Was es für eine neue Nahost-Politik braucht Das Chaos im Mittleren Osten hat seine Gründe

Politik

11. Januar 2016

Der Westen ist für das Schlamassel mit verantwortlich. Es ist Zeit, in den Spiegel zu schauen. Vorschläge von Jeffrey Sachs.

US-Einheit auf Patrouille in der Provinz Paktika im Osten von Afghanistan im September 2009.
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US-Einheit auf Patrouille in der Provinz Paktika im Osten von Afghanistan im September 2009. Foto: Andrya Hill (PD)

11. Januar 2016
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Die USA, die EU und vom Westen angeführte Institutionen wie die Weltbank fragen sich immer wieder, warum sich der Nahe Osten nicht selbst regieren kann. Die Frage ist ehrlich gestellt, zeugt aber von wenig Selbsterkenntnis. Schliesslich ist das wichtigste Hindernis für eine gute Regierungsführung in dieser Region der Mangel an Selbstverwaltung. Die kaputten politischen Institutionen sind das Ergebnis von wiederholten US-amerikanischen und europäischen Interventionen, die bis auf den ersten Weltkrieg zurückgehen. An manchen Orten sogar noch früher.

Das Jahr 2016 müsste der Anfang eines neuen Jahrhunderts von selbstbestimmter Nahostpolitik sein, die sich auf die dringenden Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung konzentriert.

Ein Jahrhundert ist genug

Das Schicksal der letzten 100 Jahre im Nahen Osten war im November 1914 besiegelt worden, als sich das Osmanische Reich nach dem ersten Weltkrieg auf der Verliererseite wiederfand. Grossbritannien, welches bereits seit 1882 die Kontrolle über Ägypten ausübte, installierte eine wirksame Kontrolle der Regierungen in den heutigen Irak, Jordanien, Israel und Palästina, sowie in Saudi Arabien. Frankreich hingegen, das bereits einen Grossteil von Nordafrika unter seiner Führung hatte, übernahm damals auch noch die Kontrolle über den Libanon und über Syrien.

Offizielle Völkerbundmandate und andere Herrschaftsinstrumente wurden benutzt, um die britische und französische Macht über Öl, Häfen, Schifffahrtswege und die lokalen Führer zu gewährleisten.

In Saudi-Arabien unterstützten die Briten den Wahabitischen Fundamentalismus von König Ibn Saud gegen den arabischen Nationalismus der Haschemitischen Hedschas.

Nach dem zweiten Weltkrieg führten die USA die interventionistische Politik fort, indem sie 1949 einen vom CIA unterstützten Militärputsch in Syrien lancierten [Vertragsabschlüsse mit US-amerikanischen Mineralölunternehmen hinsichtlich des Baus der transarabischen Pipeline, die von den USA favorisiert wurde], und 1953 mit einer anderen CIA-Operation zum Sturz des gewählten Präsidenten von Iran, Mohammad Mossadegh, beitrugen. Ziel war es, dem Westen weiterhin die Kontrolle über das Öl des Landes zu erhalten.

Gleiches Verhalten bis heute

Das gleiche Verhalten hat sich bis zum heutigen Tage fortgesetzt: Der Sturz des libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi im Jahr 2011, der Sturz des ägyptischem Präsidenten Mohammed Mursi im Jahr 2013, und der anhaltende Krieg gegen Syriens Präsident Baschar al Assad.

Fast sieben Jahrzehnte lang haben die USA und ihre Verbündeten immer wieder eingegriffen, oder unterstützten intern geführte Staatsstreiche, um jene Regierungen los zu werden, die sie nicht genügend unter Ihrer Kontrolle hatten.

Mit Waffenverkäufen für hunderte von Milliarden Dollar hat der Westen die Region hochgerüstet. Die USA etablierten und unterhalten Militärbasen in der gesamten Region. Durch wiederholt fehlgeschlagene Operationen des CIA gerieten massive Waffenlieferungen in die Hände von gewalttätigen Gegnern der USA und Europa.

Wenn also westliche Führer fragen, warum sich arabische und andere Länder dieser Region nicht selber regieren können, sollten sie auf nachfolgende Antwort vorbereitet sein: «Während eines ganzen Jahrhunderts haben eure Interventionen demokratische Institutionen unterminiert, namentlich durch die Ablehnung der Ergebnisse der Wahlurnen in Algerien, Palästina, Ägypten und anderswo. Ihr habt wiederholt Unruhen geschürt, die jetzt chronische Kriege sind. Ihr habt die aggressivsten Dschihadisten bewaffnet und damit ein Schlachtfeld geschaffen, das sich heute von Bamako bis nach Kabul erstreckt.»

Was es für eine neue Nahost-Politik braucht

Ich schlage fünf Prinzipien vor:
  • Erstens und am wichtigsten: Die USA müssen verdeckte CIA-Operationen stoppen, die den Sturz oder die Destabilisierung von Regierungen überall auf der Welt zum Ziel haben. Der CIA war 1947 mit zwei Aufträgen gegründet worden: mit einem einleuchtenden (Informationsbeschaffung) und einem katastrophalen (verdeckte Operationen, um feindliche Regimes, die nicht im Interesse der USA agieren, zu stürzen). Per Verordnung kann und sollte der US-Präsident verdeckte CIA-Operationen beenden. Damit würde das Erbe von Rückschlag und Chaos beendet, das die USA vor allem im Nahen Osten verursacht haben.
  • Zweitens: Die USA sollten ihre manchmal durchaus nachvollziehbaren aussenpolitischen Ziele in der Region vom Sicherheitsrat der Uno absegnen lassen. Der derzeitige Weg von US-geführten «Koalitionen der Willigen» ist nicht nur gescheitert, sondern hat dazu geführt, dass selbst einleuchtende US-Ziele wie das Stoppen des IS durch geopolitische Rivalitäten blockiert werden. Die USA würden viel gewinnen, würden Sie Ihre aussenpolitischen Initiativen mit dem Sicherheitsrat abstimmen und absegnen lassen. Als der Sicherheitsrat 2003 den Krieg in Irak ablehnte, wäre es für die USA ratsam gewesen, sie hätten auf eine Invasion verzichtet. Als Russland gegen den von den USA gewollten Sturz des syrischen Präsidenten Assad das Veto einlegte, wäre es für die USA ratsam gewesen, sich verdeckter Operationen zu enthalten, die Assad stürzen sollten. Ohne diese Alleingänge wäre der UN-Sicherheitsrat heute in der Lage, mit einem globalen Plan (nicht mit einem US-Plan ) den IS zu bekämpfen.
  • Drittens: Die USA und Europa sollten die Tatsache akzeptieren, dass Demokratie im Nahen Osten an der Wahlurne viele Siege für die Islamisten hervorbringen wird. Viele der gewählten islamistischen Regime würden bald scheitern, so wie das auch bei vielen andern leistungsschwachen Regierungen der Fall war und ist. Sie werden durch den nächsten Wahlgang, oder durch die Strasse, oder sogar durch lokale Generäle gestürzt werden. Die wiederholten Bemühungen von Grossbritannien, Frankreich und den USA, alle islamistischen Regierungen von der Macht fernzuhalten, werden lediglich den politischen Reifungsprozess in der Region blockieren, ohne dass damit langfristige Vorteile herauszuholen sind.
  • Viertens: Alle einheimischen Führer, von der Sahelzone über Nord Afrika und den Nahen Osten bis nach Zentral-Asien sollten erkennen, dass die allerwichtigste Herausforderung, der sich die Islamische Welt heute gegenübersieht, die Qualität der Bildung ist. Die Region liegt bei ihren mittleren Einkommen weit hinter anderen Teilen der Welt zurück. Das betrifft vor allem Wissenschaft, Mathematik, Technik und Innovation, unternehmerische Initiative, die Entstehung kleiner Unternehmungen und damit die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Ohne qualitativ hochwertige Ausbildung gibt es wenig Aussicht auf wirtschaftlichen Wohlstand und politische Stabilität.
  • Fünftens: Die Region sollte ihre aussergewöhnliche Anfälligkeit für Umweltzerstörungen und ihre übermässige Abhängigkeit von Kohlenwasserstoffen angehen, vor allem mit Hinblick auf die globale Umstellung zu kohlenstoffarmer Energie. Die mehrheitlich muslimischen Gebiete von West Afrika bis Zentralasien sind die weltweit grössten bevölkerungsreichen Trockenzonen. Es ist dies eine 8000 Kilometer lange Schneise der Wasserknappheit, der Wüstenbildung, der steigenden Temperaturen und von Nahrungsmittelunsicherheit.
Dies sind die wahren Herausforderungen für den Nahen und Mittleren Osten.

Die Kluft zwischen Sunniten und Schiiten, die politische Zukunft Assads oder religiöse Lehrstreitigkeiten haben eine entschieden weniger langfristige Bedeutung für die Region. Viel wichtiger ist der ungedeckte Bedarf an qualitativ hochwertiger Bildung, an beruflichen Fähigkeiten, an fortschrittlichen Technologien und an einer nachhaltigen Entwicklung.

Die vielen mutigen und fortschrittlichen Vordenker in der islamischen Welt sollten dazu beitragen, ihre Gesellschaften für diese Realität zu sensibilisieren. Menschen guten Willens auf der ganzen Welt sollten Ihnen durch friedliche Zusammenarbeit dabei helfen, um damit auch das Zeitalter des Imperialismus mit seinen Kriegen und seinen Manipulationen zu beenden.

Jeffrey Sachs / Infosperber

Diesen Beitrag aus «The Jordan Times» hat Uwe Böhm für Infosperber übersetzt.

Professor Jeffrey D. Sachs beleuchtet die historischen Ursachen für die heutigen Konflikte im Mittleren Osten und macht Vorschläge für eine nachhaltige Entwicklung. Der Autor ist Professor für nachhaltige Entwicklung, Professor für Wirtschaftspolitik und Management, Direktor des Earth Institute an der Columbia University. Er ist auch Direktor des Uno-Netzwerkes für nachhaltige Entwicklungslösungen.