Über die Unbewohnbarkeit der Welt „Tragödien“ im Mittelmeer

Politik

27. April 2015

Nachdem sich sowohl die Zahlen derer, die es nach Europa schaffen, als auch die derjenigen, denen es nicht gelingt ständig erhöhen, ist es doch einmal angebracht, nachzufragen, warum mehr und mehr Menschen die höchst gefährliche Reise nach Europa unter allen Umständen unternehmen.

Alte Boote mit arabischen Schriftzügen und zersplittertes Holz - Schiffsfriedhof auf Lampedusa.
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Alte Boote mit arabischen Schriftzügen und zersplittertes Holz - Schiffsfriedhof auf Lampedusa. Foto: Fraintesa.it (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

27. April 2015
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Rekapitulieren wir doch einmal, wie es überhaupt zu diesen Flüchtlingsströmen kommt.

I. Afrika

1. Afrika war auch zur Zeit des Kalten Krieges ein vielerorts ungemütlicher Ort. Die postkolonialen Abtransport-Praktiken von Rohstoffen und Agrarprodukten, in Abkommen wie denen von Lomé (Stabex und Minex) und weiteren, bilateralen Verhandlungen festgeschrieben und immer neu verhandelt, beraubten viele Menschen ihrer Existenzgrundlage. In der Landwirtschaft rissen sich Konzerne die fruchtbaren Gegenden unter den Nagel und trieben die mittels Subsistenzwirtschaft existierenden Einheimischen in die Steppen und Halbwüsten, was das Entstehen weiterer unfruchtbarer Gegenden, wie in der Sahelzone begünstigte. Im Bergbau wurden ebenfalls entweder bestehende primitive Abbaumethoden zugunsten maschineller, industrieller verdrängt, oft mit Polizei und Paramilitärs, was die bisherigen Bergarbeiter entweder zu um einen Hungerlohn schuftenden Lohnarbeitern degradierte, oder gleich vom Standort vertrieb. Oder es wurden dort ansässige Landbewohner zugunsten eines Bergbauprojektes vertrieben.

Das alles war zwar unerfreulich für die Menschen vor Ort, führte aber nicht zu grossen Flüchtlingsströmen. Die Betroffenen flüchteten innerhalb Afrikas, verhungerten oder wurden niedergemetzelt.

2. Ein weiteres Datum für die Bewohner Afrikas war das Ende des Kalten Krieges. Verschiedene der dortigen Regierungen wurden bis 1990 mittels Militär- und Entwicklungshilfe finanziell unterstützt, um sie als Verbündete des Westens zu erhalten. Das liessen sich vor allem die USA einiges kosten. Es fand so eine eigenartige Art von Arbeitsteilung zwischen den USA und verschiedenen europäischen Staaten statt: Die Amis zahlten einen Haufen Geld, und die Europäer schleppten ab, was es an Rohstoffen und Agrarprodukten zu holen gab.

3. Mit dem Ende des Kalten Krieges gab es auf einmal eine neue Situation: es war nicht mehr nötig, dort irgendwelche Regimes aufrechtzuerhalten, da es keine Konkurrenz mehr gab. Die Alimentierung des südafrikanischen Apartheid-Regimes wurde überflüssig, da die sowjetisch-kubanisch gestützten Regierungen der Nachbarstaaten notgedrungen einlenken und mit den USA und Europa ihren Frieden machen mussten. Der ANC kam dort an die Macht, die er inzwischen – sehr autochton – gegen streikende Arbeiter einsetzt.

Die paar Staaten, die mit der SU verbündet waren, gingen ebenfalls ihrer Unterstützung verlustig. In Äthiopien wurde Mengistu gestürzt. Afrika verbilligte sich für die imperialistischen Staaten. Und das Wettrennen um Rohstoffe beschleunigte sich. Die Küsten wurden verpachtet und die dortigen Fischer verloren ihre Existenzgrundlage.

Das erste Land, das darüber vollständig kippte, war Somalia – der erste so richtig anerkannte „failed state“. Interventionen der USA in den 90-er Jahren scheiterten. Somalia dümpelt weiterhin als Krisenfall vor sich hin. Gegen die Überlebensversuche der dortigen Bevölkerung mittels Piraterie (Somalia kontrolliert wie der Jemen die Einfahrt in den Suezkanal) wurden internationale Flottengeschwader in die Gegend geschickt.

4. Ruanda, Burundi, Nigeria, der Kongo, Uganda, Liberia, Sierra Leone – die meisten Menschen hierzulande wissen weder, wo diese Staaten sich befinden, noch was dort geschieht. Wir werden sporadisch informiert über Bürgerkriege, Warlords – die dann medienwirksam gesucht werden, selbstverständlich ohne Erfolg –, zum Beispiel in Darwin's Nightmare, einem Dokumentarfilm über den Victoriasee.

Dann gibt es noch Hungerkatastrophen, wo man zu Spenden aufgerufen wird – was natürlich nie zu einer gründlicheren Untersuchung oder auch nur Nachfrage darüber führt, wie es eigentlich dazu kommt. Meistens heisst es, das Wetter war schlecht, Heuschrecken sind eingefallen, und die Leute dort machen einfach zu viele Kinder. Dann wird wieder gegen den Sudan und seine „islamistische“ Regierung Stimmung gemacht, ein Stück von dem Land wird abgetrennt – man weiss gar nicht, warum? – und dann liest man irgendwo, dass es darüber Unfrieden gibt.

Als nächstes gibt es Terroristen in der Sahara, von denen verübte „Greueltaten“, und dann muss Frankreich intervenieren, um dort Ordnung zu schaffen. Alle diese verstreuten Informationen, die hin und wieder in unser Bewusstsein einsickern und ein angenehmes Gruseln über diesen Kontinent verursachen, – primitiv, sexbesessen, keine Demokratie, Stammeskriege, Vodoo – sind Ausdruck des Umstandes, dass in vielen Gegenden Afrikas das Leben bzw. Überleben unmöglich geworden ist.

II. Der nahe und mittlere Osten

Auch in diesen Weltgegenden hat sich einiges abgespielt. Afghanistan wurde zum Szenario des Showdowns zwischen den USA und der SU. Die USA wollten der SU ihr Vietnam verursachen. Das ist auch gründlich gelungen, Afghanistan wurde in diesem Konflikt noch mehr ruiniert als Vietnam, und seit mehr als 30 Jahren herrscht dort Krieg.

Dann wurde der Irak gründlich zerstört, nach der damals vorherrschenden USA-Aussenpolitik-Doktrin: Wo immer uns wer nicht passt, reiten wir dort ein und schaffen Tsching-Bumm-Krach! Ordnung. Damit wurde ein zwar diktatorisch regierter, aber ökonomisch halbwegs funktionierender Staat in Stücke geschlagen, wo die Bewohner nicht nur täglich um ihr Leben fürchten müssen, aber auch nebenbei die Landwirtschaft, die Wasser- und Stromversorgung ziemlich kaputt ist. Inzwischen sind dort mehrere kriegerische Einheiten entstanden, die mit recht modernem Waffenarsenal nichts anderes im Sinn haben, als – unter völliger Zerstörung aller Mittel des jeweiligen Gegners – das Territorium unter sich aufzuteilen.

Dazu kommen zwei flächendeckende Bombardements Israels gegen Gaza – 2008 und 2014 – die dieses Palästinenser-Ghetto recht gründlich in Schutt und Asche gelegt haben.

Als weiterer Mosaikstein in der Zerstörung des Nahen Ostens sei der eigentlich ohne besonderen Grund vom Zaun gebrochene Krieg Israels gegen den Libanon erwähnt. Schwups, auf einmal bombardierte die israelische Armee den Libanon und ruinierte dessen gesamte Infrastruktur – und damit auch Ökonomie – weitaus gründlicher als der jahrelange Bürgerkrieg im Libanon.

Bei diesen Kriegen fragte die europäische Öffentlichkeit nie ernsthaft nach: ja he, was ist denn da los?

Dann kam der „arabische Frühling“. Unzufriedene aller Art strömten auf Strassen und Plätze und forderten Freedom and Democracy. Die guten Leute hatten nicht mitbekommen, dass beides bei ihnen längst angekommen war, nur in anderer Form als erwartet. Von der demokratischen Öffentlichkeit in Europa wurden sie beglückwünscht und mit jeder Menge Komplimenten über die Fortschrittlichkeit ihrer Ideen überschüttet. Inzwischen wären die meisten Bewohner der betroffenen Länder froh, wenn sie ihre Diktatoren und die von ihnen eingerichteten halbwegs geordneten Zustände wieder zurück hätten.

Und so begann ein Exodus in kriegsfreie Gebiete, und in Gegenden, die im Ruf stehen, dort könnte man halbwegs gesichert existieren. Man weiss ja nicht, was in den Staaten Schwarzafrikas für Gerüchte über den Wohlstand in Europa kursieren, aber eines sehen die Leute vor Ort doch im Fernsehen: jeder scheint dort im Norden – im Unterschied zu ihnen – zumindest irgendwie sein Auskommen zu haben.

Und die Anzahl der Auswanderungswilligen, die jedes Risiko auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen, wächst mit der Anzahl der Kriege, Konflikte, „Natur“katastrophen und Ähnlichem von Jahr zu Jahr.

III: Frontex

Die europäischen Politiker haben hier ein Problem, das von Marx mit der Bezeichnung „relative Überbevölkerung“ charakterisiert worden ist, relativ nämlich zu den Bedürfnissen des Kapitals. Während in den 60-er Jahren das Kapital mancher europäischer Staaten nicht genug Arbeitskräfte vorfand und deren Regierungen deshalb aus Südeuropa und der Türkei Gastarbeiter anwarben, ist heute eine ständig anwachsende Zahl überflüssiger Bevölkerung zu verzeichnen, die den Sozialstaat belastet und Anlass für Publikumsbeschimpfung a la Sarrazin bietet. Und dann steht da an den Toren der Festung Europa – die ja im Inneren sehr viel von Freizügigkeit hält, ein Menschenrecht sozusagen – noch jede Menge Habenichtse aus zwei anderen Kontinenten, mit fremder Kultur, Sprache und Religion!

Nie gab es einen Moment lang die Überlegung von führenden Politikern, vielleicht einmal die eigene Politik gegenüber afrikanischen Staaten zu überdenken, statt Bomben, Soldaten und Militärhilfe vielleicht wieder etwas mehr an Infrastruktur und Bildung zu finanzieren, den USA bei kriegerischen Konflikten die Gefolgschaft aufzukündigen, auf Israel Druck auszuüben, damit es sich mit den Palästinensern einigt, anstatt sie dauernd wegbomben zu wollen, usw. Nein, die EU-Staaten wollen mitreden und möglichst auch mit dabei sein, wenn irgendeinem Staat oder einer Regierung wieder einmal klar gemacht werden soll, wessen Befehle sie gefälligst entgegenzunehmen habe.

Gegen den Ansturm der Flüchtlinge errichtete Spanien meterhohe, mit Stacheldraht umwickelte Zäune um die Enklaven Ceuta und Melilla. Und die EU richtete eine eigene Abwehrbehörde gegen Immigranten ein, die Frontex. Mit der für die EU-Aussenpolitik typischen Mischung aus Rücksichtslosigkeit, Dreistigkeit und Schönfärberei soll sie die EU-Aussengrenzen „sichern“. Die mittellosen Flüchtlinge werden damit von vornherein zu einer Gefahr erklärt, vor der man die braven EU-Bürger schützen muss. Nur so viel zum spezifischen EU-Rassismus, der von ganz oben kommt und nicht aus der angeblich so rückständigen Bevölkerung, wie manche Ausländerfreunde beklagen.

Für die Tätigkeit von Frontex ist nichts zu teuer, während bei Asylbetreuung und Sozialhilfe geknausert wird. Sowohl personalmässig als auch ausrüstungsmässig ist Frontex bestens ausgestattet und auch relativ erfolgreich. Durch Verträge mit den Staaten, von denen die Flüchtlinge starten könnten, wie Marokko, Tunesien oder dem Libanon, und Überwachung der Küste zu Wasser und zu Land, ist es gelungen, den Strom der Bootsflüchtlinge auf die Kanarischen Inseln und nach Andalusien zu stoppen. Es ist beinahe unmöglich, obwohl es das nächstliegende wäre, von Syrien nach Zypern zu kommen – Zypern ist abgeriegelt. Es gibt eine italienische Insel in der Nähe der tunesischen Küste, Pantelleria, die ebenfalls nie angesteuert wird, da Frontex Tunesien fest in der Hand hat.

An der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland wurde eine Mauer errichtet. (Erinnern wir uns noch an den Fall der Berliner Mauer? Keine Mauern mehr in Europa … ) Die Türkei stellt sich allerdings ein wenig als Problem dar, weil sie weder bereit ist, sich zum Büttel der EU zu machen, noch für Frontex auf Souveränität zu verzichten, damit sich deren Abwehr-Bande an der türkischen Küste breitmachen kann. Also schafft es auch hin und wieder ein Schiff bzw. Boot aus der Türkei – ausgerechnet nach Griechenland, wo sich ja ein wachsender Teil der eigenen Bevölkerung nur mit öffentlichen Suppenküchen weiterbringt.

Das einzige Land jedoch, das sich als Loch in der Frontex-Kette weiterhin hält, ist Libyen.

Auch hier erinnere man sich zurück: Berlusconi handelte für die EU seinerzeit mit Ghaddafi aus, dass die libyschen Behörden und Polizisten den Flüchtlingen die Überfahrt verunmöglichten. Die libysche Regierung setzte diese in eigenen, sehr ungemütlichen Lagern fest, wenn sie nicht von ihrem Unterfangen Abstand nehmen wollten. Ihnen wurden allerdings auch Jobs in Libyen angeboten, wenn sie dort bleiben wollten. Das verringerte deutlich die Attraktivität der Trans-Sahara-Route für diejenigen, die nach Europa strebten, und Libyens Küste war für Flüchtlinge gesperrt. Die libysche Gesellschaft war damals auch zu gut überwacht, als dass sich ein Schlepperwesen etablieren hätte können.

Heute ist Libyens Ökonomie am Boden, Milizen bekämpfen einander und zerstören dabei das, was die NATO-Bombardements stehengelassen haben, es gibt weder Regierung noch Polizei, die Existenzgrundlage des Grossteils der Bevölkerung ist zerstört, und die Flüchtlinge sind eine der wenigen Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Also strömen erstens die meisten Flüchtlinge nach Libyen, und dort gibt es zweitens genug Leute, die dafür sorgen, dass sich immer ein Schiff findet, von dem aus sie nach Lampedusa, Sizilien oder Malta starten können.

Die EU ist ratlos. Reinlassen will man die alle überhaupt nicht, aber jede Woche Hunderte absaufen zu lassen, hat eine schiefe Optik, und Italien und Malta wollen das auch nicht, weil diese ständige Wasserleichenverwaltung an ihrem Image kratzt und dem Tourismus schadet. Jedes Schiff, dessen menschliche Fracht gerettet wird, bestärkt jedoch diejenigen, die nach Libyen unterwegs sind oder von dort starten, wirkt also ermunternd.

Die Vorschläge mancher EU-Politiker zeugen von dieser Ratlosigkeit. „Auffangzentren“ sollen in Nordafrika errichtet werden. Gefängnisse, die bald voll sein werden, und deren Insassen durchgefüttert werden müssen, mit EU-Geldern? Es ist klar, dass diese Variante nichts bringen würde – es sei denn, man richtet die Flüchtlinge gleich an Ort und Stelle hin, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Da ist es aber ein geringerer Aufwand, sie gleich ertrinken zu lassen.

Der spanische Aussenminister schlägt vor, alle in den libyschen Häfen liegenden Schiffe zu zerstören und Libyen eine Regierung zu verpassen. So etwas käme, wenn man damit ernst machen wollte, einer Besatzung Libyens auf unbestimmte Zeit gleich. Europa könnte sich dort sozusagen sein eigenes Afghanistan einrichten, mit allen Konsequenzen. Das wäre zwar in der Logik der EU durchaus vertretbar, wird aber sicherlich daran scheitern, dass niemand von den Mitgliedsstaaten dabei sein will, wenn es an die praktische Umsetzung geht.

Amelie Lanier