Es fehlt an der nötigen Sensibilität Die Antisemitismus-Gratwanderung der britischen Labour-Partei

Politik

29. März 2019

Immer wieder macht Labour wegen Antisemitismus von sich reden. Klar ist: Es gibt einige dunkle Flecken in der Linkspartei.

Der Parteivorsitzende der Labour Partei Jeremy Corbyn bei einer Rede in Hayfield, Juli 2018.
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Der Parteivorsitzende der Labour Partei Jeremy Corbyn bei einer Rede in Hayfield, Juli 2018. Foto: Sophie Brown (CC BY-SA 4.0 cropped)

29. März 2019
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Der Vorgang ist eher ungewöhnlich: Die staatliche britische Kommission für Gleichberechtigung und Menschenrechte (EHRC) hat Anfang März 2019 ein Untersuchungsverfahren gegen die sozialdemokratische Labour-Partei eröffnet. Die Behörde vermutet, dass Labour «Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihren religiösen Überzeugungen rechtswidrig diskriminiert haben könnte», wie ein EHRC-Sprecher gemäss der britischen Zeitung The Guardian sagte.

Anlass für das Verfahren sind Klagen zweier Organisationen, Campaign Against Antisemitism (CAA) und Jewish Labour Movement (JLM), die der Partei «institutionellen Antisemitismus» unterstellen. «Es ist eine traurige Anklage, dass die einst grosse antirassistische Labour-Partei jetzt von der Gleichheits- und Menschenrechtsbehörde untersucht wird», erklärte der CAA-Vorsitzende. Die EHRC hat bereits einmal eine politische Partei zur Räson gerufen, nur war es damals eine von der anderen Seite des politischen Spektrums: die rechtsextreme British National Party, weil diese den Parteibeitritt von Schwarzen und von Angehörigen ethnischer Minderheiten in den Statuten verboten hatte.

Verschärfte Debatte seit Corbyns Wahl

Die Debatte um Antisemitismus bei Labour ist vor allem seit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Parteivorsitzenden 2015 heftiger geworden. Bereits im Oktober 2016 hat eine Parlamentskommission festgestellt, dass Corbyn zu wenig getan habe, um dem offensichtlich existierenden Antisemitismus in Teilen der Partei Einhalt zu gebieten.

Vor einem Jahr haben sich führende Vertreter jüdischer Gemeinden öffentlich darüber beklagt, dass der Labour-Chef sich nicht von antisemitischen Positionen distanziere und sogar Partei für diese ergreife. Scotland Yard hat zudem im November 2018 wegen des Verdachts auf «antisemitische Hassverbrechen» im Internet Ermittlungen eingeleitet. Und im Februar 2019 verliessen sieben Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Partei, unter anderem mit dem Hinweis auf antisemitische Tendenzen in der Partei.

Es fehlt an der nötigen Sensibilität

SRF-Grossbritannien-Korrespondent Martin Alioth verfolgt Corbyns Politkarriere seit Jahrzehnten. In einem Beitrag vom vergangenen Jahr mit dem Titel «Ist Jeremy Corbyn ein Antisemit?» gibt er eine differenzierte Antwort. Der Labour-Politiker habe im Nahostkonflikt schon immer eine klar pro-palästinensische Haltung vertreten, was einen Teil der Vorwürfe erkläre. Er habe sich dabei allerdings nicht nur allgemein mit der palästinensischen Sache solidarisiert, Corbyn sei auch für militante Organisationen wie Hamas und Hisbollah eingetreten. «Daraus folgt schon fast automatisch eine scharfe Israel-Kritik, die leicht antisemitische Untertöne annehmen kann.»

Alioth zitiert auch eine altgediente Labour-Politikerin, Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, die sagt: «Jeremy selbst ist kein Antisemit. Aber er hat es zugelassen, dass ihn Antisemiten überall auf der Welt zu ihrem Posterboy gemacht haben.» Martin Alioths Schlussfolgerung: Beim Thema Antisemitismus scheine Corbyn schlicht die Sensibilität und das Verständnis zu fehlen.

Kritik verschärft sich

Mittlerweile gibt es aber auch sehr viel kritischere Einschätzungen. Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, erklärte beim Holocaust-Gedenktag im Europaparlament im Januar 2019: «Die Labour-Partei hat sich unter dem Vorsitz von Jeremy Corbyn in den vergangenen Jahren zu einem der eklatantesten Problemfälle Europas im Hinblick auf politischen Antisemitismus entwickelt.» In einem Interview mit der deutschen Zeitschrift Jüdische Allgemeine wiederum erklärte die aus Labour ausgetretene Abgeordnete Joan Ryan, sie habe mitansehen müssen, dass eine «junge jüdische Abgeordnete, mit der ich stets verbündet war, praktisch aus der Partei geekelt wurde.

Sie hatte die Partei als institutionell rassistisch bezeichnet. (…) Bevor Corbyn Parteichef wurde, gab es dieses Problem nicht. Als ich vor 40 Jahren Labour beitrat, war ich angezogen von den Werten der Gleichberechtigung und des Aufstehens gegen Rassismus. (…) Als die grosse Mehrheit britischer Juden sich über den Antisemitismus in der Partei besorgt zeigte, hätte sich Corbyn nur laut und solidarisch zu den britischen Juden bekennen müssen. Aber er tat es nicht». Corbyn hat im vergangenen Jahr auch schon mal zugestanden, seine Partei habe ein Antisemitismus-Problem, man habe lange zu zögerlich gehandelt, doch nun werde alles anders. Doch allzu überzeugend hat er nicht durchgegriffen.

Existenzrecht als rote Linie

Eine immer wieder diskutierte Frage ist die Haltung zum Staat Israel und zur israelischen Politik. Dabei ist unbestritten, dass Kritik an politischen Entscheiden und Handlungen der israelischen Regierung nichts mit Antisemitismus zu tun hat und ebenso selbstverständlich ausgeübt werden kann wie in jedem anderen vergleichbaren Fall auch. Das hat jüngst auch die Antisemitismusbeauftragte der EU, Katharina von Schnurbein, in einem Interview mit der Sonntagszeitung vom 10. März 2019 klargemacht.

Auf die Frage, was legitime Kritik an Israel sei und wo der Antisemitismus anfange, sagt sie: Die Antisemitismus-Definition der EU, die auch die Schweiz übernommen hat, «macht klar, Kritik an Israel, so wie sie an jedem anderen Land geübt wird, kann nicht als antisemitisch angesehen werden: Kritik an der Regierung, an dem politischen Handeln, an den besetzten Gebieten. Wenn es aber um die Existenz Israels geht oder das Selbstbestimmungsrecht der Juden infrage gestellt wird, obwohl es anderen Ländern zugebilligt wird, das ist klar antisemitisch». Auch gegen die Aussage, «die israelische Siedlungspolitik sei ein Skandal», hat Katharina von Schnurbein nichts einzuwenden, «das könnten Sie auch über andere Länder sagen, die Gebiete besetzt halten».

Labour stellt Israels Existenz zur Disposition

Nun ist aber die Haltung von Labour zum Thema Israel mittlerweile in der Tat problematisch. Die Parteiführung hat Anfang 2018 zwar die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), also der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, grundsätzlich übernommen. Doch die Partei hat sie nicht unverändert akzeptiert, sondern in zwei wesentlichen Punkten abgeändert.

Die IHRA listet elf aktuelle Beispiele von Antisemitismus auf, so «das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen» und «Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten». Diese beiden Punkte hat Labour aus dem Beispielkatalog gestrichen mit der Begründung, Debatten über Israel müssten frei geführt werden können. Wenn man eine Diskussion darüber ermöglichen will, ob der Staat Israel ein «rassistisches Unterfangen» sei, stellt man automatisch die Existenz dieses Staates an sich zur Disposition.

Israel mit «Nazistaat» gleichgesetzt

Mit dieser Haltung steht die Parteiführung offensichtlich nicht allein, wie eine Episode in London zeigt. Daniel Zylbersztajn, Grossbritannien-Korrespondent der links-grünen deutschen Tageszeitung taz, berichtet in Le Monde diplomatique (März 2019) über ein kurzes Gespräch auf der Strasse mit zwei Labour-Anhängerinnen. Man kam auf Jeremy Corbyn zu sprechen: «Ich verwies auf dessen lauwarme Haltung zur EU und erwähnte, dass ich Jude sei – aufgrund all der antisemitischen Vorfälle in der Partei und Corbyns kurioser Nähe zu Israelhassern sei er mir nicht mehr sympathisch. Ihre Entgegnung lautete, dass Israel keinerlei Existenzberechtigung habe und ein Nazistaat sei.»

Dazu hält Zylbersztajn lakonisch fest: «Ich akzeptiere, dass ich mir künftig mit diesen Menschen das Recht, Brite zu sein, würde teilen müssen.» Der Deutsche Daniel Zylbersztajn hatte sich 2018 zusätzlich um die britische Staatsbürgerschaft beworben – vor allem zur Absicherung wegen des Brexits – und diese auch erhalten. Mit antisemitischen Anwürfen musste er schon immer leben. Als er in den Neunzigerjahren an der Universität in London einen deutschsprachigen Schreibklub gründen wollte, sei ihm von einer ultralinken Studentengruppe erklärt worden, man werde «eine Nazivereinigung an der Uni nicht unterstützen». Ohnehin habe er gleich in zweifacher Hinsicht in diesen Kreisen als Nazi gegolten, «weil ich ‹als Zionist in Israel gelebt› hätte. Ungerechtfertigter Hass muss in London nicht immer von rechts kommen».

Jürg Müller-Muralt / Infosperber