Eine Neuerscheinung und ein Ereignis Mein Kampf und das Unternehmen Barbarossa – eine Lektüre

Politik

18. Juni 2021

Seit dem 2. Juni ist dem französischem Publikum und der französischen Öffentlichkeit in Form einer kritisch-kommentierten Neuauflage von Hitlers «Mein Kampf» unter dem Titel «Das Böse historisieren» zugänglich gemacht.

Unternehmen Barbarossa in der Sowjetunion. Panzer der deutschen Wehrmacht auf einer Strasse ausserhalb eines Ortes, Juni 1941.
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Unternehmen Barbarossa in der Sowjetunion. Panzer der deutschen Wehrmacht auf einer Strasse ausserhalb eines Ortes, Juni 1941. Foto: image_author

18. Juni 2021
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1. Eine Neuerscheinung und ein Ereignis

Dabei handelt es sich bei der vom Verlag Fayard veröffentlichten, 1000 Seiten umfassenden Neuauflage von "Mein Kampf" um ein 10 Jahre währendes Forschungsprojekt einer Gruppe französischer Historiker unter der Leitung von F. Brayard, dem Direktor des Instituts CNRS ("Team Geschichte und Historiographie der Shoa, Zentrum für historische Forschungen). Die Einnahmen aus dem Verkauf dieser Neuauflage von "Mein Kampf" sollen, so der Verlag, der Auschwitz-Birkenau-Stiftung zugutekommen.

Wesentlichen Anteil an der französischen Neuausgabe von "Mein Kampf" hat die langjährige Partnerschaft und Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München. Insofern ist die französische Neuauflage von "Mein Kampf" Ergebnis der Zusammenarbeit französischer und deutscher Historiker und Germanisten. Das IfZ seinerseits hat in 5-jähriger Forschungsarbeit 2016 eine vielbeachtet und vieldiskutierte, ebenfalls kritisch-kommentierte Neuausgabe von "Mein Kampf" veröffentlicht.

Ziel der französischen wie der deutschen Neuauflage von "Mein Kampf" ist, "den Leser zu führen um ihm die notwendigen Daten zur Verfügung zu stellen, um den Text besser zu verstehen [...] Das ist auch die Gelegenheit um daran zu erinnern, dass Hitler nicht der Kriegsheld war, der er zu sein vorgab" ("de guider le lecteur en lui apportant l'ensemble des données nécessaires pour mieux appréhender le texte [...] C'est notamment l'occasion de rappeler qu'Hitler ne fut pas le héros de guerre qu'il prétend avoir été.")[1]

Gleichsam in eins mit der französischen Neuauflage von "Mein Kampf" fällt am 22. Juni als "Ereignis" der 80. Jahrestag des "Unternehmen Barbarossa". Am 22. Juni 1941 eröffnete im Auftrag Hitlers das damalige Deutschland mit seinem Militär und der kommandobefugten Generalität und Heeresleitung den keineswegs nur "rassenideologisch-weltanschaulichen" Vernichtungskrieg gegen die damalige Sowjetunion.

Von Anbeginn waren neben der Generalität einschlägige Forschungsinstitute, Ministerien und eigens für diesen Vernichtungskrieg geschaffene bürokratische Verwaltungsapparate an den Vorüberlegungen, an der Planung und an der Durchführung dieses "Unternehmen Barbarossa" getauften Vernichtungskrieges beteiligt. Und ohne die Beteiligung der sog. "Wirtschaft" in Gestalt ihrer unternehmerischen Eliten wäre der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion ohnehin nicht zustande gekommen.

Im Zusammenspiel der damals Regierungsverantwortlichen und Zuständigen sollte das "Unternehmen Barbarossa" zum Erfolg für Deutschland werden; und zwar auf der Grundlage des "Generalplan Ost", das heisst: auf der Grundlage deutscher Besiedlung und deutschem Wehrbauerntum im gesamten Eurasischen Raum. Diesem Projekt der Osterweiterung Deutschlands als zukünftiger Führungsmacht in Europa hatte der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion den Weg zu bahnen.

Singulär war dieser als "Blitzkrieg" geplante Vernichtungskrieg in mehrerlei Hinsicht: in der expliziten Definition und Festlegung dieses Krieges als: Eroberungs-, Besiedlungs- und Ausrottungskrieg; für die davon Verschonten war die Rolle von Helotenvölkerschaften im Arbeitsdienst an Deutschland und seiner Wirtschaft vorgesehen. Singulär in diesem Projekt der Osterweiterung Deutschlands war die dem Projekt gemässe bewusste Ausserkraftsetzung des humanitären und (Kriegs-) Völkerrechts mittels Kriegsgerichtsbarkeiterlass, Kommissarbefehl, standrechtliche Erschiessungen einschliesslich Hungerplanung für Millionen Zivilisten wie für sowjetische Kriegsgefangene; singulär nicht zuletzt in der Verfolgung und Ermordung hunderdtausender Menschen jüdischer Herkunft durch Polizeibatallione, Sicherheitsdienst (SD) und SS; singulär schliesslich kulminierend im industriell-fabrikmässig organisierten Holocaust. "Unternehmen Barbarossa" kostete 27 Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben, der Holocaust vernichtete 6 Millionen Menschen jüdischer Herkunft.

Angesichts der Neuerscheinung von "Mein Kampf" in Frankreich und angesichts des 80. Jahrestags des "Unternehmen Barbarossa" kann es schon von Interesse sein, "Mein Kampf" und die deutsch-französischen "Historisierung des Bösen" einer Prüfung zu unterziehen. Zum einen hinsichtlich der Frage, welche "Orientierung" für den Leser eine "Historisierung des Bösen" bereithält. Zum anderen hinsichtlich der Frage, ob das "Unternehmen Barbarossa" getaufte Projekt mit all seinen Implikationen in "Mein Kampf" nicht schon in aller Deutlichkeit ausgesprochen ist.

Immerhin scheint eine solche Untersuchung auch von Interesse, da auch mit der deutsch-französischen "Historisierung des Bösen" nach wie vor die Frage unbeantwortet bleibt, um was für einen Text es sich mit der beinahe 100 Jahren alten Schrift "Mein Kampf" handelt und was es eigentlich heisst: eine Text lesen. Die folgenden knappen Hinweise verstehen sich als Aufforderung und halten sich der Zugänglichkeit wegen an die deutsche Ausgabe der "Historisierung des Bösen", die der französischen Variante mit zugrunde liegt.

2. "Mein Kampf" - ein Text, eine Lektüre

Doch um einen Sinn zu finden, der hinter einer offenbar altmodischen Sprache noch auffindbar ist, muss man zunächst – so wie man die Bedingungen einer Erzählung oder einer Theaterinszenierung akzeptiert – geduldig die Gegebenheiten des Textes in dessen eigenem Universum anerkennen. (E. Lévinas 2005: 24)

Lange vorangekündigt, lebhaft diskutiert, im Ganzen jedoch mit wohlwollender Zustimmung und Anerkennung aufgenommen und rezipiert, liegt sie seit 2016 vor, die kritisch-kommentierte Neuedition von "Mein Kampf".[2] In Gestalt zweier grossformatiger, schwergewichtiger und 1966 Seiten umfassenden Bände ist "Mein Kampf" zurückgekehrt. In dieser Neuedition ist, auch typografisch, der Originaltext von "Mein Kampf" eingekreist, "umzingelt" – wie Herausgeber und Rezeptionsdiskurs es nennen – von 3700 editorisch-kommentierenden Anmerkungen.

Ist es nun tatsächlich so, dass der Geist der "Rache" die Art des Lesens die Neuedition von "Mein Kampf" begleitet oder gar bestimmt hat? Oder hat in der Neuedition doch die ars hermeneutica, die Kunst des Erforschens und Auslegens des Sinns des "absolut Bösen", für das "Mein Kampf" als Wort, als Sagen, als überlieferter Text und als Tat steht, überwogen? Ist es der Neuedition gelungen, geduldig die Gegebenheiten und den Sinn dieses Textes, der der Tat vorausging, "in dessen eigenem Universum” (Lévinas) zu sehen?

Hat sie es überhaupt versucht? Denn der hermeneutischen Reflexion, die das Wort, das Sagen, die Rede, das Buch eines Anderen verstehen will, gilt jedes Sagen, welchen Ursprungs und welcher Urheberschaft es auch sei, zuallererst als solches: als das Wort eines Anderen oder eines Andersseins. So ist für die ars hermeneutica der Originaltext von "Mein Kampf" ein Text unter vielen, unter unendlich vielen Texten. Als Wort, als Sagen oder Text bildet er sein eigenes Sinnuniversum; und darin unterscheidet sich "Mein Kampf" nicht von anderen Sinnuniversen: etwa dem Talmud, dem Koran, der Bibel, den Cartesianischen Meditationen, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Hegels Phänomenologie des Geistes. Es ist immer ein besonderes Sagen mit den ihm eigenen inneren Gegebenheiten, die sein nur ihm zugehöriges Sinnuniversum und Sinnganzes ausmachen.

Ob einem Sagen oder Text wie "Mein Kampf" eine "Wirkung" (Neuedition, Bd. 1: 11) zukommt, liegt nicht in den Händen des Sagenden. Sein Wort erwacht dann zum Leben, gewinnt dann an Bedeutung und Wirksamkeit, wenn dem Sagen oder Text vom Zuhörenden und Lesenden Bedeutung und Wirksamkeit zugesprochen wird. So wendet sich das Sagen mit seiner je besonderen Sinnhaftigkeit und sprachlichen Gestalt nach Aussen, dem Hörenden oder Lesenden zu, um ihn zu erreichen, zu bewegen.

Das gilt auch für "Mein Kampf". Dieses Sagen wollte eine epochemachende Zustimmung finden und erzeugen, um eine epochemachende "Wirkung" zu erzielen; wäre ihm dies nicht gelungen, "Mein Kampf" und sein Autor wären bis auf heute ohne alle Macht und Wirkung geblieben. Zustimmung findet das Sagen, das Wort, wenn dem Hörenden oder Lesenden der innere Sinn des Gesagten offenbar und einsichtig ist. Dann kann er ihm zustimmen wollen. So ist "Mein Kampf" ein ungewöhnlich offenes Wort.

Eine Schrift, deren Sinn und Intention vor aller Augen zutage liegt; eine Schrift, die wollte, dass sie ein jeder liest, damit jeder dem offen dargelegten Sinngehalt, in dem sich auch der auf den ersten Blick hin scheinbar noch so verborgene Sinn zeigt, zeigen soll, zustimmt. So legt "Mein Kampf" unmissverständlich schon auf der allerersten Seite dar, dass der Autor den Krieg ins Auge fasst, ihn will, denn "aus den Tränen des Krieges, erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot". (Hitler, zit. nach: Neuedition Bd. 1: 93) Dass für die Nachwelt ausgerechnet aus dem Krieg und den "Tränen", die er notwendig mit sich bringt, das "tägliche Brot" erwachsen soll, ist zweifelhaft; weniger zweifelhaft ist, dass ein Lesender, dem der Krieg als etwas Legitimes und zuweilen Notwendiges gilt, hier nicht erschrocken innehält, sondern seine geheime oder offene Zustimmung schon erteilt hat.

Der Kommentar der Neuedition verliert über die auf Seite 1 von "Mein Kampf" angekündigten "Tränen des Krieges" nicht ein einziges Wort. (vgl. Neuedition, Bd. 1: 92f.) Dieses Verfahren, den Text in seinem ihm ganz eigenen Sinnuniversum und Sinngehalt nicht zur Kenntnis zu nehmen, hat in den ganzen 3700 Hinweisen und Anmerkungen, die den Originaltext "umzingeln", Methode.

Mein Kampf" seinerseits ist ein Sinnganzes, das seine ganz nur ihm eigentümliche, immanente Wahrheit zur Anschauung bringt und zur Beurteilung vor der Welt offenlegt. Die von der Neuedition angewandte Methode der "10 Kategorien und Prinzipien der Kommentierung" (vgl. Neuedition, Bd. 1: 53-67): die Methode der Historisierung (des Bösen), die darin besteht, die recht eigentümliche, die immanente Wahrheit oder Sinnhaftigkeit des Hitlerschen Textes nicht zur Kenntnis zu nehmen, sie vielmehr zu konfrontieren mit Hitler-Biographie, mit Vorgängern, mit altertümlich-frühzeitlichen oder zeitgenössischen Ideen oder ideengeschichtlichen Wurzeln, mit unzähligen Hinweisen auf geschichtliche "Daten und Fakten", auch solchen aus der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933-1945, ist je schon über den Text hinaus, geht an der immanenten Wahrheit im Sinnuniversum von "Mein Kampf" vollkommen vorbei. Die zeitgeschichtliche "Historisierung dieses Relikts" (Neuedition, Bd. 2: 1747) bleibt dem Sinngehalt dieses Relikts äusserlich. Vielmehr trägt die Historisierung ein dem Text ganz fremdes Element, ein Interesse, das Interesse der von der Neuedition explizit beabsichtigten "Orientierung des Lesers" in diese Art des Lesens hinein, anstatt die hermeneutische Reflexion ins Werk zu setzten.

Der in den 3700 Anmerkungen zusammengefasste Parallel- und Kontrastdiskurs zum Originaltext von "Mein Kampf" steht ohne hermeneutischen Bezug zu ihm. Das Desinteresse an den inneren Gegebenheiten des Sinnuniversums, welches "Mein Kampf" ist, formuliert die Neuedition ebenso darin, als für sie "[...] Hitlers Schrift inhaltlich, sprachlich sowie in ihrem Aufbau so etwas wie ein Monstrum darstellt." (Neuedition, Bd. 1: 66) Nicht anders die "Lektüre" in der französischen "édition critique" und in der französischen Öffentlichkeit: "Schon bei der ersten Lektüre offenbart sich der primitive Charakter der Sprache und der Argumentation [...] Auf stilistischem wie auf ideologischem Niveau ist "Mein Kampf" ein Dokument unterhalb von allem und ohne jede Originalität."[3]

Die in Anspruch genommene "textimmanente Interpretation" (Neuedition, Bd. 1: 28) und "Auseinandersetzung" auch mit Hitlers "Sprache" (vgl. Neuedition, Bd 2: 1927) erweckt nur den Schein einer hermeneutischen Reflexion; das Wort, das Sagen, der offen zutage liegende Sinngehalt dieses Sinnuniversums ist je schon als nur "wirr" begriffslos zurückgewiesen (vgl. Neuedition, Bd. 1: 21-24, "Hitlers Sprache in 'Mein Kampf'”). Die ars hermeneutica ist stillgelegt, bevor sie ihr Werk beginnt. Die biographisch-zeitgeschichtliche Lesart ist ein Draussen, das nicht ins Innere gelangen kann. Dem Text gegenüber bleibt diese Methode des Lesens notwendig äusserlich.

Um "die Tragweite der Exegese" (Lévinas 2005: 22) zu ermessen, die, im Unterschied zur Methode der „Historisierung des Bösen“, dem Leser keine "Orientierung" geben will, sondern die immanente Wahrheit eines Sagens oder Textes wie "Mein Kampf" verstehen und begreifen möchte, sei ein weiterer kleiner Text aus "Mein Kampf" genommen und mit dem dazugehörigen Kommentar aus dem Korpus der 3700 Anmerkungen in Beziehung gesetzt: “Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegen geführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht." (Hitler, zit. nach: Neuedition, Bd.1: 303)

Die biographisch-zeitgeschichtliche Methode des Lesens kommentiert diesen Text im Wesentlichen so: "Ein plumper Rechtfertigungsversuch Hitlers für seinen eigenen, gescheiterten Putschversuch vom November 1923." (Ebd.) Doch bewegt sich der Originaltext nicht in einem unvergleichlich anderen Sinnzusammenhang und Sinnuniversum? Benennt er nicht ein Inneres, zu dem das Aussen des Kommentars nicht im Entferntesten gelangt? Besteht der Sinngehalt, die innere Wahrheit dieser Textstelle nicht darin, dass sie sich ganz im Einklang mit der Radbruchschen Formel weiss oder wissen möchte, demnach es unter gewissen Bedingungen ein legitimes Widerstandsrecht, ja eine Widerstandspflicht gibt oder geben sollte?

Berufen sich Bewegungen wie die der Querdenker, der Reichsbürger, der Pegida, überhaupt der moderne, globale Rechtspopulismus, nicht auf eben dieses anerkannte Widerstandsrecht? Tun dies nicht auch auf ihre Weise Rechtsterrorismus oder der dschihadistische (Neo-)Fundamentalismus? Der eine ein Widerstandsrecht gegen eine Überfremdung seiner gefühlten Heimat und gegen einen eingebildeten Bevölkerungsaustausch; der andere, der dschihadistische (Neo-)Fundamentalismus ein Widerstandsrecht gegen die Herrschaft der Ungläubigen im eigenen Land und überhaupt. Zu solchen Fragen kommt ein Lesen, das "geduldig die Gegebenheiten des Textes in dessen eigenem Universum " (E. Lévinas 2005: 24) sehen und lesen will; und sei es auch der Text von "Mein Kampf".

Wie verhält es sich eingedenk eines solchen Lesens in "Mein Kampf" mit dem "Unternehmen Barbarossa", mit dem Eroberungs-, Besiedlungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auf der Grundlage des Generalplan Ost? Gibt es in den Gegebenheiten dieses Textes nicht unmissverständliche Hinweise auf diesen Vernichtungskrieg, der kommen soll?

3. Weltmacht-Staatsterritorium-Volk

Die Aussenpolitik des völkischen Staates hat die Existenz der durch den Staat zusammengefassten Rasse auf diesem Planeten sicherzustellen, indem sie zwischen der Zahl und dem Wachstum des Volkes einerseits und der Grösse und Güte des Bodens andererseits ein gesundes, lebensfähiges, natürliches Verhältnis schafft. (Hitler, zit. nach: Neuedition, Bd.2: 1629-1631)

Die Frage der Weltmachtfähigkeit Deutschlands, der das Unternehmen Barbarossa den Weg bahnen soll, behandelt Hitlers Schrift prinzipiell auf der Ebene der Elementarlehre des Staates und der ihn bildenden Konstituenten: Staatsgewalt, Staatsterritorium, Volk. Der Staat, auch der völkische, ist Gewaltmonopol, und weiss die eine, die lebendige Säule seiner Existenz im Volk, hier als Rasse gefasst. Die andere existenzielle Säule eines jeden Staates bildet sein staatliches Territorium, die Säule, die "die dingliche Grundlage der gesamten Herrschaftsübung ist." (Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914: 401). In der modernen Staatenkonkurrenz bestreiten sich die Staatsgewalten auf vielfältige Weise gegeneinander die menschlichen und dinglichen Grundlagen ihrer staatlichen Existenz.

Mit dem Ergebnis einer ausgeprägten, weltumspannenden zwischenstaatlichen Konkurrenz-Hierarchie: die einen sind Weltmächte, die anderen können als Dritte oder Vierte Welt kaum ein "gesundes, lebensfähiges Verhältnis" zwischen "Volk und der Grösse und Güte des Bodens" herstellen, mithin "sicherstellen". Ganz zu schweigen von den failed states. Solche Staaten sehen sich der einen oder anderen Hungerkatastrophe ausgesetzt, sind Fälle für die Welthungerhilfe. Dies umso mehr, umso mehr die Güte des Bodens nachlässt.

Die real existierenden Weltmächte der westlichen Hemisphäre hingegen haben es zu Hitlers Zeiten wie heute in der allgemeinen Staatenkonkurrenz dahin gebracht, über den Globus so zu herrschen, dass sie den Rest der Staatenwelt in den Status Dritte oder Vierte Welt hinein bugsiert haben. Also war für Hitler klar, Deutschland hat Weltmacht zu werden und dies durch die unbedingte Erweiterung und Festigung der dinglichen Säule des staatlichen Gewaltmonopols und aller staatlicher Existenz: des Staatsterritoriums mit seinem darauf lebenden und sich ernährenden Volk: "Das Recht auf Grund und Boden kann zur Pflicht werden, wenn ohne Bodenerweiterung ein grosses Volk dem Untergang geweiht erscheint." (Hitler, zit. nach: Neuedition, Bd.2: 1655-1653)

Die Methode der Historisierung des Bösen will von all dem buchstäblich nichts wissen und bringt das von Hitler aufgeworfene Verhältnis von Staatsgewalt, Staatsterritorium und Volk herunter auf die klassische wie falsche Schulweisheit: "Hitlers Gedanken zum Verhältnis zwischen Raum und Bevölkerung waren keineswegs originär. Schon der Zoologe Friedrich Ratzel hatte [...] biologische Prinzipien auf die Geschichte übertragen und den Daseinskampf von Lebewesen als einen Kampf ums Dasein dargestellt." (Neuedition, Bd.2: 1630)

Und Hitlers ganz staatsmännisch gedachte, von Darwins Kampf ums Dasein völlig unberührte Entscheidung, Deutschland in der global eingerichteten Konkurrenz-Hierarchie der Staaten zur Weltmacht zu führen, ansonsten drohe der kaum umkehrbare Status Deutschlands als eines Staates innerhalb der Dritten oder Vierten Welt, kommentiert die am Sinnuniversum des Textes desinteressierte Historisierung des Bösen so: "Die Neigung «aufs Ganz zu gehen» gehörte nicht nur zu Hitlers Charaktereigenschaften, sie war Wesenszug seiner Führerschaft, seiner politischen Ziele und der Partei." (Neuedition, Bd.2: 1656)

Dass Deutschlands Status als Weltmacht nie gesichert sei, solange es die sowohl in seiner Bevölkerungszahl wie in der gigantischen Fläche seines Staatsterritoriums angrenzende Sowjetunion in seiner unmittelbaren Nachbarschaft hat; dass Russland darüber hinaus diese 2 Säulen staatlicher Existenz zu einer respektablen ökonomischen und militärischen Macht auszubauen wusste; dass Russland zudem noch in der Oktoberrevolution sich den "Bolschewismus", modern gesprochen, den Marxismus, "diese Weltpest" (Hitler, zit. nach: Neuedition, Bd.1: 437) auf die Fahnen schrieb; wo doch "die Frage der Zukunft der deutschen Nation die Frage der Vernichtung des Marxismus ist." (Hitler, zit. nach: Neuedition, Bd.1: Ebd.); wo, auch das noch: offenbar "der internationale Jude" (Hitler, zit. nach: Neuedition, Bd.2: 1675)

Subjekt und Träger des vernichtungswürdigen Marxismus ist;[4] ersichtlich personifiziert und versubjektiviert anscheinend daran, dass in der Oktoberrevolution und in der Komintern auch Menschen jüdischer Herkunft sich dem Marxismus anschlossen; wo auch in Deutschland in Gestalt etwa von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht oder Kurt Eisner sich Menschen mit jüdischer Herkunft dem Marxismus zuwandten und für Hitler und die Seinen eine 5. Kolonne Moskaus bildeten; wo doch gar Karl Marx ein Mensch jüdischer Herkunft war; wo also auch im Sinnuniversum von "Mein Kampf" Marx und der Marxismus, in heutiger Sprache gewendet, nichts anderes als reiner "Linksextremismus"[5] und sonst nichts ist; all diese „Argumente“ zu einem weltanschaulichen Glauben zusammengefügt, identifiziert Russland nicht nur als eine Riesenreich, an dem für Deutschlands Ambitionen kein Weg vorbeiführt, sondern identifiziert es in eins damit als ein ein wahres "Reich des Bösen". Und begründet auf diese Weise das legitime "Recht auf Grund und Boden" (Mein Kampf) und die ethisch-sittliche gebotene "Pflicht" (Mein Kampf), diesen Grund und Boden sich nirgendwo anders als in Russland anzueignen. Damit war das Unternehmen Barbarossa als Projekt der Osterweiterung Deutschlands als zukünftiger Führungsmacht in Europa, diese Voraussetzung einer jeglichen Weltmachtfähigkeit Deutschlands, geboren.

Im "Generalplan Ost" als einem gigantischen Siedlungsprojekt im Eurasischen Raum war diese Inbesitznahme mehr oder weniger bis ins Einzelne durchgeplant. Der deutschen Historisierung des Bösen ist das Unternehmen Barbarossa auf den ganzen 1966 Seiten der Neuedition keiner Erwähnung wert; und vom Generalplan Ost weiss sie für den Geschichtsunterricht an den Schulen und an den Universitäten zum Auswendiglernen nur dies zu berichten, dass "die Pläne für eine deutsche Neubesiedlung Osteuropas [...] weitgehend Fiktion blieben", und dass zu den Planern und Wortführern des Generalplan Ost Heinrich Himmler und ein Professor für Ackerbau und Landwirtschaft, ein Konrad Meyer gehörten. (Vgl. Neuedition, Bd.2: 1034)

Dass die Inbesitznahme eines anderen Staatsterritoriums, die Inbesitzunahme und Besiedlung der dinglichen Säule einer anderen Staatsgewalt einer unmittelbaren "Verletzung der angegriffenen Staatspersönlichkeit selbst (Jellinek, 397f.) gleichkommt, ihre Existenz als Staat mitsamt seinem Volk infrage stellt, wusste Hitler, Staatsmann, der er jedenfalls damals war. Dass die Idee und das Projekt, Deutschland auf diese Weise einen Weltmachtstatus zukommen zu lassen, Krieg bedeutet, das hat "Mein Kampf" auf Seite 1 in aller Klarheit mitgeteilt: Drohen einem nicht weltmachtfähigen Staat möglicherweise nicht mehr umkehrbare Hungerkatastrophen, dann "ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens. Der Pflug ist dann das Schwert und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot." (Hitler, zit. Nach: Neuedition, Bd.1: 93).

Es war schon darauf hingewiesen, dass die Neuedition über diese klare Ansage kein Wort verliert. Die Existenzialität aber dieses Krieges gegen Russland erklärt, warum die damals Regierungsverantwortlichen, die Generalität, die Forschungsinstitute, die Ministerien, der bürokratische Apparat sowie die unternehmerischen Eliten der Wirtschaft mehrheitlich der Ansicht waren, dass dieser „gerechte“ Krieg (bellum justum) unter Inanspruchnahme des völkerrechtlich anerkannten Rechts zum Krieg (jus ad bellum) nur ein Vernichtungskrieg sein konnte; also ist es sittlich-ethisch vertretbar und mit dem eigenen Gewissen vereinbar, das humanitäre und (Kriegs-) Völkerrecht, das jus in bello, für diesen Krieg explizit ausser Kraft zu setzen; denn es hätte womöglich den Erfolg des Unternehmen Barbarossa infrage gestellt. Soll damit gesagt sein, „Ausrottungskriege“ (Kant, Zum ewigen Frieden, 1795) wird es nicht mehr geben?

Heute andererseits erscheint der Weg Deutschlands zur Weltmacht, den der Nationalsozialismus wahrmachen wollte, als lächerlich. Nicht zuletzt im Projekt NATO 2030 ist die ganze militärische Schlagkraft der westlichen Weltmächte versammelt, um mit der geostrategischen und geopolitischen Einkreisung der gegenwärtigen "systemischen Herausforderung" durch Russland und China, der jetzigen "Achse des Bösen", ein Ende zu setzen. Ein Unternehmen, das die gedeihliche ökonomische Benutzung und geoökonomische Einkreisung von Russland und China selbstredend mit einschliesst. Eine Einkreisung, die von der abschmelzenden Arktis bis in den Indopazifischen ("Lebens"-) Raum hinein reichen soll.

Lässt sich angesichts dieser Tragweite einer Exegese, die auch vor mein ”Mein Kampf” keine Scheu hat, nicht dasselbe sagen, was Lévinas hinsichtlich einer jeden Talmudlektüre geltend macht: ”Für uns ist diese Talmudlektüre undenkbar ohne die Verwendung einer modernen Sprache, das heisst, ohne die Probleme von heute zu berühren.” (Lévinas 2005: 22) Solche talmudische Überlegungen eröffnet die ars hermeneutica, die, um die Bewegung des Verstehens und Begreifens auszulösen, die "Gegebenheiten des Textes in dessen eigenem Universum" (Lévinas) gelten lässt, um ihren Sinn, der eine Wirkung erzielen will, zu erfassen.

Manfred Henle

Fussnoten:

[1] Vgl.: https://www.france24.com/fr/france/20210601-r%C3%A9%C3%A9dition-de-mein-kampf-le-2-juin-une-mission-historique-et-citoyenne

[2] Dokumentiert ist die in Wissenschaftskreisen und in der Öffentlichkeit wesentlich zustimmende Rezeptionsgeschichte der Neuedition von "Mein Kampf" unter: http://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/edition-mein-kampf/dokumentation-mein-kampf-in-der-oeffentlichen-diskussion/. Nachdenkenswert erscheint aber dies: Einerseits spendet der in der Rezeptionsgeschichte niedergelegte Rezeptionsdiskurs über die Neuedition Beifall für ihren "aufklärerischen" Charakter, für die angewandte biographisch-zeitgeschichtliche Methode, für die Art des Lesens und für die erbrachten Ergebnisse. Im gleichen Atemzug bedient sich der zustimmende Rezeptionsdiskurs mehrheitlich einer Wortbildung und Sprache, die sich, zuweilen bis in die einzelne Wortbildung hinein, der Sprache von "Mein Kampf" angleicht: Autor und „Mein Kampf“ als Text stehen für das "absolut Böse", für das "Monstrum und Monströse", für das "Pathologische" und vollkommen "Fremde, absolut Andere, Abartige"; für das "Unrecht", für das "Schlechte" und die "Schlechtigkeit" schlechthin; für das "Verbrechen" und die "Verbrechernatur" von Autor und Text. Es drängt sich schon die Frage auf, welcher Geist herrscht, wenn der Rezeptionsdiskurs eine Lesart beifällig hinnimmt, die die Neuedition offenbar begleitet: "es ist eine gewaltige Freude, ja Rache. Ich habe manchmal das Gefühl: So, jetzt habe ich ihn im Fadenkreuz." (Christian Hartmann, Leiter des deutschen Historikerteams, SZ-Magazin, 19.06.2015) Dem Geist der "Rache" und der Verfolgung wohnt die hermeneutische Geduld, "die Gegebenheiten des Textes in dessen eigenem Universum anerkennen“ (Lévinas), nicht inne, verschliesst sich und mithin seinem Leser vom Anfang an jeder Möglichkeit, "den Ursprung des Bösen" (Hegel), seinen "Sinn" (Lévinas) zu erforschen und zu verstehen, um ihm den Boden zu entziehen. Gleiches gilt auch für die französische "édition critique" und die bisherige, unter dem Titel "Das Böse historisieren" ("Historiciser le Mal") bzw. "Entmystifizierung eines Symbols ("Démystification d'un symbole") geführten Rezeption und Diskussion in französischen Wissenschaftskreisen und in der französischen Öffentlichkeit.

[3] "Dès la première lecture, on remarque le caractère primitif de la langue et de l'argumentation [...] Au niveau stylistique aussi bien qu'idéologique, Mein Kampf est un document en dessous de tout, et sans aucune originalité.", unter: https://theconversation.com/demystification-dun-symbole-ledition-critique-de-mein-kampf-en-allemagne-53944

[4] Das kann hier nur angedeutet werden: "der" Jude und "das Judentum" im Sinnuniversum von "Mein Kampf", hat mit den wirklichen Juden, mit den Menschen jüdischer Herkunft und dem wirklichen Judentum und seiner 2000-jährigen Geschichte nicht das Geringste zu tun. Im Sinnuniversum Hitlers und seiner Schrift verhält es sich genau umgekehrt: die Menschen jüdischer Herkunft und die jüdische Identität galten Hitler ebenso wie der Marxismus als Emanationen, als Expressionen und weltgeschichtlich-empirischer Beweis für die Existenz "des" Juden und seines Wirkens. Die je eigentümlichen Sinnuniversen "der" Jude, die Menschen jüdischer Herkunft und Identität und der Marxismus haben keinerlei Bezug zueinander: jedes steht ganz für sich genommen.

[5] Vgl. dazu: Johannes Schillo, Marx dieser Linksextremist!, unter: https://www.heise.de/tp/features/Marx-dieser-Linksextremist-6045658.html?seite=all


Literatur:

Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, Berlin, 1914
Lévinas, Emmanuel, Anspruchsvolles Judentum - Talmudische Diskurse. 2005, Frankfurt/Main.
Hitler, Adolf, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Tempel (Hrsg.), 2 Bde., 1966 S., 4. Aufl., Institut für Zeitgeschichte München –Berlin 2016.


Internetquellen:

Johannes Schillo, Marx dieser Linskextremist!, unter: https://www.heise.de/tp/features/Marx-dieser-Linksextremist-6045658.html?seite=all

Réédition en France de "Mein Kampf", "une mission historique et citoyenne", unter: https://www.france24.com/fr/france/20210601-r%C3%A9%C3%A9dition-de-mein-kampf-le-2-juin-une-mission-historique-et-citoyenne

Démystification d'un symbole : l'édition critique de «Mein Kampf» en Allemagne, unter: https://theconversation.com/demystification-dun-symbole-ledition-critique-de-mein-kampf-en-allemagne-53944

«Mein Kampf» in der öffentlichen Diskussion, unter: http://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/edition-mein-kampf/dokumentation-mein-kampf-in-der-oeffentlichen-diskussion/.