Chile braucht eine Änderung der Gesetzgebung zur Nutzung und Bewahrung der natürlichen Ressourcen Wie Chile mit seinem ökologischen Erbe umgeht

Politik

22. Juli 2015

Chile hat in den letzten 40 Jahren seine Gesetze fast vollständig auf Privatisierung und Transnationalisierung seines ökologischen Erbes ausgerichtet. Die staatliche Kontrollbefugnis über die natürlichen Ressourcen und das nationale Territorium wurden beschnitten.

Mine in den Collahuasi Highlands in Chile.
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Mine in den Collahuasi Highlands in Chile. Foto: Pablo Necochea (CC BY-NC 2.0 cropped)

22. Juli 2015
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Dieser Prozess begann während der Militärdiktatur mit den Programmen zur strukturellen Anpassung und Privatisierung öffentlicher Vermögen und der Daseinsvorsorge. Er setzte sich in den beiden Jahrzehnten der Übergangsregierungen der Concertación fort und vertiefte sich durch Dutzende Freihandels- und Investitionsabkommen mit den USA, Europa und in Asien u.a. mit China und Indien.

Chile steht weltweit an zweiter Stelle, was die Anzahl an Freihandels- und Investitionsabkommen eines Landes betrifft. Unternehmern aus der ganzen Welt wurde die Möglichkeit eröffnet, in das ökologische Erbe des Landes zu investieren, es zu nutzen und zu exportieren. Das grosse politische Projekt der Militärdiktatur war die Integration Chiles in die globale Wirtschaft. Es fand seine Fortführung in der Vertiefung des rohstofforientierten Exportmodells durch die Übergangsregierungen. Unter dem Begriff „Wachstumsagenda“ hat die Concertación diese Strategie durch unzählige Freihandels-, Finanzierungs- und Investitionsabkommen, die Aufhebung von Rechtsvorschriften und die Behandlung transnationaler Akteure als Einheimische erweitert und vertieft. Die Integration Chiles in die Weltwirtschaft wurde zur alleinigen Entwicklungsstrategie.

Im Ergebnis entstand und verfestigte sich dreierlei[1]. Erstens: Die natürlichen Ressourcen und das nationale Territorium Chiles sind für die globale Wirtschaft in bisher unbekanntem Ausmass frei verfügbar. Zweitens: Bei der Expansion und Stärkung der Märkte, bei Investitionen und Dienstleistungen (Finanzen, Umwelt und Kultur) standen private, vor allem transnationale Akteure an erster Stelle. Drittens: Öffentliche Politik und Entwicklung sind vom Markt und nicht vom Gemeinwohl bestimmt. Staatspolitik wurde zum Verfechter privater Vorzugsrechte.

Mit der Verankerung von gesetzlichen Regelungen hierzu wurden in Chile Entscheidungen über die nationale Entwicklung im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit gefällt, und diese Politik wird mehrheitlich von transnationalen Akteuren und einer verschwindend kleinen lokalen Elite bestimmt. Heutzutage wächst in Chile das Umweltkonfliktpotenzial, der politische Sektor verliert an Glaubwürdigkeit, es herrscht eine grundlegende sozioökonomische Ungleichheit und es gibt beträchtliche Unterschiede beim Zugang zur Grundversorgung, zum Beispiel zu Bildung und Gesundheit.

Wasser: Zwischen Menschenrechten und Marktregeln

1981 regelte die Diktatur den Zugang zu Wasser und die Wasserwirtschaft in Chile durch ein neues Wassergesetz. Dieses Gesetz „ist auf den Markt zugeschnitten, es privatisierte das Eigentum am Wasser und trennte das Wasser zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte vom Landbesitz, um seinen freien Kauf und Verkauf zu ermöglichen“. Dadurch wurde es zur Ware.

Das Gesetz aus dem Jahre 1981 definiert Wasser als ein „öffentlich genutztes nationales Gut“, billigt jedoch die Wasserprivatisierung durch die Vergabe von kostenlosen und auf unbegrenzte Dauer gewährten Nutzungsrechten. Hat der Staat erst einmal private Wasserrechte vergeben, erfolgt die Neuzuweisung durch den „Wassermarkt“: Der Eigentümer kann sein Wasser - wie eine Immobilie - verpachten, kaufen und verkaufen. Ergebnis: Heute besitzen nur 3 Unternehmen 90 % der nicht-konsumtiven Wasserrechte für die nationale Erzeugung von Strom aus Wasserkraft[2].

Bei der Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung vollzog sich die Privatisierung und Transnationalisierung während der Regierungszeit von Eduardo Frei (1994-1999) und Ricardo Lagos (1999-2005). Die Wasserwerke wurden privatisiert. Der Prozess fand 2010/2011 während der Regierung von Sebastián Piñera mit dem Verkauf der Aktien seinen Abschluss, die der chilenische Staat bei ESVAL, ESBBIO, ESSAL und AGUAS ANDINAS[3] gehalten hatte.

Heutzutage sind mit Ausnahme von SMAPA in der Gemeinde Maipú im Osten Santiagos und dörflicher Dienstleister alle Wasserwerke in privater Hand[4]. Das ist einer der Gründe, weshalb Chile die teuerste Trinkwasserversorgung in ganz Lateinamerika[5] hat. Die Gewinne fliessen in transnationale Unternehmen wie Suez und Agbar[6], den globalen Finanzsektor wie z.B. Santander Investment, in Pensionsfonds wie den der kanadischen Lehrer.

Der Wasserprivatisierungsprozess führte zu einer extremen Konzentration und Entstaatlichung des Eigentums an dieser natürlichen Ressource. Der Staat gewährte Bergbau- und Forstbetrieben, der Agrarindustrie und Wasserkraftwerken unentgeltlich Rechte an oberirdischen und unterirdischen Gewässern. Damit hat er die Rechte der Mehrheit der Bevölkerung geschmälert und der Ausplünderung der bäuerlichen und indigenen Bevölkerung Vorschub geleistet.

Die Privatisierung bedeutete den Verlust an öffentlicher Kontrolle über die Wasserquellen. Schwerwiegende Probleme im Umweltmanagement und in der Wasserwirtschaft sind die Folge. Gegenwärtig durchlebt Chile eine erhebliche Krise im Umgang mit dem Wasser, denn der Staat hat kaum Möglichkeiten einzugreifen, wenn es im Norden und im Zentrum des Landes immer mehr an Wasser mangelt und die lokalen, regionalen und nationalen Konflikte um den Zugang zu Wasser zunehmen.

Entstaatlichung der Bergbauressourcen

Chile ist der grösste Kupferproduzent der Welt und hat mit diesem Rohstoff einen Anteil von mehr als 35 % an der globalen Wirtschaft[7]. Mehr als ein Jahrhundert lang war der Bergbau für die nationale Wirtschaft von strategischer Bedeutung. 1971 wurden unter der Unidad-Popular-Regierung Allendes die Rohstoffe des Landes per Gesetz 17.450 nationalisiert. Das änderte die damalige Verfassung, und gab dem chilenischen Staat die Kontrolle über die Rohstoffe[8]. Damit wurde die Enteignung der grossen Kupferminen möglich, die sich bis zu diesem Zeitpunkt im ausländischen, hauptsächlich US-amerikanischen Besitz befanden.

Die Militärdiktatur entstaatlichte 1982 durch ein verfassungsergänzendes Gesetz über Bergbaukonzessionen den Sektor wieder, erliess 1983 ein Bergbaugesetz mit umfassenden Bergbaukonzessionen und stellte den unbefristeten Privatbesitz an Bodenschätzen gegen die jährliche Zahlung einer geringfügigen Nutzungsgebühr (Patente Minera) wieder her.[9] So blieb das Privatrecht an den Bergbaukonzessionen verfassungsmässig gesichert, und im Fall einer Enteignung muss der private Konzessionsinhaber in Höhe des zu erwartenden Nettogewinns entschädigt werden, unabhängig davon, ob er erzielt wird oder nicht[10].

Zu dieser Änderung gesellte sich die Liberalisierung der direkten Auslandsinvestitionen durch die Rechtsverordnung 600: Darin wird dem Investor ein Vertrag mit dem Staat ermöglicht und ihm wird die völlige Freiheit eingeräumt, Gewinne und Kapital in sein Heimatland zurückzuführen und auf dem Devisenmarkt zu agieren. Gleichzeitig werden günstige Steuerbedingungen geboten. Diese dem Bergbauinvestor vom Militärregime eingeräumten Garantien ermöglichten die private Kontrolle des Bergbausektors, die von 15 % 1972 auf 47 % 1994, auf 60% 1996[11] und auf über 70 % im Jahre 2005 stieg. Beim Kupfer entfielen 2008 von insgesamt 5.327 Tonnen der vermarkteten chilenischen Produktion nur 27,5 % auf die Codelco und 72,6 % auf private – meist grosse transnationale – Minen[12].

Der Rechtsrahmen der Diktatur, der nach Erlangung der Demokratie beibehalten wurde, hat in Chile den übermässigen Abbau und den Verlust an Erzvorkommen sowie den Verlust an Einnahmen wegen der Transnationalisierung, fehlender Royalties und geringer Steuern fortbestehen lassen.

Ausserdem hat der Bergbau ein schwer zu überwindendes toxisches Erbe hinterlassen. Heute gibt es 149 Abraumhalden; es sind 717 Tailings-Deponien in Betrieb, von denen 300 Sicherheitsprobleme haben,[13] Giftstoffe sickern in Wasserläufe und es sind Auswirkungen in dicht besiedelten Städten wie Andacollo und Copiapó zu spüren.

Die kaum entwickelte Umweltgesetzgebung, die unentgeltlichen Wasserentnahmerechte und der geringe Zahlbetrag für die Bergbaukonzessionen stellen eine Subvention des Bergbaus dar. Zum Beispiel werden in Antofagasta, der Region mit der höchsten Konzentration von Minen im Land, vom Bergbau mehr als eintausend Liter Oberflächenwasser pro Sekunde verbraucht, und die Minen besitzen fast 100 % der Rechte am Grundwasser[14]. Die Nutzung von Grundwasserleitern hat schlimme Folgen für hochgelegene Moore und Feuchtgebiete und gefährdet die Subsistenzwirtschaft der indigenen Gemeinschaften in der Atacama-Wüste.[15]

Berüchtigte Umweltzerstörer sind: Barrick Gold im Huasco-Tal, Region Atacama; Codelco-Andina im Flussbecken des Aconcagua, Region Valparaíso; Antofagasta Minerals im Flussbecken des Choapa und durch AngloAmerican in der Hauptstadtregion von Santiago. Diese Unternehmen haben seit den 1990er Jahren auch Gletscherflächen zerstört, die 21 Millionen m³ (Codelco), 3 Millionen m³ (Antofagasta Minerals) bzw. 9 Millionen m³ Wasser (AngloAmerican) entsprechen.[16]

Es ist absehbar, dass sich auch die Wasser-Konflikte verschärfen werden, denn Bergbau ist vor allem in Gebieten zu finden, in denen starker Wassermangel herrscht.

Im Zentrum des Landes sind die aktuellen Konflikte zwischen Bergbau und Landwirtschaft schärfer geworden. Die Landwirtschaft, die den Exportsektor beliefert und Arbeitsplätze schafft, ist ein strukturelles Hindernis für die Ausweitung des Bergbaus. Auseinandersetzungen mit der lokalen Bevölkerung, denen sich die Regierungen nicht stellen wollten, nahmen zu. Dazu kamen in den letzten Jahren noch die Ausschreibungen für Privatverträge zur Nutzung von Kohlenwasserstoffen und Lithium.

Natürliche Ressourcen, soziales Wohlergehen

Ähnliche Eigentumsverhältnisse und eine ähnliche Bewirtschaftung wie bei den Wasser- und Rohstoffressourcen in Chile gibt es auch bei den Meeresressourcen. Auf der Grundlage des Fischereigesetzes sind die Fischereikonzessionen komplett an den Privatsektor gegangen. Damit gehen die Einnahmen aus den Fischereiressourcen länger als 30 Jahre an nur 7 Wirtschaftsgruppen. Alle Arten, auf die sie ihren Fang konzentriert haben, sind bereits jetzt überfischt. Der genannte Rechtsrahmen wird 2013 gerade neu verhandelt. Es wird einige Umweltauflagen geben, aber die von der Militärdiktatur geschaffenen Eigentumsverhältnisse bleiben unberührt.

Der geltende Rechtsrahmen verhindert, dass die Mehrheit der Chilenen Nutzen aus der Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen des Landes ziehen kann. Das Modell der Bewirtschaftung und des Rohstoffexports schafft kaum Arbeitsplätze; die Entlohnung ist miserabel. Der Bergbau, auf den mehr als 40 % der chilenischen Exporte entfallen, bringt nur 2% der Beschäftigung pro Investitionseinheit hervor und steht unter den Wirtschaftszweigen an letzter Stelle, wenn es um die Schaffung sozialen Besitzstands durch Beschäftigung geht.

Ebenso wenig erhalten die Regionen Vergünstigungen, in denen die natürlichen Mineral-, Wasser- oder Forstressourcen konzentriert sind – sie leisten zwar einen wesentlichen Beitrag zur nationalen Wirtschaft, leiden jedoch unter Armut, einem ausserordentlich schlechten Bildungs- und Gesundheitswesen und fehlender Vorsorge- und Infrastruktur.

Das Wirtschaftssystem und der Rechtsrahmen Chiles bergen strukturelle Probleme in sich, wenn soziale Vergünstigungen aus der Nutzung der Naturreichtümer entstehen sollen. Dies entspricht nicht den von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgestellten Kriterien und hat zu mehr sozialen Konflikten um das Wasser, die Folgen des Bergbaus, die Stromerzeugung und den Zugang zu Gesundheit und Bildung geführt. Die Massendemonstrationen für Wasser und öffentliche Bildung und der Protest gegen Energie- und Bergbauprojekte sowie die Anrufung der Gerichte in diesem Zusammenhang sind Anzeichen einer Legitimitäts- und Handhabungskrise der geltenden Gesetze.

Gegenwärtig zeigt sich eine offenkundige und eklatante Unvereinbarkeit zwischen den Umweltherausforderungen und der wirtschaftlichen Wachstumsagenda in Chile, aber die Regierungen versuchen, die Konflikte zu neutralisieren ohne Abhilfe zu schaffen. Die OECD[17] hat dazu zu verstehen gegeben, dass das Land seine Umweltinstitutionen und seine Wirtschaftspolitik reformieren, Umweltgesetze für jeden Zweig (Bergbau, Forstwirtschaft, Wasser) schaffen, eine mit dem Umweltschutz vereinbare Steuerpolitik entwickeln, ein effizientes Raumordnungssystem schaffen und Kontrollmassnahmen in die Leistungsindikatoren aufnehmen muss.

Chile muss Veränderungen vollziehen und Regierungsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit in der Entwicklung ermöglichen, was die Voraussetzung für den Übergang zu einer tatsächlichen Demokratie ist. Im Rahmen dieser Veränderungen hat Chile mindestens 3 Herausforderungen zu bewältigen:

- Raumordnung und Verbesserung der Vorschriften für eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen. Das beschränkt sich nicht nur auf die Planung von Industrie- und Wohnansiedlungen, die heute vom Grundstücksmarkt beherrscht wird, sondern auf die nachhaltige Nutzung der erneuerbaren und nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen sowie die Unversehrtheit der Ökosysteme.

- Korrektur der Tendenzen zur Abwälzung der Umweltkosten auf die Gesellschaft Beendigung der Aushöhlung des ökologischen Erbes. Das erfordert eine Steuerreform und einen rechtlichen Rahmen, der die Gesundheit der Bevölkerung und der Ökosysteme gewährleistet.

- Erkennbarer Demokratisierungsschub bei der Ausübung sozial-ökologischer Rechte, die in der Verfassung verankert sein müssen[18], zum Beispiel das Menschenrecht auf Wasserversorgung und Abwasserbehandlung, das Recht auf Nahrung, Gesundheit und Bildung, das Recht auf Stadt und Territorium, das Recht auf Naturschutz und auf Schutz der massgeblichen Produktionsmittel wie Wasser, Boden und Energie.

40 Jahre nach dem Militärputsch braucht Chile dringend eine Änderung der gesamten Gesetzgebung zur Nutzung, Bewirtschaftung und Bewahrung der natürlichen Ressourcen, zur Kontrolle des ökologischen Erbes und des BIP. Nur so kann eine sozial-ökologische Nachhaltigkeit der Wirtschaftsentwicklung und eine Korrektur der Muster für die globale Integration bewirkt werden.

Ein Strategiewechsel des Landes – das vom Export abhängig ist – bei der Integration in die Weltwirtschaft könnte in einer nichtkonsumtiven Verwendung seiner natürlichen Ressourcen und der Schaffung von Arbeitsplätzen im Tourismus, in der Nahrungsmittelproduktion und bestimmten Ökodienstleistungen bestehen. Das würde nicht nur die Übernutzung der natürlichen Ressourcen eindämmen, sondern eine stärkere Diversifizierung und eine angemessene Politik zur sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Anpassung an den Klimawandel ermöglichen.

Sara Larraín
boell.de

Sara Larraín ist chilenische Umweltaktivistin und Direktorin des Programms „Chile Sustentable“ (Nachhaltiges Chile).

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-SA 3.0) Lizenz.