Einige vorläufige Überlegungen zu einem immer drängender werdenden Problem Die Linke und der Islam

Politik

10. Februar 2015

Was ist denn nun mit diesem Islam? Ist er nun „ein Teil Deutschlands“, oder keiner? Ist er schon in seinem Gründungstext so angelegt, dass nur bewaffneter Dschihad rauskommen kann, oder ist er die „Religion des Friedens“?

Pilger beim Bittgebet in Mekka, im Mittelgrund die Kaaba.
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Pilger beim Bittgebet in Mekka, im Mittelgrund die Kaaba. Foto: Ali Mansuri (CC BY-SA 2.5)

10. Februar 2015
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Und wie sollen wir uns als Linke positionieren, angesichts immer stärkerer politischer Ambitionen einiger Strömungen dieser Weltregion?

Die Wege, die uns angeboten werden, sind allesamt nicht sonderlich überzeugend. Die einen meinen, wir müssen uns nun, da auch wir als KommunistInnen und AnarchistInnen ein Kind von Aufklärung und Säkularismus sind, in die „westliche Wertegemeinschaft“ einreihen, die sich einige der in der Französischen Revolution geschichtsmächtig gewordenen Losungen auf die Fahnen schreibt. Andere wiederum interpretieren den blutigen Feldzug der Gotteskrieger als eine Art degenerierten „antiimperialistischen“ Widerstand, und meinen, man könne sich zumindest klammheimlich freuen, dass da jemand die Hegemonie der USA und ihrer örtlichen Vasallen in Frage stellt. Wieder andere setzen auf „Dialog“ und meinen, es könnten sich doch alle Seiten mal an einen Tisch setzen und einen auf Habermas machen, dann klappt das schon mit dem Nachbar-Sein. Zwischen diesen Seiten, meint man, solle auch die Linke wählen. Die Frage steht: „Wie halten wir's mit dem Islam?“

Die erste Antwort auf die so gestellte Frage muss lauten: Die Frage ist falsch. Wir können uns überhaupt nicht zu „dem Islam“ verhalten, denn der ist, wie alle Weltreligionen kein monolithischer Block. Der Islam beinhaltet unterschiedliche Strömungen, die sich keineswegs allein theologisch unterscheiden, sondern auch politisch. Aleviten in der Türkei*, die schiitische Hisbollah im Libanon und wahabitische Salafisten in Saudi-Arabien wird man nicht in einen Topf werfen können, weder theologisch, noch – was viel wichtiger ist – politisch. Zwischen beiden – theologischer und politischer Ausrichtung – besteht freilich ein enges Verhältnis. Mit einer wahabitischen Koranauslegung kannst du nicht für eine befreite Gesellschaft eintreten, es sei denn, du verwirfst deine religiösen Überzeugungen. Beides geht nicht zusammen.

Auf der anderen Seite der Skala gibt es alevitische Vereinigungen, die der revolutionären Linken nahestehen, es gibt schiitische KommunistInnen und es gibt – zugegeben in kleinerem Rahmen, aber doch, sunnitische Gruppen wie die „antikapitalistischen Muslime“ in der Türkei, die eine an die „Befreiungstheologie“ in Südamerika erinnernde Islamauslegung vertreten.

Die Frage, wie man sich „zum Islam“ verhalten will, setzt voraus, bestimmen zu können, was „der Islam“ ist. Der Islam ist aber, ganz im Unterschied zum Selbstverständnis vieler ihm Anhängenden, nicht die „absolute Wahrheit“, sondern eine ideologische Form, die sich ganz unterschiedlich ausprägt, je nachdem von welcher Community und in welcher Situation sie gerade gedacht, gepredigt, praktiziert und durchgesetzt wird.

Ideologie und Praxis

Schaun wir mal kurz, was so eine „Ideologie“ ist und wie sowas funktioniert. Wir leben in Wechselwirkungen mit der Natur, die wir uns denkend oder produzierend aneignen, und gesellschaftlichen Verhältnissen, die zwar menschengemacht sind, aber uns doch als etwas „Objektives“, Vergegenständlichtes gegenübertreten, das wir nicht einfach dadurch ändern können, das wir uns wünschen, es wäre anders. In der Auseinandersetzung mit dieser Welt machen wir uns Gedanken und bilden Überzeugungen darüber aus, wie diese Welt, in der wir uns bewegen, beschaffen ist. Ein System solcher Überzeugungen wird eine Weltanschaung, eine Ideologie.

Ob die nun gut oder schlecht ist, ist damit noch gar nicht gesagt. Gesagt ist damit nur: Sie entwächst aus unserem praktischen Verhältnis zur uns umgebenden Welt und entsteht nicht im „reinen Geist“ oder wird uns auch nicht „von Gott gebeben“.

Kommen wir zurück zum Islam, der uns beschäftigt. Koran und Hadithe sind von Menschen niedergeschrieben, letztere sogar auf äusserst chaotische Weise. Diese Menschen lebten unter konkreten historischen Umständen, die Gedanken, die sie sich über diese Umstände machten, weisen auf diese zurück. Die realen Kämpfe um Herrschaft, Macht, Wohlstand formen jene Fraktionen, die sich dann auch in theologischer Form artikulieren. Nehmen wir als Beispiel die Zeit des fünften Kalifen, Muʿāwiya (661 – 680). Mit ihm

kommt eine Dynastie aus einem einflussreichen mekkanischen Clan an die Macht, die zunächst Mohammed feindlich gegenüberstand, später aber aus eben jenen oben genannten Erwegungen den Islam annahm. Gegen diese Dynastie, die Umayya, regt sich dann Widerstand von Leuten, die diesen Clan nicht als Herrscher akzeptieren, das Ganze artikuliert sich dann theologisch und am Ende stehen theologisch unterschiedliche Schulen.

Kurz: Die Islamisten teilen eine Überzeugung mit ihren bürgerlichen KritikerInnen, nämlich die, dass die Religion das Primäre wäre, die eigentliche „Triebkraft“ in einem Kampf. Demgegenüber wollen wir erstmal festhalten, dass die Ideologie nicht das Erste und Letzte ist, sie ist selbst Resultat, auch wenn sie sich verselbständigen und relativ von ihrer realen Basis lösen kann.

Verschiedene Islamauslegungen

Ähnlich wie oben zur Frühzeit des Islam angemerkt, verhält es auch heute. Jede Islamauslegung ist die Gedankenleistung eines Menschen oder einer Community von Menschen. Koran und Hadithe interpretieren sich ja nicht, sie sind eine Sammlung mehr oder weniger zusammenhängender, einander oft widersprechender Sätze. Wäre das nicht so, bräuchte die islamische Tradition keine umfangreiche Literatur zur Frage der „Abrogation“, theologische Erörterung darüber, wann eine Koransure eine andere aufheben kann. Die Tragik jeder Religion, die ihre Autorität von einem „heiligen Buch“ bezieht, ist ja, dass es immer Menschen sind, die dieses Buch lesen, auslegen und seine Regeln anwenden, insofern masst sich zwar jede dieser Strömungen an, die zu sein, die Gott genauso versteht, wie er das Ding gemeint hat. Aber am Ende kommt er halt doch nie und sagt: Jo, ihr da, ihr habt's genau gecheckt, genauso wollt ich's gesagt haben.

Deshalb sind sowohl diejenigen, die sagen „Der Islam ist die Religion des Friedens“, wie auch diejenigen, die sagen „Der Islam ist die Religion des Dschihad“ im Unrecht. Er ist nichts davon – und beides zugleich. Je nachdem, welche Bewegung ihn sich aneignet. Sehen wir uns – stark vereinfacht und nur um einen Aspekt herauszuarbeiten – zwei Beispiele an.

Die wahabitischen und salafistischen Strömungen beruhen auf einer extrem strikten Auslegung des Tauhid, wie er in der 112. Sure, der al-Ichlās, dargelegt ist, die bekundet, dass Gott „ein Einziger“ ist und „nicht ihm gleich ist einer“. Aus dieser strengen Auslegung heraus (zusammen mit der wortwörtlichen Auslegung einiger Hadithe) kommen sie zu dem Ergebnis, dass etwa alle Schiiten „Abtrünnige“ sind, weil sie „Shirk“ betreiben, Vielgötterei. Abtrünnige darf man, in dieser Lesart des Koran und der Hadithe, töten.

Schauen wir uns eine andere (zugegeben wesentlich kleinere) Strömung an, die unter sunnitischen Muslimen in der Türkei entstanden ist, die „antikapitalistischen Muslime“. Sie argumentieren, dass jeder Prophet „Widerstand gegen das herrschende System seiner Zeit“ geleistet habe und lesen den Islam vor allem als eine “Recht, Gerechtigkeit, Freiheit und Geschwisterlichkeit” fördernde Religion. Aus der Religion ziehen sie auch ökonomische Konseqenzen. Ich erinnere mich noch gut an ihr Transparent während des Gezi-Aufstandes: „Eigentum gehört Allah“. Das mag für uns eigenartig klingen, hat aber eine erfreuliche Stossrichtung gegen Privateigentum und Kapital.

Wie wird der Dschihadismus Massenbewegung?

Wir sehen also: Der Koran und die Hadithe können ganz unterschiedlich ausgelegt werden, je nachdem welche soziale und politische Bewegung sich seiner bemächtigt. Schauen wir nun zu jener Islaminterpretation, die derzeit am meisten Furore macht und offenkundig die reaktionärste ist, die möglich ist.

Wir wollen uns nicht die Frage stellen, wie einzelne Gelehrte, Kleriker oder sonstige schrullige alte Männer auf die Idee kommen können, den Islam so auszulegen, wie es der „Islamische Staat“ oder die diversen Al-Qaida-Ableger tun. Wir wollen uns die Frage stellen, wie ein solches Theorem massenwirksam werden kann, was es ja offenbar in vielen Ländern des Maghrebs, Afrikas und des Mittleren Osten geworden ist. Diese Frage ist die eigentlich spannende. Denn das eine Handvoll schräger Typen die Idee entwickeln, man müsse jetzt alle „Abtrünnigen“ und Kufr umbringen, wäre ein Problem, um das sich PsychologInnen und PharmaherstellerInnen kümmern müssten. Dass allerdings hunderttausende Menschen – von Syrien bis Libyen, von Nigeria bis in den Irak – diese Ansichten teilen und nach ihnen handeln, noch mehr die neuen Herrscher zustimmend bis passiv akzeptieren, das ist ein tatsächlich politisches Problem.

Die erste Einsicht ist: Wir können dieses Phänomen nicht einfach pathologisieren. Wir müssen irgendwie verstehen: Welche Gedanken machen sich diese Leute, die dieser Bewegung anhängen und aus welcher „realen Basis“ erwachsen diese Gedanken. Wenn wir uns die Medien der Dschihadisten ansehen, können wir zuerst mal festhalten, wie sie ihre Taten rechtfertigen: Es gibt (neben all dem theologischen Zeug, über das wir ja schon gesprochen haben) kaum einen Account, auf dem kein Bild von Guantanamo oder Abu Ghraib ist. Es gibt immer wieder die Bemerkung: „Jetzt regt sich der Westen auf, aber schiitische Milizen (im Irak) haben genauso gemordet.“ Es gibt immer wieder den Verweis auf die diversen westlichen Angriffskriege auf Länder wie Afghanistan, den Irak usw. (weniger bis nie übrigens zu denen auf Libyen und Syrien) und auf die permanente Erniedrigung und Drangsalierung, die den Muslimen widerfahren seien. Es gibt häufig Bemerkungen über die Sykes-Picot-Grenzen. Kurz: Zumindest in der Selbstwahrnehmung reagieren die Islamisten auf die Verheerungen, die Länder wie die USA, Grossbritannien, Deutschland und Frankreich in der Region angerichtet haben.

Religion der Staatswerdung

Gut, sind diese Leute also antiimperialistische Freiheitskämpfer, wie das ein paar ganz auf Hardcore gepolte „Antiimps“ gerne haben wollen? Natürlich nicht, es ist traurig, dass man das überhaupt erwähnen muss. Ein „Antiimperialismus“, der das glaubt, ist kein Antiimperialismus, sondern schlichtweg schwachsinnig. Er handelt nicht in irgendeiner marxistischen, leninistischen oder anarchistischen Traditon, sondern nach dem simplen Kindergartenmerksatz „Der Feind meines Feindes ist mein Freund (oder zumindest nützlich)“.

Festzustellen, dass Kolonialismus und Imperialismus, politische, militärische und ökonomische Verheerungen, die durch die entwickelten kapitalistischen Länder in den hier zu diskutierenden Regionen angerichtet wurden, eine entscheidende Rolle für die Entstehung reaktionärer dschihadistischer Bewegungen spielen, ist etwas anderes, als reaktionäre Milizen als Bündnispartner im Kampf gegen den eigenen Imperialismus zu sehen.

Die betroffenen Regionen sind in hohem Ausmass barbarisiert, Armut, völlige Perspektivlosigkeit und vor allem extreme Gewalterfahrungen gehören zu den Biographien der Menschen, die dort leben. Die Staaten, in denen der Dschihadismus wirklich stark ist – Libyen, Syrien, Irak, Nigeria, Somalia usw. – sind Failed States. In ihnen gibt staatliche Mechanismen nicht mehr, der Alltag ist geprägt von Verteilungskämpfen zwischen Milizen, die um Herrschaft über Territorien, Ressourcen und Menschen konkurrieren.

Die Dschihadisten, zumindest der „Islamische Staat“, treten in dieser Region als eine Bewegung an, die eine erneute Staatswerdung unter dem Titel des „Kalifats“ durchsetzen. Das war übrigens schon historisch eine der Funktionen des Islam, der sich gegen die vereinzelten Stämme und Clans durchsetzte und „ein Gemeinwesen, das bis zu einem gewissen Grad die wesentlichen Kennzeichen eines Staates erlangt hatte“, schuf, wie der Islam-Forscher Fred M. Donner nachwies.

Man kann sich leicht vorstellen, wie bestimmte Glaubenssätze des Islam genau diese Funktion übernehmen. Der von Islamhassern so gern zitierte „Schwertvers“ in der 9. Sure zeugt von dieser Zeit der Auseinandersetzung mit rivalisierenden Stämmen und Communities. Der Vers sagt, dass jene „Ungläubigen“, die keine Verträge mit den islamischen Herren haben oder sich feindlich verhalten, getötet werden sollen, ausser sie unterwerfen sich: „Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Zakat (eine Steuer) geben, dann lasst sie ihres Weges ziehen.“

Der Preis der Ordnung

Heute übernimmt der Islam in einigen Failed States der Peripherie eine ähnliche Funktion. Er verspricht – übrigens mancherorts in Koalitionen mit anderen Bewegungen, die ideologisch eigentlich woanders stehen, wie etwa mit den Baathisten in Mossul – den Leuten in den kaputten Staaten die Wiederherstellung einer „Ordnung“. Das „Kalifat“, sagt der „Islamische Staat“, macht einen Deal mit den Menschen in seinem Herrschaftsgebiet: Ihr unterwerft euch voll und ganz unserer ideologischen, ökonomischen und politischen Herrschaft, und wir garantieren euch dann Sicherheit und Ordnung.

Der “Preis” dieser Ordnung ist uns allen bekannt. Der Staatswerdungsprozess vollzieht sich in der für derlei Prozesse charakteristischen Brutalität. Der Nachsatz des Versprechens des IS ist: „Wenn ihr euch nicht unterwerft, bringen wir euch um.“ Die mörderische Brutalität des Islamischen Staates (der uns hier als anschaulichstes Beispiel dienen kann, weil er es mehr als jede geistesverwandte Terroristenmiliz geschafft hat, sich zu verstetigen und ein tatsächlicher Machtfaktor zu werden) ist so zu verstehen als der Versuch, ein „homogenes“ Staatsvolk zu erschaffen. Dieser Prozess ist nach „innen“, in den sunnitischen Gebieten, charakterisiert durch den Mord an Abweichlern, nach „aussen“ durch einen aggressiven Expansionismus in alawitische, kurdische, jesidische und schiitische Gebiete.

Keine Projektionsflächen

Bleiben wir zunächst in Syrien, im Irak und den anderen Failed States. Die Bilder, die wir von vor Ort bekommen, schüren in jedem von uns das Bedürfnis das, was dort geschieht zu unterbinden. Massenhafte Erschiessungen von Gefangenen, Enthauptungen, der Verkauf gefangener Frauen in die Sklaverei, ein Strafsystem, das drakonische Strafen wie das Abhacken von Gliedmassen vorsieht. Hunderttausende Menschen aus ihren Häusern und aus ihrer Heimat vertrieben, auf der Flucht vor einer Miliz, die offenkundig kaum Grenzen bei der Drangsalierung der Zivilbevölkerung kennt.

Nun entsteht folgendes Problem: Der eigentliche Kampf gegen diese Miliz passiert nicht in Deutschland. Wir können Erklärungen schreiben, hin und wieder eine Demonstration machen, aber wir fühlen, dass das nicht genug ist. Aus der Differenz zwischen de Bedürfnis die Gewalt der Islamisten zu beenden und der eigenen Machtlosigkeit entsteht der Wunsch, einen Stellvertreter zu finden, der's denen da mal so richtig zeigt. Man sucht sich Projektionsflächen, unterstützt alles und jeden, solange es gegen die Dschihadisten geht und freut sich nun über die Luftschläge der internationalen Koalition oder deutsche Waffenlieferungen an die Peschmerga im Nordirak.

Die Suche nach einer Projektionsfläche, einen starken Stellvertreter, an den man das eigene Bedürfnis, etwas zu tun, auslagern kann, führt schnell in den politischen Abgrund. Denn es ist keine Schrulle der alten Friedensbewegung, zu meinen, dass die regionalen Feldzüge westlicher imperialistischer Staaten nicht unmassgeblich zum Entstehen des heutigen Dschihadismus beigetragen haben, es ist eine simple Tatsache – und das auf vielen Ebenen.

Mit dem Imperialismus gegen Barbarei?

Wie entsteht eine Radikalisierung, die so weit führt, dass am Ende jemand steht, der sich einer so offenkundig inhumanen Miliz wie dem Islamischen Staat anschliesst? Macht doch mal den Selbstversuch. Seht euch den Film „5 Jahre Leben“ an, in dem es um die Folterung des von BND und CIA entführten Murat Kurnaz in Guantanamo geht. Er wird psychisch erniedrigt, physisch verletzt, gedemütigt, immer und immer wieder, von einem Feind, der ihn in eine Situation gebracht hat, in der er sich überhaupt nicht mehr wehren kann. Seht euch den „Verhörspezialisten“ an, wie er mit dem gefangenen Opfer spielt, ihn immer und immer wieder zu brechen versucht.

Der Film ist keine Fiktion. Er beruht auf Tatsachen. Genauso wie das jüngst erschienene Guantanamo-Tagebuch des dort immer noch einsitzenden Mohamedou Ould Slahi. Die Bilder aus Abu Ghraib, sie sind keine Fiktion, CIA-Geheimgefängnisse sind keine Fiktion.

Dazu kommt: Die ideologischen Wurzeln des neueren Dschihadismus gehen auf eine Zeit zurück, in der der Westen den sunnitischen Dschihadismus, vor allem über seinen Partner Saudi-Arabien förderte und unterstützte, und zwar in Afghanistan, weil damals waren ja noch die bösen Sowjets der Hauptfeind, gegen den man alles andere zu unterstützen hatte. Säkulare Regierungen in Afghanistan, aber auch zuvor im Iran wurden gewaltsam beseitigt, weil sie sich gegen US-Interessen in der Region stellten. Kriege im Irak oder Libyen schufen die Basis, auf der der Dschihadismus wachsen konnte.

Wer sich hinter fortgesetzte Militärinterventionen des Westens stellt, egal wie sie begründet werden, will im Grunde die Fortsetzung der Spirale der Barbarisierung. Denn jeder Luftschlag, jede Drohnenattacke reproduziert mehr Dschihadisten, als dadurch ausgeschaltet werden. Auch die jüngsten Luftanngriffe führen, wie immer, eine Anzahl an Kollateralschäden herbei, sie festigen in den betroffenen Gebieten den Rückhalt des IS in der Bevölkerung anstatt ihn zu schwächen.

Kalifat oder Demokratischer Konföderalismus

Zu meinen, eine der diversen Milizen – von Peschmerga über Badr-Milizen, irakische Regierung oder FSA – oder die westliche Wertegemeinschaft seien das Pferd, auf das man zu setzen habe, will man den IS schlagen, ist also Blödsinn. Anders ist das nur bei einer der rivalisierenden Gruppen. Augenscheinlich ist – trotz aller Schwierigkeiten – die Fraktion, die da für die deutsche Linke am ehesten in Frage kommt, die der Kurdinnen und Kurden. Die in PKK, PYD, YPG und YPJ organisierten AktivistInnen sind die einzigen, die zumindest in der Theorie ein politisches Konzept auweisen können, das für die gesamte Region, nicht nur für sie selbst, einen Lösungsansatz darstellen könnte: Der demokratische Konföderalismus.

Diese in der PKK entwickelte Theorie gibt auf dieselbe soziale Situation der Failed States, auf die der IS mit seinem Kalifat antwortet (siehe Teil 1), eine völlig andere Antwort. „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhaltet das Recht auf einen eigenen Staat. Jedoch vergrössert die Gründung eines Staates nicht das Mass der Freiheit eines Volkes. Das auf Nationalstaaten basierende System der Vereinten Nationen ist ineffizient geblieben. Mittlerweile sind Nationalstaaten zu ernsthaften Hindernissen für jegliche gesellschaftliche Entwicklung geworden. Der Demokratische Konföderalismus ist das Gegenparadigma des unterdrückten Volkes.

Der Demokratische Konföderalismus ist ein nichtstaatliches gesellschaftliches Paradigma. Er wird nicht staatlich kontrolliert. Zugleich ist er der kulturell-organisatorische Entwurf einer demokratischen Nation. Demokratischer Konföderalismus basiert auf der Mitwirkung der Basis. Seine Entscheidungsfindungsprozesse liegen bei den Gemeinschaften. Höhere Ebenen dienen nur der Koordination und Umsetzung des Willens der Gemeinschaften, die ihre Delegierten zu den Vollversammlungen schicken. Für einen begrenzten Zeitraum sind sie sowohl Sprachrohr als auch ausführendes Organ. Jedoch liegt die grundlegende Entscheidungsgewalt bei den lokalen Basisorganisationen“, umreisst Abdullah Öcalan dieses Konzept.

Und weiter: „Die widersprüchliche Zusammensetzung der Gesellschaft erfordert politische Gruppen mit vertikalen wie auch horizontalen Formationen. Zentrale, regionale und lokale Gruppen sind auf diese Weise auszubalancieren. Nur sie sind, jede für sich selbst, in der Lage, sich mit ihrer besonderen konkreten Situation zu befassen und angemessene Lösungen für schwerwiegende gesellschaftliche Probleme zu entwickeln.“

Es ist unschwer zu sehen, dass dieser Vorschlag auf die gleiche gesellschaftliche Situation antwortet, auf die auch der Islamische Staat antwortet – nur eben auf fundamental andere Art und Weise. An die Stelle des brutalen Vereinheitlichungsprozesses des zukünftigen Staatsvolks auf der Grundlage einer salafistischen Auslegung des Islam, tritt der Vorschlag eines kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede in einem Willensbildungsprozess zusammenfassenden „nichtstaatlichen“ Gebildes.

Exkurs: Solidarität und Kritik

Hat man diese Einschätzung, dann stellt sich die Frage, wie die Solidarität aus Deutschland aussehen könnte, die wir der kurdischen Befreiungsbewegung entgegenbringen wollen. Da sind in den vergangenen Wochen und Monaten schon viele Schritte getan worden, die nicht schlecht sind. Verschiedene Initiativen haben tatsächlich nicht bloss symbolische Geldsummen gesammelt und an die FreundInnen in Rojava überwiesen. Auch ideologisch ist einiges an Aufklräungsarbeit geschehen und eine früher gängige Aversion gegen die PKK in Teilen der deutschen Linken aufgebrochen worden. Es gab gute Reportagen, Leute waren vor Ort und haben die Situation hierzulande bekannt gemacht, eine nicht zu unterschätzende Leistung.

Was wir noch nicht zustande gebracht haben, ist die nächste Stufe der Unterstützung, die – soweit bekannt – nur die türkische Linke (in Zusammenarbeit mit Einzelpersonen aus anderen Ländern) erklommen hat: Das Aufstellen einer internationalen Kampfformation. Sicherlich, das erscheint aus der hiesigen Perspektive als zu krass, die Anzahl der dafür trainierten und dazu willigen Leute dürfte nicht allzu gross sein. Nichtsdestotrotz: Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt und man muss nicht allzu viel Phantasie haben, um sich vorstellen zu können, dass das in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sicher immer wichtiger werden wird. Auch in Deutschland kann man hier auf eine Tradition von wenigen, aber dafür äusserst couragierten AktivistInnen zurückschauen, man erinnere sich nur an Andrea Wolf.

Gleichzeitig mit dem Ausbau materieller Solidarität muss etwas anderes bedacht werden: Solidarität ist kein Kadavergehorsam, sie schliesst Kritik notwendig mit ein, da, wo sie nötig ist. Und das heisst auch, dass wir Tendenzen innerhalb der kurdischen Bewegung kritisieren müssen, die uns als falsch erscheinen. Dafür gibt es eine Reihe an Beispielen, etwa die immer wieder auftauchende Verkürzung des eigenen politischen Projekts des Demokratischen Konföderalismus auf ein krudes „Wir sind Kurden, Araber und Türken sind scheisse“, wie es in nicht allzu kleinen Teilen der Basis der Bewegung zu finden ist. Hier gilt es, die Bewegung an ihr eigenes theoretisches Konzept zu erinnern.

Solidarität muss auch wissen, womit sie es zu tun hat. Die kurdische Bewegung ist in grossem Ausmass in sich widersprüchlich. Sie vereint sozialistische, anarchistische und antiimperialistische genauso wie nationalistische und bürgerlich-demokratische Elemente. Es ist deshalb umso wichtiger, in Publikationen, in Gesprächen mit den GenossInnen, in der praktischen Solidaritätsarbeit hier die eigenen linken Standpunkte einzubringen und auch mal zu sagen, wenn einem nicht passt, was der Chef in Imrali verkündet. Das bedeutet nicht den Abbruch der Solidarität, sondern den Beginn wirklicher, kritischer Solidarität.*

Exkurs zum Exkurs: Unterstützung vom Feind

Einige mögen einwenden: Widersprecht ihr euch da nicht? Einerseits Ablehnung der US-Intervention, andererseits Unterstützung der Kurden, die ja genau diese US-Intervention begrüssten? Nun, nein, eigentlich nicht. Die USA (und die anderen versammelten Regionalmächte von Jordanien über Saudi-Arabien bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten) intervenieren nicht „für die Kurden“. Sie intervenieren, wie jeder Staat zu jeder Zeit, für ihre eigenen materiellen Interessen. Das kann, gleichsam als Nebenwirkung, zeitweise dem kurdischen Kampf nutzen, und warum sollte man nicht die Widersprüche des Imperialismus ausnutzen. Kein geringerer als Lenin hat den Grundstein für diese politische Strategie gelegt, insofern wird das schon ok sein so.

Dazu hat der Popstar des Marxismus-Leninismus, Dietmar Dath, eigentlich alles, was zu sagen ist, kürzlich anlässlich des 90. Todestags von Lenin in der jungen Welt aufgeschrieben: „Drittens ist Lenin bis heute unübertroffen in der schwierigen, aber wertvollen Kunst, Widersprüche im feindlichen Lager zu erkennen und sofort zu nutzen. Hat er wirklich Geld vom deutschen Kaiser genommen, vermittelt über Parvus? Vielleicht nicht, es riecht nach Propaganda. Logistisch aber war zumindest eine wichtige Eisenbahnfahrt ein deutsches Geschenk.

Den ewigen Freunden der Reinheit zuliebe, die es in umstürzlerischen Bewegungen immer wieder gibt, hätte er das eigentlich nicht annehmen dürfen. Wenn aber Putin ein paar Nüsschen springen liesse, um Obama Ungelegenheiten zu bereiten, soll das kommunistische Eichhörnchen die nicht nehmen? Und wenn Obama ein Forum – nicht nur einen Horchposten – spendieren würde, um einige unter Merkel ausgeheckte Europasauereien öffentlich zu machen, soll man das verschmähen? Weshalb? Weil solche Hilfe von aussen bei Spiegel online ausgeschlachtet würde und man in nationalen Verruf käme? Drauf gepfiffen. Nein, ernsthaft, man soll nicht mit der antiimperialistischen Sammelbüchse in der Hand iranische Gegenden bereisen, das überlasse man dem verrückten Herrn Elsässer.

Aber was Lenin mit dem angeblichen deutschen Wohlwollen schliesslich anstellte, hat ihm und dem Staat, den er mit schuf, jede deutsche Zuneigung rasch so gründlich verscherzt, dass der deutsche Imperialismus gut 15 Jahre nach Lenins Tod die grauenhafteste Militärmacht der jüngeren Geschichte nach Osten schickte, die dort dann so gründlich verdroschen wurde, dass man den Lärm noch heute hören kann, wenn man sich nicht gerade von Guido Knopp die Ohren hat zuschmieren lassen.

Unterstützung von Feinden gegen Feinde annehmen? Warum nicht, aber die schöne Leninsche Regel dazu nie vergessen: Tu mit den Mitteln, die du dir verschaffen kannst, das, was du gesagt hast, und sage dabei deutlich, was du tust.“ Die kurdische Bewegung bekommt derzeit unzweifelhaft Unterstützung vom Feind, von ihrem und von unserem. Messen werden wir sie und sie sich daran müssen, was sie mit dieser Unterstützung anfängt.

Der Hauptfeind im eigenen Land

Zurück zum Thema. Neben der Unterstützung für die kurdische Bewegung in Rojava können wir uns ob der geographischen Distanz daran erinnern, dass unser Land und seine westlichen Verbündeten nicht unmassgeblich zu der Situation im Irak, Syrien, Libyen und anderen Regionen beitragen, auf die der Dschihadismus reagiert.

Das betrifft zunächst die Frage von Waffenexporten. Es ist ein altes Thema der Linken, das aber nach wie vor aktuell ist. Deutschland liegt weltweit an dritter Stelle bei Waffenexporten. Dazu kommen Lizenzfertigungen von Rüstungsgütern, wie etwa die von Heckler&Koch in Saudi-Arabien. Neben den Waffenexporten gilt es die politische, militärische und polizeiliche Unterstützung von terrorfördernden Staaten wie Saudi-Arabien und der Türkei generell anzugreifen. Die Beziehungen, die Deutschland zum NATO-Partner Türkei unterhält sind vielschichtig und tief, auch zu Saudi-Arabien bestehen „freundschaftliche und spannungsfreie“ Beziehungen, wie das Aussenamt formuliert. Saudi-Arabien ist der Hauptexporteur genau jener Ideologie, die den Islamischen Staat und Al Qaida antreibt, und greift selbst gerne auf Strafen wie Enthauptungen und Auspeitschungen zurück.

Hier gibt es einiges zu tun. Es gilt ein öffentliches Bewusstsein für diese Kooperationen zu schaffen und sie auf allen möglichen Ebenen anzugreifen. Das alte Wort Karl Liebknechts vom „Hauptfeind im eigenen Land“ ist hier immer noch gültig, auch wenn es heute wahrscheinlich ausgeweitet muss, auf die BündnispartnerInnen des eigenen Landes, vor allem die USA, Grossbritannien und Frankreich sowie die NATO in ihrer Gesamtheit.

Peter Schaber / lcm

Anmerkung

*Ob und inwiefern das Alevitentum zum Islam gezählt wird, ist unter den Aleviten selbst umstritten.