Desintegrationserscheinungen Spanien: Referendum in Katalonien

Politik

20. September 2017

Die katalanische Regionalregierung hat für den 1. Oktober ein Referendum über die Unabhängigkeit, d.h. die Abspaltung von Spanien angesetzt.

Protesttag in Barcelona für katalanische Autonomie, 2010.
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Protesttag in Barcelona für katalanische Autonomie, 2010. Foto: Alex Muntada (CC BY-SA 2.0 cropped)

20. September 2017
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Während das seinerzeitige schottische Referendum mit Zustimmung der britischen Regierung durchgeführt wurde, geschieht das katalanische ohne die Erlaubnis der Zentralregierung in Madrid und verstösst damit gegen die gültige spanische Verfassung von 1978.

Die rechtliche und ökonomische Situation

Spanien wollte nach Francos Tod einen Neustart in Sachen Territorialverwaltung und Nationalitäten machen. Das Modell des „Regionalstaates“, für das sich die spanischen regierenden Eliten entschieden, unterscheidet sich vom Bundesstaat oder Föderalstaat zunächst in einem sehr wesentlichen Punkt: Es wird ausdrücklich festgehalten, dass die Zentralregierung aus eigenem Entschluss Hoheitsrechte abtritt. Eine Abstimmung über Unabhängigkeit ist nicht vorgesehen, ebensowenig wie ein Recht auf Austritt. Darin unterscheidet sich die spanische Verfassung von derjenigen der Sowjetunion und Jugoslawiens, in denen das Recht auf Austritt gewährt wurde, aber auch von derjenigen Grossbritanniens.

Im Gegenzug für diese Klarstellung, wer letztlich das Sagen hat, werden den spanischen Provinzen in dieser Verfassung sehr viele administrative Zugeständnisse gemacht, unter anderem bezüglich ihrer Finanzierung. Spaniens autonome Provinzen dürfen Anleihen ausgeben. Diejenige, die den meisten Gebrauch davon gemacht hat, ist Katalonien. Mit 77,5 Milliarden Euro ist sie die mit Abstand höchstverschuldete Provinz, die ihre Schuld nur aufgrund eines von der Zentralregierung eingerichteten Liquiditätsfonds bedienen kann.

Was das verfassungswidrige Referendum betrifft, so erhebt sich die Frage, wer eigentlich abstimmen darf? In Katalonien leben viele Personen aus anderen Teilen Spaniens, da es in Katalonien Jobs gibt, die in Andalusien, Murcia, Extremadura und anderen Provinzen eher rar sind. Es ist zweifelhaft, dass diese Leute für die Unabhängigkeit stimmen werden. Ausserdem ist es aus ähnlichen, also wirtschaftlichen Gründen von Rumänen, Ukrainern und anderen Osteuropäern, Südamerikanern, Nord- und Schwarzafrikanern, und ähnlichen vom Standpunkt des Unabhängigkeitsstrebens unsicheren Kantonisten bevölkert. Werden die von der Teilnahme ausgeschlossen, obwohl sie dort wohnen? Müssen alle, die abstimmen wollen, einen Katalanen-Nachweis erbringen, ähnlich wie im Film „8 baskische Nachnamen“ bis hin zu den Urgrosseltern? Im Falle der Unabhängigkeit, dürfen die Zuagroasten bleiben oder müssen sie gehen?

Die spanische Regierung wirkt rat- und hilflos. Der spanische König ebenfalls. Fährt er nach Katalonien, so riskiert er, mit Tomaten oder Ähnlichem beworfen zu werden.

Inzwischen soll verstärkt Polizei nach Katalonien verlegt werden. Aber zu welchem Zweck? Prügelnde Polizisten vor illegalen Wahllokalen hätten eine sehr schiefe Optik. Da überhaupt nicht klar ist, wer zu dem Referendum gehen wird, ist auch unklar, was da an Polizei oder Militär benötigt werden würde.

Ausserdem ist auch gar nicht klar, ob alle Organe des Staates den Befehlen folgen würden, wenn es wirklich hart auf hart geht. Der Staat ist sich seines Gewaltapparates nicht sicher. Katalonien hat noch dazu eine eigene Polizei – aufeinander losgehende katalanische und spanische Polizisten würden dem Ruf Spaniens als Standort und als Tourismusdestination sehr schaden. Vor einem solchen Szenario hat auch die Bürgermeisterin von Barcelona kalte Füsse und versucht sich mit allen Seiten möglichst gutzustellen.

Einfach zuschauen und warten, bis die katalanischen Nationalisten an ihren eigenen Widersprüchen scheitern, kann die Zentralregierung aber auch nicht. Das wäre ein zu deutlicher Souveränitätsverzicht und würde zum Zerfall Spaniens führen. Nicht einmal das illegale Referendum kann Spanien zulassen, weil damit hätte die Regierung das Ignorieren der spanischen Verfassung toleriert.

Nationalismus

Was bewegt eigentlich die katalanischen Politiker, und ihre offenbar zahlreiche Gefolgschaft, einen solchen Schritt anzustreben? Es ist der sehr einfache, sehr untertänige und gleichzeitig sehr aufmüpfige und militante Standpunkt, eine eigene Herrschaft zu wollen und die fremde abzuschütteln. Ähnliches bewegte die Führer der meisten Befreiungsbewegungen der 70-er Jahre. Damals gab es immerhin noch 2 Systeme, zwischen denen man wählen konnte. Heute ist es nur mehr die Marktwirtschaft, aber die soll doch gefälligst von rassereinen Häuptlingen verwaltet und verordnet werden, denen sich der selbstbewusste Bürger, der citoyen, froh und eifrig beugen kann!

Alle Begründungen, warum man weg will von Madrid, sind Scheinbegründungen, weil sie nur Bebilderungen des negativen Urteils über die Fremdherrschaft sind, das schon längst vorher und unabhängig von jeglicher Begründung feststeht. Wenn sich jemand z.B. über die vielen Steuern beschwert, die von Katalonien nach Madrid abgeliefert werden müssen, so lebt das von der Idee, dass jeder nach Madrid abgehende Euro sowieso hinausgeschmissenes Geld ist.

Diese fixe Idee ist ziemlich wasserdicht gegenüber jeder Argumentation in Sachen Vor- und Nachteile, weil sie das Heilige der eigenen Nation gegen jede Einmischung von aussen hochhält und sich mit Erbsenzählerei gar nicht abgeben mag.

Man fragt sich, wie in Katalonien wohl die Fronten zwischen den Regionalpolitikern in Sachen pro und contra aussehen und wie viele Leute womöglich geteert und gefedert aus Katalonien vertrieben werden, falls die Unabhängigkeit konkrete Formen annimmt. Genauso vorstellbar ist natürlich die andere Möglichkeit: dass die Sieger ihre Kollegen mit irgendeinem Amtl oder Gschaftl versehen, um sie damit auf ihre Seite zu ziehen.

Reaktionen von auswärts

Auch Brüssel und anderen Metropolen der EU ist eine gewisse Verlegenheit angesichts der katalanischen Umtriebe anzumerken. Irgendwie blicken alle peinlich berührt weg. Der EU-Kommissionspräsident Juncker wiederholt gebetsmühlenartig regelmässig, dass ein unabhängiges Katalonien erst wieder um Aufnahme in die EU ansuchen müsste. Das kommt fast einer Ermunterung des Separatismus gleich: macht weiter so! Sehr passend ist darauf auch die Antwort des katalanischen Regierungschefs Puigdemont: Eine EU, die sogar den Beitritt der Türkei erwägt, wird Katalonien auf jeden Fall mit offenen Armen aufnehmen!

Angesichts des Schocks, den der Brexit bei der EU-Spitze ausgelöst hat, ist diese Pseudo-Coolness gegenüber Katalonien etwas seltsam. Sind sich die EU-Granden bewusst, was ein Austritt Kataloniens für die gesamte spanische Staatsschuld auslösen kann? Noch dazu, wo Spanien Garantiemacht der beiden Rettungsfonds ist, und als solche zweifelhaft würde, wenn die Bedienung der eigenen Schuld ins Wanken gerät? Glauben alle, die EZB wirds schon richten? Denken sie sich: lieber ein europageiles Katalonien als ein innerlich zerstrittenes Spanien?

Die spanische Regierung ist selber verwundert, wie wenig Rückendeckung sie aus Brüssel und Berlin erhält, obwohl sie es doch an Bravheit und EU-Treue nicht hat fehlen lassen.

Während niemand die Hände zusammenschlägt und sagt: Was fällt euch ein! – wird auch nirgends der Freiheitswille der tüchtigen und fleissigen Katalanen gelobt. Man findet keine verständnistriefenden Artikel in europäischen Medien. Hinter deutschem Wahlkampf, nordkoreanischen Raketen, USA-Säbelrasseln und regelmässigen Armutsreports geht die Auflösung Spaniens irgendwie unter.

Und in Spanien selbst? Der baskische Regierungschef Urkullu laviert und will es sich mit keiner Seite verscherzen. Mal sehen, denkt er sich offensichtlich. Vielleicht machen wir auch was in die Richtung, wenn es sich bewährt. Oder aber wir versuchen, uns unsere Nibelungentreue gegenüber Madrid irgendwie belohnen zu lassen.

Und so halten es auch andere spanische Politiker in Opposition und Regionen. Unverbindliches Zeug schwatzen, in alle Richtungen freundliche Gesichter machen und glauben, damit kann man sich dann an irgendeine Macht anschmiegen, die aus der Konfrontation als Sieger hervorgeht.

Oh Zeit, oh Sitten! Vor 100 Jahren war in Barcelona das Zentrum des internationalen Anarchismus. Heute kräht nach der Vorstellung einer Gesellschaft ohne Staat und Herrschaft kein Hahn mehr …

Amelie Lanier