Über den Niedergang der linken Regierungen in Lateinamerika Das Ende der progressiven Erzählung

Politik

12. Januar 2017

Angesichts der zunehmenden Gegenstimmen und regierungskritischer Protestwellen steht, verstärkt durch den Tod Hugo Chávez‘ im März 2013, die Frage im Raum, ob die Ägide der progressiven Regierungen in Lateinamerika ihrem Ende entgegengeht.

Maracaibo im nordwesten Venezuelas.
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Maracaibo im nordwesten Venezuelas. Foto: The Photographer ( PD)

12. Januar 2017
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Als Hugo Chávez im Februar 1999 seine Ernennung zum Präsidenten Venezuelas durch das Parlament mit einem Schwur auf die Verfassung besiegeln sollte, erklärte er abweichend vom vorgesehenen Protokoll: »Ich schwöre vor Gott, ich schwöre vor dem Vaterland, ich schwöre vor meinem Volk, dass ich auf Grundlage dieser todgeweihten Verfassung die notwendigen demokratischen Transformationen vorantreiben werde, damit die Republik eine Magna Charta erhält, die der neuen Zeit entspricht.« Diesen grossen Worten sollte bald nicht nur Chávez politische Taten folgen lassen.

Im Verlauf des 21. Jahrhunderts gelangten in einer Vielzahl lateinamerikanischer Länder Regierungen an die Macht, die sich – wenn auch auf unterschiedliche Weise – positiv auf die Tradition der politischen Linken bezogen und das enge Bündnis mit dem venezolanischen Regierungschef suchten. Nachdem im Oktober 2002 Luiz Inácio Lula da Silva die Präsidentschaftswahl in Brasilien und Néstor Kirchner im darauffolgenden Jahr jene in Argentinien gewinnen konnten, übertrug sich der von Chávez angestossene Wandel auf zwei der wichtigsten Volkswirtschaften des Kontinents. Es folgten Wahlsiege unter anderem in Uruguay (2004), Bolivien (2005), Chile (2006), Nicaragua (2006), Ecuador (2007) und Paraguay (2008). Aufgrund ihrer anfänglichen Verbindungen zu den sozialen Bewegungen, der von ihnen betriebenen wirtschaftspolitischen Massnahmen zugunsten der ärmeren Bevölkerungsteile, breiter Bildungsprogramme und der Einbindung der indigenen Bevölkerung in die Mehrheitsgesellschaft wurden diese Regierungen auch von Teilen der europäischen Linken zu Hoffnungsträgern eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts verklärt.

Neben der Neuformulierung der Landesverfassungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela dürfte vor allem aber ihre strikt antiimperialistische, offen gegen den Einfluss der USA gerichtete Rhetorik diese Begeisterung genährt haben. Trotz der bisweilen unverkennbaren Verbesserungen, wie der Reduzierung von Armut oder dem Ausbau infrastruktureller Versorgung, hat sich hinsichtlich des sozioökonomischen Entwicklungsmodells in den meisten Ländern kaum ein grundlegender Wandel vollzogen.

Gleichsam hat die Kritik an jenen Regierungen, für die sich in Lateinamerika die in ihrem utopischen Gehalt im Vergleich zur europäischen deutlich abgeschwächte Bezeichnung der progressiven Regierungen etabliert hat, im Verlauf der vergangenen Jahre erheblich zugenommen: Autoritär sei der Führungsstil, gerade im Vorreiterland Venezuela würden demokratische Grundsätze missachtet, Oppositionelle verfolgt und die Pressefreiheit untergraben. Zweifelhaft sei auch die unverhohlene Annäherung an den Iran, in dem nicht nur Venezuela, sondern auch Bolivien und insbesondere Argentinien unter seiner ehemaligen Präsidentin Cristina Kirchner einen verlässlichen Partner zum Aufbau einer anti-westlichen Allianz sahen.

Angesichts der zunehmenden Gegenstimmen und regierungskritischer Protestwellen steht, verstärkt durch den Tod Hugo Chávez' im März 2013, die Frage im Raum, ob die Ägide der progressiven Regierungen in Lateinamerika ihrem Ende entgegengeht. Die vergangenen Präsidentschaftswahlen in Uruguay, Brasilien, El Salvador und Bolivien deuten zunächst in eine andere Richtung, endeten sie doch sämtlich mit Siegen für die Regierungsparteien. Doch können diese Erfolge nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich abseits der Urnen eine gewisse Abkehr von der Politik der progressiven Regierungen andeutet.

Sowohl die Linke als auch die Rechte der politischen Landschaften, in denen sich die progressiven Regierungen als neue Mitte etablieren konnten, haben begonnen, ihre politischen Kräfte neu zu mobilisieren. Spätestens mit der jüngsten Präsidentschaftswahl im November 2015 in Argentinien ist der sich andeutende Bruch jedoch offenbar geworden. Daniel Scioli, der das Erbe Cristina Kirchners, die qua Verfassung nicht erneut kandidieren durfte, antreten sollte, unterlag in der Stichwahl seinem Herausforderer, dem konservativ-liberalen Mauricio Macri. Doch bereits vor diesem offensichtlichen Einschnitt schwang vielfach innerhalb der »Regierungsräson« Verunsicherung mit. Der Progresismo hat ganz offenbar zunehmend Schwierigkeiten, das politische Narrativ aufrechtzuerhalten, auf das er sein politisches Projekt stützt.

Zeichen des Niedergangs

In den vergangenen Jahren ist es in unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas, deren Staatsführungen dem Progresismo zuzurechnen sind, immer wieder zu weitreichenden Protesten gekommen. Doch die oppositionellen, vornehmlich konservativ geprägten Demonstrationen gegen Argentiniens ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner beziehungsweise gegen den Chavismus in Venezuela waren nicht imstande diesen Unmut derart zu kanalisieren, dass die Regierungen in ernsthafte Schwierigkeiten geraten wären. Und auch in Bolivien und Ecuador konnten die öffentlichen Unmutsäusserungen von Campesinos kaum die politischen Mehrheiten von Evo Morales und seinem Amtskollegen Rafael Correa gefährden.

Dass die Ägide des Progresismo dennoch auf ein Ende zuzugehen scheint, wird hingegen am Beispiel Brasiliens deutlich. Nur wenige Monate nach ihrer knappen Wiederwahl im Oktober 2014 erreichte die Präsidentin Dilma Rousseff in landesweit durchgeführten Umfragen über ihre Beliebtheit, lediglich Werte zwischen sieben und zehn Prozent. Ihr Amtsvorgänger, Parteifreund und möglicher Präsidentschaftskandidat für die 2018 anstehenden Wahlen, Lula da Silva, ist von dieser Ernüchterung keineswegs ausgenommen. Denn abgesehen von der seit jeher entrüsteten Opposition hat die offene Kritik an der Regierung in Brasilien mittlerweile auch die breite Masse der Wählerschaft ihrer gemeinsamen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) erreicht. RegierungsapologetInnen sehen die Ursache für die Unbeliebtheit hingegen ausschliesslich in der ökonomischen Krise sowie dem negativen Einfluss der grossen Medienanstalten.

Tatsächlich ist es bereits seit Juni 2013 um die Popularität Dilma Rousseffs schlecht bestellt. Zunächst kam es in diversen brasilianischen Grossstädten zu Massenprotesten gegen die geplante Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Im Zuge der Fussballweltmeisterschaft im Jahr darauf fanden erneut Grossdemonstrationen statt, auf denen die unverhältnismässigen Kosten des Sportereignisses und die in diesem Zusammenhang grassierende Korruption angeprangert wurden. Aus Sicht der Menschen auf den Strassen wurde in beiden Momenten allzu deutlich, dass sich die Politik der regierenden Arbeiterpartei kaum mehr von der ihrer konservativen Koalitionspartner und den grossen Wirtschaftsunternehmen des Landes unterscheiden lässt.

In völligem Gegensatz zu dieser Tendenz gelang es Rousseffs Arbeiterpartei im Präsidentschaftswahlkampf 2014 ihre historische Wählerschaft erneut für sich zu gewinnen. Durch eine bemerkenswerte Polarisierung der gesellschaftlichen Stimmungslage war es dem PT geglückt, sich neuerlich als Vertreter von Fortschrittlichkeit und sozialer Politik zu präsentieren. Auf den knappen Wahlerfolg der Regierungspartei folgte mit der Kabinettsbildung und den ersten politischen Massnahmen der neuen Legislatur tiefe Entrüstung. Die Präsidentin setzte alsbald Austeritäts- und Regulierungsmassnahmen um, die den Versprechen der Wahlkampagne völlig zuwiderliefen. Hatte sich Rousseff vor der Wahl noch entschieden gegen die von der Opposition geforderte Senkung der Sozialausgaben ausgesprochen, setzte ihre Regierung genau diese anschliessend um. Bezeichnenderweise ernannte die Präsidentin mit Joaquin Levy einen führenden Funktionär einer der grössten Privatbanken des Landes zum Finanzminister und verordnete Haushaltseinsparungen, die in erster Linie zulasten der Arbeiterschaft und des Bildungswesens gingen.

Ebenso bezeichnend war die Ernennung Katia Abreus zur Landwirtschaftsministerin, die bereits vor einiger Zeit von Indígena-Organisationen für ihre Rolle in Umweltskandalen und der Aneignung indigener Ländereien durch grosse Landwirtschaftsbetriebe zur »Miss Motosierra de Oro« (Miss Goldene Motorsäge) gekürt worden war. Doch diese in Richtung der Märkte zielenden Massnahmen waren natürlich nicht in der Lage, den hunderttausenden DemonstrantInnen entgegenzuwirken, die seit Beginn des Jahres die Amtsenthebung Rousseffs forderten.

Die Stimmen jener, die im März, April und August 2015 auf die Strassen gingen, finden zunehmend auch im Kongress Gehör. Immer mehr kann dort die sogenannte »Bancada de la bala, del buey y de la biblia« (Fraktion der Kugel, des Ochsen und der Bibel) ihren Einfluss ausbauen. Das Bündnis aus PolitikerInnen, die den evangelikalen Kirchen, landwirtschaftlichen Lobbyorganisationen oder dem Militär nahestehen, dominiert mit 373 der insgesamt 513 ParlamentarierInnen de facto das Abgeordnetenhaus und kann immensen Einfluss auf die Regierung ausüben. Mit den sozialen Bewegungen hingegen, die einst die Basis des Progresismo in Brasilien bildeten, bestehe laut der Präsidentin kein reger Austausch mehr.

Den konservativen Regierungsfraktionen ist es mithilfe der Bancada gelungen, Bildungsinitiativen zur Bekämpfung der Homophobie zu stoppen, das Mindestalter für die gesetzliche Höchststrafe auf 16 zu reduzieren und die zuvor gesetzlich verbotene Auslagerung von Dienstleistungen in den Niedriglohnsektor für sämtliche Wirtschaftszweige aufzuheben. Von dem einstigen Projekt des sozialen Wandels, das dem Progresismo zu Beginn dieses Jahrtausends umfangreichen politischen Zuspruch verschaffte, ist die Präsidentin also längst abgeschnitten. Unfähig, ausreichend institutionelle Gegenwehr zu mobilisieren, um den konservativen Reformen zu begegnen, bisweilen – wie im Falle der Abschaffung jahrzehntealter Arbeitsrechte – diese selbst vorantreibend, vollzieht sich das Ende des Progresismo unter dessen eigener Regierungsführung.

Auch wenn die Wahlniederlage in Argentinien schwerwiegende Folgen für den Progresismo haben dürfte, vollzieht sich sein eigentlicher Niedergang also auf einer anderen Ebene: der zunehmenden Befürwortung eines konservativen Modells als notwendige Bedingung für ökonomische Stabilität und politische Kontinuität. Obwohl der Progresismo einen Diskurs aufrechterhält, der seine Wählerschaft über die Kritik am Neoliberalismus und die Betonung sozialpolitischer Massnahmen zugunsten der untersten Bevölkerungsteile rekrutiert, wird das politische Handeln der jeweiligen Regierungen, sowie sie mehr und mehr zu Technokratie und dem Ausbau ihres institutionellen Einflusses neigen, zunehmend durch Kalkül hinsichtlich der Umfragewerte und Wählerstimmen geprägt.

In diesem Sinne stellte der Kirchnerismus in der Präsidentschaftswahl 2015 mit Daniel Scioli einen Kandidaten auf, der bislang weder Vertrauen innerhalb der Regierung genossen noch überdurchschnittliche fachliche Expertise vorzuweisen hatte. Was ihn stattdessen auszeichnete, waren einzig seine hohen Umfragewerte und die von ihm geäusserte Zusage, vorherigen Kabinettsmitgliedern entscheidende Posten zu sichern. Dass er sich hinsichtlich seiner politischen Positionen kaum von den konservativen Rivalen Kirchners unterschied, mag mit zu seiner Niederlage in der Stichwahl beigetragen haben.

Auch innerhalb Boliviens Moviemiento al Socialismo (MAS) von Präsident Evo Morales hat das Streben nach politischer Hegemonie dazu geführt, dass sich die Partei medial griffiger und bisweilen der Opposition entlehnter Figuren bedient. Bisherige politische Entscheidungen oder Übereinkünfte mit VertreterInnen der sozialen Bewegungen spielen kaum noch eine Rolle. Nach seiner erstmaligen Wahl zum Präsidenten im Jahr 2005 hatte Morales vielfach Anstrengungen unternommen, tief greifende Reformen durchzusetzen. Vor allem die von ihm angestossene Agrarreform sowie die 2006 einberufene verfassungsgebende Versammlung sollten die bisher stark an den Interessen der gesellschaftlichen Eliten des Landes ausgerichtete Politik zugunsten der ökonomisch und räumlich marginalisierten Schichten öffnen.

Diese Zeiten sind lange vorbei. Das ist für niemanden neu. Doch gerade jene politischen Ansätze der Artikulation politischer Belange gesellschaftlich bislang Unterrepräsentierter und das damit verbundene Streben nach sozialem Wandel, wurden durch konservative Verwaltungspolitik und ein neoextraktivistisches, also auf den Export primärer Rohstoffe ausgerichtetes, Wirtschaftsmodell ersetzt, das als die einzig mögliche Alternative präsentiert wird.

Verstellte Zukunft

Eine Rückkehr zu ihrer einstigen Agenda ist für die progressiven Regierungen hingegen nahezu unmöglich, wird sie doch durch die Dynamik eines politischen Systems verstellt, in dem Wahlkampagnen nur mit der Unterstützung von Wirtschaftsunternehmen finanzierbar sind. Noch dazu sind die Staaten in hohem Masse von den Einkünften aus der Rohstoffproduktion und dem Export abhängig, die zu zweifelhaften Kooperationen mit – gleichermassen auf den möglichst lukrativen Rückfluss ihrer Investitionen zielenden – lokalen Caudillos und internationalen Konzernen führen. Insofern die hier erzielten Gewinne massgebliche Grundlage für die viel gelobten sozialpolitischen Massnahmen der Progresistas sind, ist deren Popularität allem voran von der internationalen Preisentwicklung für primäre Rohstoffe abhängig. Dieses Wirtschaftsmodell setzt, mit bisweilen katastrophalen Konsequenzen für die Umwelt und ohne nennenswerte Industrialisierung des Produktionssektors, nichts anderes fort als das bereits während der Kolonialzeit etablierte Exportmodell.

Dennoch dürfen die Errungenschaften des Progresismo nicht unterschlagen werden: beispielsweise die Aufhebung der Straffreiheit für während der Diktatur von 1976 bis 1983 durch die Militärs begangener Verbrechen und die Einführung eines Kindergeldes für prekär Beschäftigte in Argentinien; die Stärkung regionaler politischer Partizipation in ruralen Gegenden; in Teilen die Neuformulierung der Verfassungen von Bolivien und Ecuador; die erstmalig souveränen Verhandlungen über die Staatsschulden sowie vor allem die Verminderung der extremen Armut in der Mehrzahl der Länder. Eng an den gegenwärtigen Niedergang des Progresismo ist jedoch der Verfall dieser Agenden gebunden.

Deutlich wird dies mit der zunehmenden Armut in Argentinien, der wachsenden Arbeitslosigkeit in Brasilien oder der Verhaftung von Oppositionellen in Venezuela. Hinzu kommt die vorherrschende Ignoranz der Regierungen gegenüber aktuellen sozialen Kämpfen, in denen sich insbesondere in peripheren Regionen indigene Gruppierungen gegen Enteignungen im Zuge von wirtschaftlichen Grossprojekten organisieren. Alternative Wirtschaftsmodelle wie die von kommunitären Organisationsformen der indigenen Bevölkerung inspirierte Vorstellung des »Buen Vivir« – als das Recht auf gutes Leben und die Rechte der Natur – wurden mit der Kontinuität des auf den monokulturellen Anbau von Agrarprodukten und Export von Rohstoffen aufbauenden Wirtschaftsmodells ad acta gelegt.

Betrachtet man die aktuell vorherrschende gesellschaftliche Ungleichheit und die tatsächlichen strukturellen Veränderungen, die zu ihrer Beseitigung vorgenommen wurden, gilt, ebenso wie im Fall des implementierten Wirtschaftsmodells, dass viel eher die progressiven Regierungen durch die ihnen übertragene politische Verantwortung und ihre Einbindung in die staatlichen Institutionen verändert wurden, als die Strukturen selbst. Angesichts der gegenwärtigen politischen Situation durchlaufen die progressiven Regierungen eine ideologische Transformation, die letztlich den Fortbestand ihres politischen Einflusses sichern könnte. Die ursprünglich aus den Forderungen linker Basisbewegungen hervorgegangene politische Agenda wird dabei gegenwärtig durch drei Motive grundlegend verschoben: den Rekurs auf die Versprechungen des Massenkonsums, die rhetorische Verklärung des wirtschaftlichen Aufschwungs sowie zunehmende Einbindung religiöser Motive und ihrer klerikalen VertreterInnen.

Die Darstellungen der RegierungsapologetInnen präsentieren die in der Tat ansteigenden Konsumraten als handele es sich um »einen millionenfachen Aufstieg in die Mittelklasse«. Doch abgesehen davon, dass nicht nur die Bedürfnisse von Bauern, Indigenen und Arbeiterschaft vernachlässigt wurden, indem ein Wirtschaftsmodell befördert wurde, das hauptsächlich zu ihren Lasten geht, lässt die Diskussion ebenfalls ausser Acht, dass sich weder am allgemeinen Vorrang der Ökonomie noch an der Verteilung gesellschaftlichen Wohlstandes etwas verändert hat. Die in Brasilien mit der Intention, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise zumindest geringfügig auch auf die reichsten Sektoren zu verteilen, entworfene Steuerreform wurde durch die Regierung Rousseff abgelehnt. Ebenso hat sich zwar der Zugang zu Konsumgütern allgemein verbessert, doch sind gerade die Bereiche des öffentlichen Diensts, das Gesundheitswesen, die Bildung sowie das Transportwesen davon ausgenommen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat nach wie vor keinen oder nur unzureichenden Zugang.

Indes zeigt auch die Wahl Jorge Mario Bergoglio zu Papst Franziskus wenige Tage nach dem Tod von Hugo Chávez im März 2013 ihre Wirkung auf den Progresismo. Sichtbarstes Beispiel war die Einstellung der zivilrechtlichen Liberalisierungen in Argentinien, die vor allem auf die Gleichstellung und sexuelle Selbstbestimmung von Minderheiten gezielt hatten. In eben diese Richtung weist auch die von Ecuadors Rafael Correa in diesem Jahr völlig überstürzt vorangetriebene Kampagne gegen die – wie er es nennt – »Abtreibungsagenda« und die »Genderideologie«, mit der er der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Ausweitung von Minderheitenrechten entgegenwirken will. Deutlich wird hieran neben dem wachsenden Einfluss kirchlicher Sektoren auch, dass der Progresismo mit dem Kampf für Minderheitenrechte, seit jeher Anliegen der politischen Linken, definitiv gebrochen hat.

Bergoglio hat sich dabei vom führenden Kleriker der Katholischen Kirche in Argentinien, die stets konservativ genug war, um Kunstausstellungen verbieten zu lassen und sich während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 möglichst ruhig zu verhalten, zu einer der Symbolfiguren des Progresismo gewandelt. Nur ist diese Transformation nicht als Konversion Bergoglios zur Befreiungstheologie zu verstehen, mit der er noch weniger zu schaffen hat, als die progressiven Regierungen. Vielmehr weist die mediale Stilisierung verdeckt auf den Einbruch des konservativen Katholizismus in den Progresismo hin.

Gott und Vaterland

Durch die Liaison von progressiven Regierungen und religiösen, unternehmerischen und bisweilen nationalistischen Sektoren, werden die einst auf soziale Antagonismen gerichteten Politikansätze durch ihre konservativen Gegenstücke substituiert. Diese Substitution gestaltet sich jedoch als Verbrüderung oder vielmehr Versöhnung, und zwar insofern als dass der Kampf gegen die strukturelle Ungleichheit gegen das Versprechen von individualistischem Zugang zur Mittelklasse und Unterstützung durch öffentliche Wohlfahrt für die ärmsten Schichten eingetauscht wird. Die gleichsam vollzogene Stärkung der Zentralregierungen verbindet sich mit der Demobilisierung der ehemaligen Basisbewegungen. Begleitet wird diese Entwicklung von unzähligen, auf regionaler Ebene angestrengten Prozessen von Kooptation, Verfolgung von KritikerInnen und der ganz allgemeinen Apologie des paternalistischen Staats.

Die Forderungen, die einst den Prozess des sozialen Wandels angestossen hatten, bleiben dabei zurück. Stattdessen hat sich eine politische Stimmung etabliert, in der Kritik am Regierungsstil der jeweiligen progressiven Staatsführung als gegen die Interessen der Nation gerichtete Dissidenz gebrandmarkt wird. Die damit korrelierende zunehmende Repression gegen RegierungskritikerInnen und ihre Kriminalisierung finden auf geopolitischer Ebene ihre Entsprechung in der aussenpolitischen Orientierung nach Osten. Sowohl rhetorisch als auch ökonomisch haben sich die progressiven Regierungen an autoritäre Regime wie China und Russland angenähert.

Besonders deutlich wird die von den regierenden Linken vollzogene Restauration, die Arbeiterklasse und soziale Bewegungen durch Familie und Mittelklasse ersetzte, in Nicaragua. Seit 2007 wird das Land von Daniel Ortega und dessen sandinistischer Partei regiert. Hatten die SandinistInnen während des Bürgerkriegs in den 1970er Jahren die Landeskirche noch offen bekämpft, verabschiedete das Kabinett des ehemaligen Guerilleros Ortega kürzlich ein Gesetz, das Abtreibungen in jedweder Situation verbietet. Ende 2014 stimmte der Kongress ohne ernst zu nehmende Debatte weiterhin einer Gesetzesvorlage zu, die den Bau eines interozeanischen Kanals quer durch das Land vorsieht. Auf 50 Jahre hin wurde die Souveränität über das Gebiet der zukünftigen Wasserstrasse an eine chinesische Baufirma übertragen, während die gegen ihre Umsiedlung protestierenden AnwohnerInnen sich staatlicher Repression gegenüber sahen.

Auch wenn mittlerweile neue Kämpfe und soziale Bewegungen entstanden sind, die sich nicht länger ihrer jeweiligen Regierung verpflichtet fühlen, scheint eine innere Erneuerung des Progresismo nicht absehbar. Anstelle einer wirklichen post- oder anti-extraktivistischen Gegenkraft, haben vielmehr Gruppierungen Zulauf, die mit einem scheinbar von jedweder Ideologie befreiten Diskurs für die einfachen Menschen die Stelle der früheren Linken einnehmen und einen individualistischen Republikanismus vertreten, der zwischen liberaler Wirtschaftspolitik und religiöser Moral zu vermitteln sucht. Darauf zumindest deutet der Ausgang der argentinischen Präsidentschaftswahl hin.

Salvador Schavelzon
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 52
www.phase-zwei.org

Der Autor ist Sozialanthropologe. Er arbeitet an der Universidade Federal São Paulo und forscht zu sozialen Bewegungen und zeitgenössischen politischen Phänomenen in Lateinamerika. Aus dem Spanischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von der Phase 2 Redaktion Leipzig.