Perspektive Neoliberalismus Das linke Nein zu dieser EU

Politik

3. April 2017

Brexit ist ein Projekt der Rechten, mit Unterstützung von links. Hier eine Begründung aus linker Sicht - à prendre ou à laisser.

Europäisches Parlament in Brüssel.
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Europäisches Parlament in Brüssel. Foto: CherryX per Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

3. April 2017
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Dreiviertel Jahre nach dem britischen EU-Austrittsbeschluss hat London die Scheidungspapiere in Brüssel eingereicht, und noch in der gleichen Woche eilt unser Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann auf die Insel, um mit der Ministerpräsidentin Theresa May das künftige Verhältnis zwischen dem Ganz-Ganz-Sicher-Nie- und dem Bald-Nicht-Mehr-Mitglied auszuloten. Vielleicht hat ihm Frau May über die zu erwartenden Artigkeiten hinaus etwas zu sagen, und vielleicht hat sie gröbere Probleme zu lösen (die Gütertrennung, die gemeinsamen Kinder…), bevor sie sich einem neuen Freier zuzuwenden vermag. Was immer besprochen werden wird – eines kommt mit Sicherheit nicht aufs Tapet: Das «linke Nein» zu Europa.

Ein politisches Schattengewächs, das ein kleines Scherflein zu den rechtsnationalen Brexit-Stimmen beigetragen hat und hierzulande für die europapolitische Schockstarre verantwortlich ist, welche die Schweiz lähmt. Wie linksgerichtete britische Brexit-Befürworter – sogenannte «Lexiteers» – ihr Ja zum Austritt aus der Union begründen, hat Alan Johnson, senior research fellow beim Britain Israel Communications and Research Center and Redaktor von dessen Online-Magazin Fathom .der Leserschaft der New York Times nahegebracht. Er bezieht sich auf einen längeren Artikel in der New Left Review aus dem vergangenen Jahr.

Die politische Preisfrage lautet natürlich, ob die nachstehenden Argumente zur Abgrenzung gegen eine erstarkende nationalistische Rechte taugen oder nicht.

Selbstverortung

Lexiteers verstehen sich als «Gegengewicht gegen die anti-Einwanderungs-Angstmacherei» der siegreichen U.K. Independence Party und vertreten eine «linksgerichtete, demokratische und internationalistische Begründung für Brexit», schreibt Johnson. Sein Kronzeuge ist Perry Anderson, der langjährige Chefredaktor der New Left Review: «Die EU wird jetzt weitherum als das angesehen, was sie geworden ist: eine oligarchische Struktur, von Korruption durchsetzt, auf der Verweigerung jedweder Volkssouveränität gebaut, zur Durchsetzung eines bitteren Wirtschaftsregimes aus Privilegien für die wenigen und Härten für die vielen».

Johnson

Mit dem nationalen Nihilismus des «Davos Man», der globalen Elite, können Lexiteers wenig anfangen. Aber wir sind keine Xenophoben. Wir stimmten für den Austritt, weil wir glauben, dass es im wesentlichen darum geht, die beiden Dinge zu erhalten, die wir als die wichtigsten erachten: ein demokratisches politisches System und eine sozialdemokratische Gesellschaft. Wir befürchten, dass das autoritäre Projekt einer neoliberalen Integration der Europäischen Union eine Brutstätte für die extreme Rechte ist. Indem sie so viel Politik vom demokratischen Prozess ausschloss, darunter die Verordnung von langfristigen Austeritätsmassnahmen und die Masseneinwanderung, hat die Union das Band zwischen den nationalen Mainstream-Politikern und ihren Wählern zerschnitten. Das hat den Rechtspopulisten die Türe geöffnet, welche behaupten, «Das Volk», das bereits ob der Sparpolitik verärgert ist, gegenüber dem Einwanderer zu vertreten.

Johnson stellt die EU in eine neoliberale, autoritäre Tradition

Es war der Freimarkt-Ökonome Friedrich Hayek, der intellektuelle Architekt des Neoliberalismus, der 1939 nach der «zwischenstaatlichen Bundesstaatlichkeit» («interstate federalism» – Red.) in Europa rief, um Wähler daran zu hindern, die Demokratie für Eingriffe in das Spiel des freien Markts zu nutzen. Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission (die Exekutive der Union), sagte es einfach: «Es kann keine demokratische Wahl gegen die europäischen Verträge geben».

Strukturen und Verträge der Union sind entsprechend gestaltet.

Die EU-Kommission

Die Europäische Kommission wird ernannt, nicht gewählt, und sie ist stolz darauf, keiner Wählerschaft gegenüber verantwortlich zu sein. «Wir wechseln unsere Position nicht aufgrund von Wahlen», sagte Kommissions-Vizepräsident Jyrki Katainen nach dem Wahlsieg der Anti-Austeritätspartei Syriza in Griechenland 2015.

Das EU-Parlament

Das Europäische Parlament ist kein wirkliches Parlament. Es ist keine Legislative, seine Vertreter bieten weder Wahlplattformen (manifestoes – Red.) an, noch führen sie die Ideen aus, die sie den Wählern vorschlagen. Wahlen in unmöglich grossen Wahlkreisen mit beschämend kleiner Beteiligung ändern nichts. Ein Parlamentsmitarbeiter sagte an einem European Research Seminar an der London School of Economics: «Die einzigen, welche den M.E.Ps (Parlamentsmitgliedern – Red.) zuhören, sind die Dolmetscher».

Der Europäische Rat

Der Europäische Rat, ein intergouvernementales Gebilde, in dem die entscheidende legislative Macht liegt – besonders für Kanzlerin Angela Merkel von Deutschland – besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, die normalerweise nur vier Mal im Jahr zusammentreffen. Sie werden nicht direkt von den Einwohnern der Nationen gewählt, deren Schicksal sie bestimmten. Was das Unionsprinzip der «Subsidiarität» betrifft , angeblich eine Präferenz für dezentralisiertes Regieren, so wird es in allen praktischen Angelegenheiten ignoriert.

Mitbestimmung des Volks

Die Wünsche der Wählerschaft werden regelmässig beiseitegewischt. Als die Wähler in Frankreich und den Niederlanden 2005 eine vorgeschlagene Europäische Verfassung zurückwiesen (die meisten Regierungen erlaubten nicht einmal eine Abstimmung) bedeutete dies für die Anhänger des Europäischen Projekts nichts. Ein paar kosmetische Tupfer, und die Verfassung wurde dennoch auferlegt – nur dass sie nun Lissaboner Vertrag genannt wurde (Irland, das einzige Land, das ein Referendum darüber erlaubte, stimmte dagegen. Also wurde Irland bedeutet, noch einmal abzustimmen, bis sie es verstanden hatten. Das ist Demokratie im europäischen Stil).

Das neoliberale Ziel

Was immer die Union seit den 1980er Jahren hätte werden können, sie machte neoliberale Wirtschaftspolitik zum integralen Teil des Projekts … Der Binnenmarkt, der Maastrichter Vertrag, die gemeinsame Währung und der Stabilitäts- und Wachstumspakt wirkten zusammen für die Auferlegung einer Politik der Deregulierung, Privatisierung, der anti-gewerkschaftlichen Arbeitsregeln, der regressiven Steuerregimes, der Fürsorgekürzungen, der Finanzialisierung – alles jenseits des Volkswillens angesetzt.

Selbst dem «Economist» wurde schlecht, als er bemerkte, dass die Werkzeuge der Keynes'schen Wirtschaftspolitik, auf welchen die Sozialdemokratie beruht, jetzt in Europa illegal sind. Er schrieb, dass dieses Arrangement «sich politisch sehr zweifelhaft anfühlt …

Die Europäische Zentralbank

Eine weitere Schlüsselinstitution der neoliberalen Union ist die Europäische Zentralbank. Ungewählt und niemandem verantwortlich, sind die Bankgouverneure vertraglich verpflichtet, Deflation gegenüber Wachstum zu bevorzugen, Staatsbeihilfen an leidende Industrien zu verbieten und Austeritätsmassnahmen durchzusetzen. Ähnlich wirkt die gemeinsame Währung auf ganze Regionen Europas als ökonomischer Würgegriff. Sie können weder ihre Währungen abwerten (was souveräne Nationen können), um wettbewerbsfähig zu werden, noch aus der Stagnation herauswachsen, weil sie durch Austeritätsmassnahmen gezwungen sind, ihre Wirtschaft zu schrumpfen.

Das Leiden von Griechenland

Die menschlichen Kosten sind grotesk. Das ökonomische Waterboarding Griechenlands durch die Europäische Union bedeutete dort eine Beschneidung der Spitalbudgets um ein Viertel, eine Halbierung der Ausgaben für Medikamente, während die HIV-Infektionsraten hinaufschossen, die Anzahl schwerer Depressionsfälle sich verdoppelte, die Selbstmordversuche um ein Drittel zunahmen und die Zahl der Totgeburten um 21 Prozent zunahm. 4 von 10 griechischen Kindern wurden in Armut gestossen, und eine Untersuchung ergab, dass 54 Prozent der Griechen unterernährt sind….

Der Europäische Gerichtshof

Über allem thront der Europäische Gerichtshof, dessen Entscheide das Streikrecht von Arbeitnehmern dem Arbeitgeberrecht auf Gewerbefreiheit unterordnen. Hayek wird lächeln.

Brexit von links

….Brexit ging es darum, «die Kontrolle wieder zu erlangen». Demokratie braucht einen Demos, ein Volk, für, durch und von welchem die Regierung besteht. Ohne ein Volk gibt es nur Inter-Elite-Management, Vertragsrecht und Geldgier. Aber wie wird «das Volk» geschaffen? Das entscheidet die Politik. Ein Populismus von links wird nicht – wie es die extreme Rechte tut – das Volk in Opposition zum eingewanderten anderen definieren, sondern in Opposition zu den mächtigen neoliberalen Eliten….

Ein Hoch dem Nationalstaat

Die Davos-Man-Linke machte einen kolossalen Fehler, als sie glaubte, die Nationalstaaten seien ein Anachronismus und demokratiefeindlich. Weit davon entfernt, eine Bedrohung der Demokratie zu sein, ist der Nationalstaat der einzige stabile Unterbau, den wir bisher geschaffen haben, um die Verpflichtungen, Opfer und Ausmasse gesellschaftlichen Vertrauens zu erhalten, die eine Demokratie und ein Wohlfahrtsstaat erfordern.

Die «souveräne Geste»

Johnson stellt die europäische Integration in eine Reihe mit der Globalisierung, die als «gezinktes Spiel» einem kleinen Teil der «Nationen» die Möglichkeit eines «weltweiten Spielfelds» eröffnet. Die Linke spiele mit.

… Eine nicht die einzige, Bedeutung von Brexit, liegt darin, dass der andere Teil der Nation, die Verlierer, die Ausgeschlossenen, die Verachteten, die den Glauben an die geschmeidigen Versprechungen einer Globalisierung für alle verloren haben, sich aus Verzweiflung zu einer souveränen Geste entschieden: durch eine Rückkehr zu nationalstaatlicher Politik die Regeln zu ändern, um eine Chance zu erhalten, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

Einige von uns auf der demokratischen Linken gehen mit ihnen, um das Feld nicht der nativistischen Rechten zu überlassen.

Johann Aeschlimann / Infosperber