Die Verfolgung und Ermordung Hanns Martin Schleyers als Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland Und Ödipus tötete Kain

Politik

6. Juni 2020

G.W.F. Hegel über »Antigone«, das »absolute Exempel« der Tragödie: »... und der Sinn der ewigen Gerechtigkeit ist, dass beide« (Antigone und Kreon) »Unrecht haben, weil sie einseitig sind, damit aber auch beide Recht ... und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe in Schuld geraten«.

Nach der Entführung wurde Schleyer im Hochhaus Zum Renngraben 8 in Erftstadt-Liblar gefangen gehalten..
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Nach der Entführung wurde Schleyer im Hochhaus Zum Renngraben 8 in Erftstadt-Liblar gefangen gehalten.. Foto: HOWI - Horsch, Willy (CC BY 3.0 unported - cropped)

6. Juni 2020
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Korrektur

I.

Die Ermordung des ehemaligen hohen SS-Mannes bundesrepublikanischen Wirtschaftsführers Hanns Martin Schleyer im Jahre 1977 ist das Gründungsverbrechen der Bundesrepublik Deutschland.

Als quasireligiöser, biblisch-archaisch anmutender Akt der Opferung eines Mannes, der zum prominentesten Symbol der Auseinandersetzung zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration wurde, stellte dieser Mord im Zeitalter der Massenkommunikation - und der durch sie bewirkten Verbindlichkeit eines gesellschaftlichen Vorgangs für alle ihre Mitglieder - die unentrinnbare Versöhnung der Kriegs-Eltern mit den Nachkriegs-Kindern dar, überbrückte dieses gemeinsame Todes-Opfer beider Generationen die Kluft zwischen ihnen, war dieser voneinander abhängig und gemeinsam begangene Akt ihr Generationenvertrag - und damit die seit 1949 erstmalig gegebene Voraussetzung zur Bildung einer Nation.

II.

Im Verlauf der weltweiten Studentenbewegung der 60er Jahre wurde an den Aktionen des politisch bewussten Teils der Nachkriegsgeneration deutlich, dass sich ein Riss durch die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zog, stärker als in allen vergleichbaren Ländern. Die Kriegsgeneration, die die politische und gesellschaftliche Macht inne hatte, verdrängte oder leugnete ihre Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen - was die Nachkriegsgeneration nicht hinzunehmen bereit war. Ein unüberbrückbarer Graben trennte Eltern von ihren Kindern, die vergeblich Aufklärung über und Sühne für das Vergangene einforderten und deshalb umso angestrengter eiferten, gegenüber den moralisch diskreditierten Eltern selbst moralisch integer zu handeln. Eine Versöhnung der beiden Seiten schien mehr als ein herkömmlicher »Generationenkonflikt« unmöglich zu machen; die Väter riefen den Staat zu Hilfe und vertieften so die Kluft.

Kristallisationspunkte dieses Konflikts waren innenpolitisch die Notstandsgesetze, aussenpolitisch der Vietnamkrieg, und damit eine Internationalisierung, die der sich auflehnenden Jugend den Weg aus dem Dilemma zu weisen schien. Der nationale Gedanke, ein- für allemal durch den Nationalsozialismus diskreditiert, konnte nur noch abgelöst werden durch den - wirtschaftlich auch schon damals längst gegebenen - Gedanken globaler Einheit einer Weltgesellschaft. Ziel, Perspektive und Zukunft war die Auflösung der Nation.

III.

Nach dem Zerfall dieser streckenweise massenhaften Revolte und der sukzessiven Integration vieler ihrer Träger in die zuvor bekämpfte Gesellschaft blieb von dem Versuch, die Verstrickung der Elterngeneration in die Verbrechen der Nazizeit und deren anschliessende Verdrängung nicht zu wiederholen, nur noch der verzweifelte Anspruch in den Köpfen einiger weniger.

Umgekehrt proportional zu ihrer Mitgliederzahl wuchs die Kompromisslosigkeit, und sie glaubten dazu berechtigt, ja verpflichtet zu sein, den drohenden Verlust der Maxime des weltweiten Aufbruchs - und damit den erneuten Sieg von Verdrängung, Lüge und Vergessen - nur dadurch abwenden zu können, dass sie vom begrenzten Regelverstoss zum aussergesetzlichen, bewaffneten Widerstand übergingen. Quasi als selbsternannte Auslandsabteilung des Vietcong bombardierte die »Rote Armee Fraktion« 1972 Computer in Frankfurt und Heidelberg, die Angriffsziele in Nordvietnam berechnet hatten, und tötete dabei amerikanische Soldaten.

Die Ursache für die extreme Radikalität dieser Denk- und Handlungsweise - die Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen durch die Nachkriegsgesellschaft -, wurde nun in der unseligen Tradition der Selbstgewissheit und Unfehlbarkeit selbst zum Gegenstand der Verdrängung: nicht das mögliche Missverständnis einer vielleicht unzutreffenden Analogie wurde diskutiert, nicht diese Explosion zum Anlass genommen, versäumte gesellschaftliche Prozesse nachzuholen, nicht etwa die beschriebenen politischen und moralischen Beweggründe zum Gegenstand der Beurteilung und der gesellschaftlichen Diskussion gemacht, sondern die panische und mit allen Mitteln der Massenmanipulation und des gesellschaftlichen, sozialen Drucks durchgesetzte Rezeption der RAF als einer Gruppe allenfalls psychologisch zu begreifender durchgeknallter Bürgerkinder.

Erschiessungen zahlreicher Unschuldiger bei der Fahndung, rechtsstaatliche Prinzipien verhöhnende Prozessführung gegen die schnell dingfest gemachten Attentäter, ein gesellschaftliches Klima von Angst, Denunziation und Distanzierung schienen für ein schnelles Ende des Spuks zu sorgen, aber genau deshalb und dagegen erschien 1977 mit naturgesetzartiger Zwangsläufigkeit die nächste »Generation« auf der Bühne des Gerechtigkeitstheaters und erklärte sich berechtigt und verpflichtet, diese inzwischen zwiefache gesellschaftliche Verdrängung mit praktischer Kritik zu sprengen:

Hanns Martin Schleyer wurde als Gefangener der Nachkriegsgeneration zum Symbol der nicht überwundenen Nazizeit gemacht, an dem die Kluft zwischen den Generationen sichtbar und überwunden werden sollte.

Tatsächlich war die Entführung Hanns Martin Schleyers der tiefste Einschnitt in die bundesrepublikanische Gesellschaft vor 1989, weil sie - ganz gleich wie politisch und moralisch unberechtigt die Handelnden dazu gewesen sein mochten - mit hundertprozentiger Treffsicherheit in die Wunde stiess, die das kennzeichnende Merkmal dieser Gesellschaft überhaupt war: dass die Bundesrepublik Deutschland nach verlorenem Krieg, Teilung und Leugnung der Schuld aufgrund des ungeklärten Verhältnisses zur Nazi-Vergangenheit und dem daraus resultierenden Bruch zwischen den Generationen keine kohärente Gesellschaft, kein Staat, kein selbstbestimmtes Gemeinwesen war. Es wurde materiell sichtbar, dass die unterdrückten Widersprüche dieser Gesellschaft sie das Provisorium bleiben liessen, als das sie entstanden war - aber nicht in der Teilung Ost-West, sondern durch die Kluft zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration.

IV.

Nichts schafft mehr Zusammenhalt zwischen Menschen als ein gemeinsam begangenes Verbrechen. In ihrem Werk »Über die Revolution« schreibt Hannah Arendt: »Der Ursprung der Brüderlichkeit ist der Brudermord«, und schon seit Urzeiten berichten Mythen von Staatsgründungen durch Krieg, Mord und Völkermord - wie Aeneas Rom gründete, indem er die Latiner besiegte, wie Karl der Grosse durch Abschlachten der Sachsen den Grundstein für das erste Deutsche Reich legte, wie aus dem Sieg über Frankreich das zweite Deutsche Reich entstand; und so weiter.

Nicht etwa der »Sieg im Volkskrieg« also, gewonnenes Land oder unterworfene Bevölkerung formiert die Sieger gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen grossen Gruppen zu einer (staatlichen) Einheit, nicht Gene, pigmentelle Besonderheiten, gar die vielbeschworenenen »kulturellen Identitäten«: die gemeinsam Ermordeten machen sie zu Blutsbrüdern, die gemeinsam zu verantwortenden Leichen erzwingen Unzertrennlichkeit, die Irreversibilität des Todes der Opfer fesselt die überlebenden Täter zusammen.

Das unterscheidet Tiere von Menschen, ist die Rache der menschlichen Natur oder, umgekehrt, die Perspektive einer Utopie der Gerechtigkeit. Entweder man bringt sich gegenseitig solange um, bis nur noch ein Mensch übrigbleibt, oder man emanzipiert sich vom Naturzwang. Zu entrinnen ist dem nicht. Dieser archaische Vorgang kollektiven Unbewusstseins lebt von der Verdrängung des Verbrechens durch die Täter, und als unbewusster unterliegt er einer naturgesetzartigen Zwanghaftigkeit: jedenfalls, solange er weiter verdrängt wird.

V.

Und so vollstreckte sich auch 1977 dieses Naturgesetz, wie immer, wenn Unbewusstsein regiert: nicht Versöhnung und Aufhebung des Konflikts löste die Zwangslage auf, sondern das Gesetz des Stärkeren, nicht Verständigung, sondern Verbrechen, nicht Logik, sondern Irrationalismus. Die Rote Armee Fraktion wähnte, Schleyer müsse freigelassen werden, weil er ein alter Nazi war, sie gründete ihre Aktion auf dem Irrglauben, die Solidarität der Kriegskameraden sei so gross, dass sie ihn niemals fallen lassen könnten, als wäre SS-Mitgliedschaft ein Unantastbarkeitsmerkmal - dabei wurde genau deshalb Hanns Martin Schleyers Ermordung in Kauf genommen: ihn zu schützen, wäre auf seine ganze Generation zurückgefallen.

Weil die ehemaligen Weltkrieg II-Soldaten, die zu diesem Zeitpunkt die bundesrepublikanische Politik bestimmten und in der Not der Schleyer-Entführung über alle Parteigrenzen zusammenrückten, das Aufbrechen ihrer Verstrickung in das nationalsozialistische Verbrechen nicht zulassen konnten, opferten sie einen der ihren. Nicht weil der Rechtsstaat siegen musste, sondern weil nicht sichtbar werden durfte, dass der ihm vorausgehende Unrechtsstaat personell noch fortlebte, musste Hanns Martin Schleyer sterben.

Und gerade weil die Protagonisten beider Seiten sich dieses Zusammenhangs nicht bewusst waren, ihn sich in ihrer Verbohrtheit nicht eingestehen wollten - und in dieser Hinsicht exactes Spiegelbild voneinander waren -, mussten sie in die historische Falle tappen, in die sie sich selbst mit ihrer gegenseitigen Eskalationsstrategie manövriert hatten.

Beide Seiten wähnten sich nur noch als ausführendes Organ einer übermenschlichen Gesetzmässigkeit, der sie zu gehorchen hatten, beide Seiten betonen noch heute, sie hätten nicht anders gekonnt, jede Seite wälzt die Verantwortung für den Mord an Hanns Martin Schleyer auf die andere ab: beide Seiten tragen die Verantwortung.

VI.

Der sogenannte Deutsche Herbst war damit das Ende der Nachkriegsgeschichte und ihres offenen Provisoriums BRD, danach kam alles, wie es nach dem Gesetz der Wiederholung durch fortgesetzte Verdrängung kommen musste; seit dem Ende der 70er Jahre ist wieder gesellschaftsfähig, was für immer geächtet schien: Denken - und bald auch »Fühlen« - in nationalen Kategorien. Wie von einer Amnesie befallen - denn sie wollten nichts mehr wissen von dem, was sie nie mehr vergessen wollten - entdeckten die einstigen Weltbürger ihr »Volk«, und »aufs neue hebt an die grosse Folge der Zeiten« (Vergil: magnus ab integro saeculorum nascitur ordo): die Begriffe »links« und »rechts« landeten auf dem Müllhaufen der Geschichte, um den in der Schmuddelecke des Rechtsextremismus überwinternden Begriff »nationale Identität« endlich zu befreien und seine Realität zu ermöglichen. Während noch 1977 es kleine Mädchen gab, die ein Foto von Christian Klar über dem Bett hängen hatten, war es 1987 ein Foto des Bundespräsidenten.

Aufgebrochen, den 1945 nicht überwundenen Wahnsinn des Nationalismus zu sprengen, bewirkte die RAF dank der präzisen Zusammenarbeit mit ihrem Gegner das genaue Gegenteil: Anstatt Weltbürgertum Deutschtum, anstatt Befreiung Regression, anstatt Bewusstsein Bewusstlosigkeit. Eine antike Tragödie.

Christof Wackernagel