Gentrifizierung in Berlin Neue soziale Bewegung gegen „Mietenwahn“

Politik

9. Juni 2019

Die transnationalen Mietendemonstrationen, die am 6. April 2019 in ganz Europa stattgefunden haben, zeigen, dass die neue Mietenbewegung zu einer sozialen Bewegung geworden ist, die Kontinuität entwickelt hat.

Mietenwahnsinn Demonstration am 6. April 2019 in Berlin.
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Mietenwahnsinn Demonstration am 6. April 2019 in Berlin. Foto: Leonhard Lenz (PD)

9. Juni 2019
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Dies ist in einer flexiblen Gesellschaft schon beachtlich. Es ist eben nicht mehr so, dass die Mieter*innen die Proteste aufgeben, wenn ihr scheinbar individuelles Problem mit „ihren Eigentümern“ nicht mehr aktuell ist, sei es, dass sie aus ihren Wohnungen vertrieben wurden oder sie doch noch eine Lösung gefunden haben. Es sind einerseits individuelle Eigentümer*innen, mit denen es die Mieter*innen zu tun haben, andererseits erkennen sie, dass es eben kein persönliches Problem ist, dass sich Menschen bis in die Mittelschicht hinein nicht mehr die Miete in bestimmten Gegenden leisten können. Das führt dann zu hohen Mieten als strukturelles Problem. Konkret geht es darum, dass die Miete Ware ist und dass es Investoren gibt, die aus Wohnungen Profit machen.

3,50 Euro-Miete ist möglich

Hohe Mieten sind eben kein Schicksal, wie es die wirtschaftsnahen Kreise immer erklären, sondern systembedingt. Das wurde auf einem Mieter*innenspaziergang im Friedrichshainer Nordkiez am 5. April 2019 deutlich, der im Rahmen der Mietenaktionstage in Berlin stattgefunden hat. Dort berichtete eine Bewohnerin der Rigaer Strasse 77, dass sie vor einigen Monaten eine Mietsenkung bekamen. Bisher zahlen die Bewohner*innen eine Miete von 3,50 Euro pro Quadratmeter. Die für viele Nachbar*innen unglaublich günstig erscheinende Miete ist möglich, weil in dem Haus niemand mehr Profit mit der Miete macht.

Der leistbare Mietpreis macht es immer noch möglich, dass die nötigen Instandhaltungen und Reparaturen getätigt werden können, aber eben niemand mehr Gewinn daraus schlägt. Die Wohnungen in dem Haus sind nur dadurch dem Profitstreben entzogen, weil das Anfang der 1990er Jahre besetzte Haus in Genossenschaftseigentum überging. Das macht deutlich, dass die Eigentumsfrage stellen muss, wer gegen hohe Mieten kämpfen will. Diese Eigentumsfrage gestellt zu haben, ist das eigentliche Verdienst der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. Das zeigen die wütenden Reaktionen von Kapitalkreisen und ihren Parteien.

Die Expert*innen, die jetzt immer mit Warnungen vor den Folgen der Enteignung zitiert werden, sind wirtschaftsnah. Wenn jetzt die FDP fordert, dass die Enteignungsforderungen, auf die sich das Volksbegehren bezieht, aus dem Grundgesetz gestrichen werden sollen, zeigt sich nur einmal mehr das instrumentelle Verhältnis von kapitalfreundlichen Parteien zum Grundgesetz. Natürlich darf dort aus ihrer Sicht nichts geändert werden, was Kapitalmacht einschränken könnte. Wenn allerdings mit Bezug auf das Grundgesetz Eigentümerrechte eingeschränkt werden sollen, dann muss nicht nur für die FDP das Grundgesetz geändert werden. Denn ihr eigentliches Grundgesetz ist das Wohlbefinden von Kapital und Markt.

Wenn in den letzten Wochen verschiedene Kapitalverbände wegen der Enteignungsdiskussion vor Zuständen wie in der DDR oder gleich wie in Venezuela in Berlin warnen, zeigt sich nur, wie unruhig das Kapital reagiert, wenn seine Macht auch nur etwas reguliert werden soll. Das ist vor allem ein Verdienst einer in Berlin seit Jahren aktiven Mieter*innenbewegung, die eben nicht mehr ihre Probleme mit der Miete als individuelles Problem sieht. Bemerkenswert ist auch, dass sie schon seit vielen Jahren konstant aktiv ist. Wenn sie nun die Eigentumsfrage stellt, wird das Kapital nervös. Wenn über Gentrifizierung in Berlin geredet wird, sollte also nicht immer auf die Kapitalstrategien geschaut werden, sondern vor allen auf die Bewegung derer, die davon betroffen sind und sich dagegen wehren.

Wenn der Chef der „Deutschen Wohnen“ nun in einer Talk-Show einen Sprecher von „Deutsche Wohnen enteignen“ als Vertreter des lauten Berlins, den niemand brauche, beschimpft, und dieser lapidar antwortet „wenn Sie so weitermachen, wird die Enteignung für Sie das kleinste Problem sein“, dann ist die Situation auf den Punkt gebracht. Wenn nicht die Angst, so hat doch die Beunruhigung in Berlin zumindest teilweise die Seite gewechselt.

Diese Entwicklung muss noch gestärkt werden, damit Mieter*innen sich nicht mehr darum sorgen müssen, ob sie noch in ihrer Wohnung bleiben können. Kurz- und mittelfristig bedarf es hierfür aller Instrumente, die Städtebewohner*innen schützen können: ein starkes Mietrecht, eine starke Mieter*innenbewegung und -organisationen, sowie eine Vielzahl von politischen Instrumenten wie z.B. Zweckentfremdungsverbotsverordnung, Schutz vor Umwandlung in Eigentumswohnungen, Deckelung der Mieten, Schutz von Gewerbetreibenden und Rekommunalisierung.

Auf Dauer aber wird die Wohnungsfrage nur eine kapital-unfreundliche und somit befriedigende Lösung finden, wenn die Idee des kommunalen Wohnungsbaus gesellschaftliche Praxis wird und Wohnraum aus öffentlicher Hand die Grundversorgung für alle darstellt. Hierbei sollten jedoch radikale Formen von Kooperation und Mieterselbstverwaltung zur selbstverständlichen Praxis gehören.

Matthias Coers und Peter Nowak / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 439, Mai 2019, www.graswurzel.net