Präzedenzfall für die Verfolgung und Kriminalisierung sozialer Proteste in Spanien Katalonien revoltiert!

Politik

28. Oktober 2019

In den vergangenen Wochen reagierte die politische Justiz Spaniens mit Härte gegen die katalanische Unabhängigkeitsbewegung.

Proteste im Flughafen von Barcelona, Oktober 2019.
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Proteste im Flughafen von Barcelona, Oktober 2019. Foto: MALLUS (CC BY-SA 4.0 cropped)

28. Oktober 2019
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Der Konflikt um die Unabhängigkeit eskaliert. Doch trotz massiver Repression durch den Staat und faschistischer Banden bildet sich massenhafter Widerstand auf den Strassen.

Seit Längerem dominieren Proteste und Aktionen des zivilen Ungehorsams ganz Katalonien. Demonstrationen, Strassenblockaden und Unterbrechungen des Schienenverkehrs legen weite Teile der Region lahm. Der Flughafen in Barcelona wurde am Montag von friedlichen Demonstrant*innen blockiert, über 150 Flüge fielen aus. In der katalanischen Hauptstadt kam es in den vergangenen Nächten zu heftigen Protesten und brennenden Barrikaden, die sowohl von der spanischen als auch von der katalanischen Polizei brutal bekämpft wurden. Was ist der Auslöser dieser Protestwelle, die weite Teile der Gesellschaft erfasst hat?

Der andauernde Konflikt zwischen Spanien und Katalonien trat am Montag, den 14. Oktober, in eine neue Phase. Das oberste Gerichtshof Spaniens veröffentlichte an diesem Tag das Urteil gegen neun Anführer*innen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie wurden jeweils zu 9 bis 13 Jahren Haft wegen Aufruhr verurteilt. Im Prozess ging es um die Rolle der Angeklagten bei der Durchführung des Unabhängigkeitsreferendums im Jahr 2017, das trotz eines Verbots der Madrider Zentralregierung stattgefunden hatte.

Das Votum wurde damals dank der basis-demokratischen Organisation der Nachbar*innen, der sogenannten „Comités de Defensa del Referèndum“ (zu Deutsch: Komitees zur Verteidigung des Referendums) erfolgreich durchgeführt. Die Bürger*innen verbargen die Wahlurnen und Zettel in ihren Haushalten, um ihre Beschlagnahmung zu verhindern und übernachteten in den Tagen vor dem Referendum in den Wahllokalen, um das Eingreifen der Polizei zu vereiteln. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: 2.044.038 Stimmen für die Abspaltung (117.547 dagegen) bei einer Wahlbeteiligung von 43 Prozent.

Das Referendum bildete eine der zentralen Herausforderungen für den Status quo des spanischen Königreiches seit der sogenannten Transition, die Übergangsphase vom Faschismus unter Franco zu einer vermeintlichen Demokratisierung nach 1975, die es versäumt hat, sich mit der Aufarbeitung des Franquismus auseinanderzusetzen. Die katalanische Bewegung stellte im Oktober 2017 nicht nur die Einheit des Staates in Frage, sondern die Figur des Königs, die Gewaltenteilung und die Legitimität einer liberalen Demokratie im Europa des Kapitals, die unfähig ist eine friedliche Antwort auf einen seit Jahren bestehenden politischen Konflikt zu finden.

In Teilen der linken und linksradikalen Szene wurde die Frage der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen kontrovers diskutiert. Während einige den basisdemokratischen, emanzipatorischen und antifaschistischen Charakter der Bewegung hervorheben, sehen andere das Ziel der Konstruktion eines neuen Nationalstaates und die sozialdemokratische und reformistische Akteur*innen, die die Bewegung umfasst, als problematisch an. Doch über die Unabhängigkeitsfrage hinaus stellt dieses Urteil ein Präzedenzfall für die Verfolgung und Kriminalisierung jeglicher sozialer Proteste in Spanien dar.

Nach der Urteilsbegründung sind auch gewaltfreier Widerstand und friedliche Aktionen des zivilen Ungehorsams, welche im Rahmen des Unabhängigkeitsvotums 2017 eine zentrale Rolle spielten, an sich geeignet und ausreichend, um den Strafbestand des Aufstandes, eine in Spanien als „Verbrechen“ definierte Tat, die gewaltsames Verhalten voraussetzt zu erfüllen. Beweise für die dem „Straftat Aufstand“ zugrundeliegende Gewalt sind im Urteil nicht zu finden.

Diese unsäglichen Urteile brachten Hunderttausende Menschen auf der Strasse und auf die zentralen Plätze. Und die staatliche Gewalt gegen sie war erbarmungslos. Insgesamt berichtet die Menschenrechtsorganisation Iridia und das linke Kollektiv Alerta Solidària von hunderten von Verletzten, darunter Journalist*innen, und neun Inhaftierten. Zudem verloren zwei Personen an der Flughafenblockade ein Auge durch ein Gummigeschoss, welches trotz beschlossenem Verbot des Regionalparlaments von der spanischen Polizei eingesetzt wurde.

Hervorzuheben sind ausserdem die Angriffe von Neonazi-Gruppen in der vergangenen Nacht von Donnerstag auf Freitag, die im Norden Barcelonas für die Einheit Spaniens demonstrierten. Weder die katalanische noch die spanische Polizei verhinderten, dass die faschistischen Gruppierungen frei durch die Stadt laufen konnten, auf der Suche nach Antifaschist*innen und Unabhängigkeitsbefürworter*innen. Ein Junge wurde dabei brutal verprügelt. Dass die spanische Regierung in den kommenden Tagen das „Gesetz zur nationalen Sicherheit“ umsetzt, scheint jeden Tag wahrscheinlicher. Dabei handelt es sich um ein Ausnahmezustandsgesetz, wodurch die paramilitärische Guardia Civil, ein noch heute von franquistischen Kräften dominierten Polizeikörper, an Stelle der katalanischen Mossos d'Esquadra das staatliche Gewaltmonopol in Katalonien erhalten würde.

Seit der Einführung des sogenannten Knebelgesetzes (ley mordaza) im Juli 2015, welches die Demonstrations- und Meinungsfreiheit von der Strasse bis in das Internet empfindlich einschränkt und die Bürger tatsächlich der Willkür der Staatsgewalt ausliefert, setzt der wachsende demokratische Rückgang Spaniens fort. Die Rücknahme der Grundrechte, die fehlende Gewaltenteilung und die Unfähigkeit Spaniens politische Konflikte durch politische Lösungen anzugehen, wird nicht nur am Fall Kataloniens ersichtlich, sondern bei jedem Protest, der die Fundamente des Königreichs in Frage stellt.

Der Fall der Jugendlichen aus Altsasu (Euskal Herria), die Verfolgung von Künstler*innen wie Pablo Hasel oder Valtònyc, die neue repressive Eskalation gegen die baskische Linke trotz der Auflösung der baskischen Guerilla Euskadi Ta Askatasuna (ETA, zu deutsch „Baskenland und Freiheit“) 2011 sowie die neueste Verhaftung von sieben Aktivist*innen in Katalonien Anfang Oktober: diese Fälle zeigen die faschistischen Kontinuitäten des spanischen Staates, der politische Konflikte noch heute ausschliesslich durch die Gewaltanwendung und die Verfolgung der politischen Dissidenz herbeiführt. Im Rahmen des Generalstreiks, unterstützt von weiten Teilen der Gesellschaft, sind für den ganzen Tag Demonstrationen und Strassenblockaden geplant. In den nächsten Tagen sollen weitere Aktionen des zivilen Unegehorsams folgen, die von der Plattform “Tsunami Democràtic” koordiniert werden.

Lola Villanova
revoltmag.org

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.