pragmatischen Aushandelns von Lösungen herrscht eine apokalyptische Weltsicht, in der um existenzielle Wahrheitsfragen gerungen werden muss wie einst um das Seelenheil.» Die neue Rechte arbeitet zielgerichtet an einer kulturellen Hegemonie. Dabei gibt es klare ideologische Symmetrien zwischen Rechtsextremen und den Regierungen in Wien, Rom, Budapest, Warschau, Washington und neuerdings auch Brasilia.

Liberale Elite kaum präsent

Dass wir in einer Phase der Konsolidierung des scharf rechten Diskurses leben, zeigt im Übrigen auch ein Blick auf das politische Personal: Leute wie Matteo Salvini, Viktor Orban, Jaroslaw Kaczynski, Marine Le Pen und Heinz-Christian Strache sind seit Jahren konstante Grössen in ihren Ländern und entfalten eine erhebliche Wirkung in Europa. Vergleichbar durchschlagskräftige und kraftvolle Führungsfiguren der liberalen oder gar linken Elite sind kaum vorhanden. Beispielhaft lässt sich das an Orban illustrieren. Der ungarische Regierungschef versteht sich als ideologisches Gegengewicht zu Angela Merkel.

Seit 18 Jahren sind Orbans Fidesz-Partei und Merkels CDU unter dem gleichen Parteidach der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament. Orban ist es gelungen, seinen Einfluss in der EVP auszubauen. Im eigenen Land hat er seine Macht weitgehend abgesichert. Nun hat er Europa im Visier. Und vor allem die Wahlen ins Europäische Parlament vom Mai 2019: «Die Gelegenheit ist gekommen», sagte er kürzlich. «Im kommenden Mai können wir uns nicht nur von der liberalen Demokratie und dem liberalen, undemokratischen System verabschieden, sondern auch von der gesamten Elite von 1968.»

«Alles gesetzeskonform»

Grosse Worte. Aber man sollte sie ernst nehmen. Denn Viktor Orban geht äusserst geschickt und sehr systematisch vor. Das kann man jetzt auch in einem fundierten Beitrag des US-amerikanischen Wochenblattes The New Yorker mit dem Titel «Victor Orban's far-right Vision for Europe». nachlesen. Der Artikel zeigt vor allem, wie überlegt und zielgerichtet Orban seine Macht ausgebaut hat, nachdem er 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident geworden war. Mit Hilfe einiger Freunde hat er fast sämtliche wichtigen Positionen in der Verwaltung mit loyalen Leuten besetzt, die für öffentliche Aufträge und die Verteilung der reichlich fliessenden EU-Beiträge zuständig waren.

So konnte Orban einen Kreis wohlhabender Verbündeter aufbauen, welche nun Banken, Staatsunternehmen, Stiftungen und Medien kontrollieren. Rund 90 Prozent der ungarischen Medien befinden sich heute im Besitz oder unter der Kontrolle von Leuten mit persönlichen Verbindungen zu Orban oder seiner Partei. In den Worten von Thomas Maissen: Autokraten «schaffen sich eine loyale Klientel, die abhängig ist von ihnen persönlich und vom Staat, den sie kontrollieren.»

2011 führten Orban und das von Fidesz kontrollierte Parlament eine völlig neue Verfassung ein und krempelten danach das ganze Rechtssystem und den gesamten Justizapparat um. Orban und seine Leute gehen volkkommen legalistisch vor: «Sie tun alles gesetzeskonform, es wird nie eine illegale Handlung geben», sagt Kim Lane Scheppele gemäss The New Yorker. Sie ist Professorin für Soziologie und internationale Beziehungen sowie Expertin für autoritäre Regime und ungarische Politik. «Die einzelnen Gesetze sehen für sich genommen nicht schlecht aus», sagt sie. Erst wenn man alles einer Gesamtschau unterzieht, entdeckt man das Muster dahinter. Deshalb sei die EU auch nicht in der Lage, damit umzugehen, sie betrachte immer nur ein Thema nach dem andern, «doch Orban denkt sehr systematisch».

Demokratie als Fassade

Scheppele zeigt auch, wie Orbans Fidesz-Partei Wahlgesetze schuf, die zu einer Verzerrung des Verhältniswahlrechts führten: «2014 erhielt die Partei weniger Stimmen als in den Jahren 2002 und 2006, als sie die Wahlen verloren hatte, aber am Ende hatte sie trotzdem die absolute Mehrheit im Parlament.» Laut Scheppele beruht das Regime von Orban auf einem «Verfassungscoup». «Es ist absolut genial», sagt sie. Und der deutsche Politikwissenschaftler und Populismus-Experte Jan-Werner Müller, Professor an der Universität Princeton, schreibt: «Natürlich werden in Ungarn weiterhin Wahlen stattfinden, Orbans Gegner dürfen in Budapest auch weiterhin demonstrieren, kritische Stimmen werden irgendwo in den Medien eine Nische finden. Doch ein wirklicher Machtwechsel wird immer unwahrscheinlicher.»

Oder, wie Thomas Maissen es formuliert: «Demokratie verkommt zur plebiszitären Bestätigung der fest etablierten illiberalen Herrschaft.» In der Sendung Sternstunde Philosophie von Fernsehen SRF erklärte Jan-Werner Müller im August 2018, Populisten seien nicht primär gegen Eliten und für mehr Volksbeteiligung, «sondern als selbsternannte Vertreter des ‹wahren Volks› vor allem gegen Vielfalt. Und damit auch gegen Demokratie.»

Viktor Orban wird bei der Europawahl eine entscheidende Rolle spielen. Er ist für die Bewegungen der rechten bis extrem rechten Strömungen in ganz Europa eine stete Quelle der Inspiration.

Jürg Müller-Muralt / Infosperber