Das Herz des Kapitalismus ist altersschwach Gegen das Getöse um Brexit und derlei Kinkerlitzchen

Politik

30. Juni 2016

Eine knappe Mehrheit der Insulaner hat gegen die satte Mehrheit der politischen und ökonomischen Eliten für den EU-Austritt gestimmt. Alte Leute, sozial schlechter Gestellte, Engländer und Waliserinnen haben eher dafür, Junge, besser Verdienende und Leute in Schottland und Nordirland eher dagegen gestimmt.

Die EU mag mit oder ohne Grossbritannien schwanken – die politisch-ökonomische Grundlage bleibt dieselbe, und sie ist schlicht verheerend.
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Die EU mag mit oder ohne Grossbritannien schwanken – die politisch-ökonomische Grundlage bleibt dieselbe, und sie ist schlicht verheerend. Foto: ©User:ColinKim HansenWikimedia Commons (CC BY-SA 4.0 cropped)

30. Juni 2016
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Die Ratlosigkeit der leitenden Funktionäre unserer Gesellschaftsordnung hat da deutlich durchgeschienen. Die der Angeleiteten nicht minder. Aber seine flachen Wurzeln hat dieses Ergebnis sicher nicht in Überlegungen, die in einer Perspektive über die platzenden Illusionen unserer Gesellschaftsordnung hinausstreben würden, sondern eher in der einen oder anderen kurz greifenden und kurzfristigen Erwartung eines „kleineren Übels“, die sich mit der eigenen Situation irgendwie verbinden liess. Ein gutes Leben werden sich die meisten Wahlberechtigten wohl weder vom „leave“ noch vom „remain“ versprochen haben, sodass trotz aller Pro- und Kontra-Propaganda jeder dritte oder vierte gleich gar nicht hingegangen ist. Und mit solchem Misstrauen hat eins ja senkrecht.

Das Herz des Kapitalismus, das beständige Wachstum des Kapitals durch Arbeit, ist altersschwach. Die Geldvermehrung, in der sich dieser Prozess niederschlagen soll, ist grossenteils fiktiv, basiert mehr auf Spekulation und Schulden als auf Profiten aus der Arbeit hier und jetzt – weil es offenbar anders nicht mehr geht. Das System spuckt mehr Menschen als unverwertbar aus, als es neu aufnimmt. Vor allem aber ruiniert es zügig das Klima und die Ressourcen, die Pflanzen und Tiere einschliesslich unsereins zum Leben brauchen.

Die EU mag mit oder ohne Grossbritannien schwanken und dieses selbst als Vereinigtes Königreich oder mit Schottland separat, Katalonien mag bei Spanien bleiben oder sich abspalten und die diversen Exit-Bewegungen anderswo mögen im Kampf der Grossmächte weiter spalten oder nicht – die politisch-ökonomische Grundlage bleibt dieselbe, und sie ist schlicht verheerend. Die Fata Morgana einer Rückkehr zum Nationalstaat der Sechziger- und Siebzigerjahre, der seine Bürger noch mit „Arbeit und sozialer Sicherheit“ abspeisen konnte, entpuppt sich beim Näherkommen als nicht minder illusionäres „Rette sich, wer kann“ im Abstieg einer Lebensweise.

Mehr oder weniger gewaltbereite brave Bürger versammeln sich auch in Westeuropa unter den Fetzen ihrer Fahnen und rund um die lautesten Schreier im politischen Geschäft. Im Niedergang des Weltsystems wird es ungemütlich, das transnationale Kapital huscht von einem Standort zum nächsten, der es billiger gibt, die „Märkte“ verlieren das Vertrauen in diesen und jenen Staat (mit allen dazugehörigen sozialen Katastrophen), und die Massenmigration steht an den Gräben und Zäunen der Metropolen des Kapitals oder wird an den Küsten angeschwemmt – Menschen auf der Suche nach Arbeit, auf der Flucht vor der blutigen Gewalt, ausgelöst von der Dauerkrise des Kapitals und der aus ihr entspringenden Schiess- und Bombardierwut, und auf der Flucht vor Dürre hier und Überflutung dort, Folgen des „entwickelten“ Umgangs mit der Natur.

Auch den anderen graust es vor den schon unübersehbaren Folgen dieser Entwicklung, aber sie hegen eine verzweifelnde Hoffnung, dass es „auch so“ schon irgendwie wieder besser werden wird oder sie wenigstens ihren Status quo behalten können, denn schliesslich „geht es uns ja immer noch recht gut“, wenn auch das „uns“ global und auch schon hier auf den Strassen sichtbarlich dramatisch schrumpft. Auch diese Gläubigen werden von Politik und Ökonomie mit dem Spektakel beruhigender Phrasen und Hoffnungen bedient. Der Glaube dran jedoch braucht immer aufwändigere Verdrängung, und die Hoffnungen platzen schneller als neue aufgeblasen werden.

Das Gespann Staat und Wirtschaft zieht uns in den Graben. Nicht weil die falschen Leute uns da lenken und wir uns bessere erwählen müssten. Nein, die Leute werden zwangsläufig zu den falschen, wenn sie an der Lenkung sitzen. Arbeiten, um aus Geld mehr Geld zu machen und selber Geld zu bekommen, um zu konsumieren, was der Geldvermehrung dient, das ist ein destruktives, welt- und lebensfeindliches Zombieleben. Dafür braucht es einen Apparat von Funktionären und Vertretern für die Schienen und das Fahrzeug in den Untergang. Es gibt aber keine Vertreter für die Lenkung und Führung unseres Lebens, wenn es gut werden soll. Dafür können nur wir selber es miteinander führen.

Wir haben keineswegs mehr „alle Zeit der Welt“, das Zeitfenster ist recht schmal geworden, unser Leben in die eigenen Hände und Hirne zu bekommen, die Welt nicht „auszubeuten“, sondern uns in sie einzupassen, damit sie uns nicht entsorgt. Wo Nachbar_innen sich dafür zusammentun, wo das Palaver läuft, wie wir was miteinander machen, ein Stückerl frei von Staat und Wirtschaft, kann ein Weg sich auftun raus aus der Malaise, wie gewunden er auch sein mag. Und abseits vom Spektakel ist da auch schon was unterwegs. Es möge experimentieren, lernen, (zusammen)wachsen, damit das Zombietum an sein Ende komme. Aber wer mit Staat und Wirtschaft immer weitergehen will, der lasse alle Hoffnung fahren.

Lorenz Glatz
streifzuege.org