Ein Reisebericht Das Erbe Halim Deners

Politik

23. Juni 2014

In Hannover gedachten etwa 1.000 DemonstrantInnen dem 1994 von einem deutschen Bullen ermordeten kurdischen Aktivisten Halim Dener. Das Demo-Konzept war nahezu perfekt.

Demonstration in Hannover zu Gedenken an Halim Dener.
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Demonstration in Hannover zu Gedenken an Halim Dener. Foto: LCM

23. Juni 2014
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Die Geschichte Halim Deners, jenes 16-jährigen Kurden, der 1994 am Hannoveraner Steintor beim Plakatieren von zwei SEK-Beamten in zivil ertappt und erschossen wurde (aus 15 cm Entfernung in den Rücken), ist nämlich keine Angelegenheit für Historiker. In der Biographie Halim Deners kommen verschiedene Stränge deutscher (und türkischer) Aussen- und Innenpolitik zum Ausdruck, die heute genauso wie damals bestehen und es verdienen, angegriffen zu werden.

Halim Deners Biographie erzählt die Geschichte jenes blutigen Krieges, den die türkische Regierung seit Jahrzehnten – mit massiver Unterstützung halim4aus Deutschland und den USA – gegen die kurdische Befreiungsbewegung führt. Sie erzählt die Geschichte von Vertreibung, Folter, Knast und Flucht aus der Türkei. Sie erzählt die Geschichte der – bis heute fortdauernden – Kollaboration sämtlicher deutscher Regierungen mit den “Partnern” in Ankara zur Kriminalisierung der politischen Opposition in der Türkei, durch PKK-Verbot, Auslieferungen, Geheimdienstzusammenarbeit, Waffenlieferungen. Und sie erzählt die Geschichte von strafloser Bullengewalt, von Mord in Uniform, dieselbe Geschichte, die sich auch bei Oury Jalloh, bei Deniz Jockel und so vielen anderen seitdem wiederholt hat.

Nun gut, das Demokonzept – und die Vorbereitungsveranstaltungen auch in Berlin – waren überzeugend, und so haben wir uns gestern zusammen mit etwa 30 anderen zumeist aus kurdischen oder autonomen Zusammenhängen kommenden Jugendlichen von Berlin aus nach Hannover aufgemacht.

Überall Bullen

Der Tag beginnt so früh, wie ein Samstag eigentlich grundsätzlich nicht beginnen dürfte, lebten wir im Kommunismus. Ausgestattet mit Low-Budget-Wochenendtickets, Käsebrötchen und Zeitungen (konkret, junge Welt, BILD), fahren wir durch die Pampa, vorbei an verfallener Industrie und saftig grünen Wäldern zuerst nach Magdeburg. Dort, noch im Halbschlaf, trauen wir unseren verschlafenen Augen kaum: Am gegenüberliegenden Gleis stehen Christian Worch und etwa 40 Neonazis. Zwei, drei Leute wechseln den Bahnsteig, um den nationalen AktivistInnen, die nur von einer Hand voll Cops abgeschirmt werden, eine Grussbotschaft zu überbringen, was die wiederum so verwirrt, dass einer ohne jegliche Fremdeinwirkung umfällt und die anderen nach mehr Polizei rufen. Nach der Episode geht´s weiter, über Halberstadt nach Hannover.

Dort angekommen, fängt der Stress an. Wir hatten mit Bullen gerechnet, mit vielen sogar, aber was nun kam, war schlichtweg absurd. Der Bahnsteig war voll mit Bundespolizei, die sofort begann, die DemonstrantInnen von den “normalen” Fahrgästen abzusondern und durch eine Auffahrtsrampe ins Kellergeschoss des Bahnhofs zu schleusen. Dort, umzingelt von dutzenden Bundesbullen in Montur, erging die Aufforderung an uns, uns jetzt einzeln einer Leibesvisitation zu unterziehen, jene AktivistInnen, die sich weigerten freiwillig mitzukommen, wurden gezwungen. “Wir erwarten eine besondere Gefährdungslage. Das rechtfertigt diese Massnahme”, war die einzige Auskunft, die wir bekamen, auf einen Anwalt durften wir nicht warten.

Durchsucht und genervt ging es etwa eine Stunde später weiter in Richtung Startplatz, auf dem Weg dorthin versuchten die sichtlich übermotivierten Beamten dann kleinere Gruppen erneut zu durchsuchen, manche sogar dreimal. Zwei GenossInnen wurden wegen einer Sonnenbrille (!) und Handschuhen (!) kurzfristig in die Polizeistation verbracht. Das ganze Szenario zeigte: Wenn migrantische Linke und hiesige Gruppen zusammenarbeiten, sieht das die Polizei besonders ungern und versucht, zu schikanieren, wo es nur geht.

Kraftvoller Anfang, müde Demo

Am Startplatz angelangt, bot sich ein tolles Bild: Selten gelingt eine deratig gute “Mischung” der Demonstration. Refugees waren da, bewegungslinke Gruppen aus dem IL-Spektrum, AnarchistInnen, Autonome, KommunistInnen, KurdInnen, TürkInnen. Zeigen im Normalfall deutsche Linke wenig Interesse an kurdischen Demonstrationen und umgekehrt, die kurdische Bewegung kaum Interesse an den Veranstaltungen der deutschen Linken, war das hier anders. Es war tatsächlich eine gemeinsame Demonstration, bei der die verschiedenen Themenfelder nicht eklektisch zusammengewürfelt, sondern durch die Geschichte Halim Deners tatsächlich verbunden waren.

Kurz vor Beginn kam eine Spontandemonstration jener, die die Polizei am Bahnhof und in der Stadt festgehalten hatte an, die Stimmung war gut, Parolen, Transparente und Fahnen machten das ganze bunt und irgendwie auch schön. Was dann allerdings begann, war ein Trauerspiel. Startete das ganze noch einigermassen dynamisch, war aber spätestens ab der Hälfte der Demo die Luft raus. Und nicht ohne Grund: Gut 80 Prozent der Demostrecke führten durch wenig bis gar nicht bevölkertes Gebiet, an Bahngleisen und leeren Bürogebäuden entlang, irgendwo durchs Nirgendwo. Die zwar guten, aber sich ob der enormen Anzahl extrem häufig wiederholenden Redebeiträge konnten ihre Wirkung kaum entfalten, denn zu informierende Zuhörer waren weit und breit nicht zu sehen.

Dazu kam, der per Lautsprecher verkündete Deal: Ab 16:45 lässt uns die Polizei in die Nähe des riesigen auf dem Steintorplatz stattfindenden Musikfestivals, dafür müssen wir aber die restlichen Stunden durch diese Einöde latschen, und das bitte so langsam, dass wir da nicht vor 16:45 ankommen. Das Tempo der Demonstration war dementsprechend über weite Strecken irgendwo zwischen Wachkoma und der türkischen Aktionsform des Duran Adam, des stehenden Mannes.

Anstrengend waren auch die OrdnerInnen, die offenkundig die Aufgabe hatten, ihrem Namen wirklich aufs Penibelste gerecht zu werden. Lief man ausser der Reihe, wurde man darauf hingewiesen, man möge sich doch bitte wieder einreihen. Ein Demonstrant bekam auf Nachfrage die Antwort: “Na, wenn ihr hier überall durch die Wiese lauft, dürfen wir so eine Demonstration nicht mehr machen.” Der Widerspruch zwischen der Solidarität mit einer kämpfenden Bewegung und dem Bedürfnis sich möglichst an das mit den hiesigen Autoritäten Ausgemachte zu halten, war augenscheinlich.

Gelungene Grenzüberschreitung

Je näher wir an das Steintor kamen, desto eher sah man Menschen, die an der Demonstration vorbeiliefen. Solidaritätsbekundungen kurdischer PassantInnen waren zu sehen, ungläubiges Staunen der Partygäste auf dem Platz ebenso, offene Anfeindungen konnten zumindest wir nicht beobachten.

Am Steintor, dem Tatort des Polizeimordes, dann, als wir schon jede Hoffnung auf irgendeine Form von Ungehorsam aufgegeben hatten, die Überraschung. Vermummte AktivistInnen hissten Fahnen der verbotenen Eniya Rizgariya Neteweyî ya Kurdistanê, kurz ERNK, einer Teilorganisation der ebenfalls verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Nicht eine, sondern gleich viele Fahnen, ein schönes Bild und ein kalkulierter Verstoss gegen die Vorgaben des Mörderstaates Deutschland. Eine wohlüberlegte Sache, genau am richtigen Ort. Hätte die Polizei hier eskaliert, in der Nähe einer Musikgrossveranstaltung, wäre die Situation für die Einsatzkräfte schwer kalkulierbar gewesen.

Die Rechnung ging auch auf, einen grösseren Angriff der Bullen konnten zumindest wir nicht mehr beobachten, auch keine Verhaftungen. Die Aktion hatte vieles für sich. Es muss ja nicht immer ein Riot sein. Ist man in der Lage, eine Situation zu schaffen, in der die staatlichen Autoritäten den Preis für das Eingreifen nicht mehr zahlen wollen, hat man auch gewonnen. In diesem Fall wurde gegen zwei Vorgaben, das Verbot des Zeigens der Flaggen und das Vermummungsverbot, verstossen und die Demo hat sich damit durchgesetzt.

Erfolg mit (allerdings leichtem) Nebengeschmack

Insgesamt ist die Demonstration deshalb durchaus als Erfolg zu frontiblockiwerten. Das inhaltliche Konzept war gut überlegt. Es ist gelungen, Gruppen näher zusammenzuführen, die ansonsten eher unverbunden nebeneinander existieren. Es gab eine Grenzüberschreitung, für die wir (soweit wir beobachtet haben) nicht mit Verletzten und Verhaftungen bezahlen mussten, weil die Demo stark genug war, dass auch die Bullen die Eskalation nicht für angemessen hielten. Nicht unbedingt notwendig war die sterbenslangweilige Route im Faultiertempo sowie das Verhalten (mancher) OrdnerInnen (wobei die wahrscheinlich auch nur gemacht haben, was man eben vorher abgesprochen hatte, weswegen wohl eher diese Absprachen zu kritisieren wären).

Alles in allem ist zu hoffen, dass die durch diese Demo forcierte Annäherung von Gruppen mit verschiedenen Zielsetzungen und Schwerpunkten fortgeführt wird. Die deutsche Linke etwa hat, wenn sie endlich von dem längst nicht mehr zutreffenden (wenn es je zutraf, was zu bezweifeln ist) Vorurteil abliesse, es handle sich bei den KurdInnen um “NationalistInnen” viel von der PKK zu lernen. Das Konzept des “demokratischen Konföderalismus” als einer Art Rätedemokratie zur Überwindung und Abschaffung nationaler Grenzen ist jedenfalls diskussionswürdig. Ebenfalls die enormen Fortschritte zur Gleichberechtigung von Frauen, die durch die Guerilla mittlerweile erzielt wurden – und das in einem wesentlich schwierigeren Umfeld als hierzulande. Die KurdInnen hierzulande könnten aber auch von dieser Verbindung profitieren, indem sie sich stärker in politische Fragen hierzulande einbringen. Die Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen des Kampfes könnte das Erbe sein, das uns Halim Dener hinterlassen hat. Ein Gedenken an ihn, kann nur bedeuten, da weiterzumachen.

Peter Schaber / lcm