Herausforderungen für die nächsten 40 Jahre Umwelt und Demokratie in Chile

Politik

7. Oktober 2013

40 Jahre nach dem Staatsstreich durchlebt Chile eine Zeit bedeutender politischer Veränderungen und zahlreicher sozialer Proteste. Die Forderungen der Studierenden, die der Bevölkerung nach einem besseren Gesundheitswesen, die Forderungen der Regionen und die der Umweltaktivist/innen haben eins gemeinsam.

Proteste in Santiago de Chile gegen das privatisierte Bildungswesen im Frühling 2012.
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Proteste in Santiago de Chile gegen das privatisierte Bildungswesen im Frühling 2012. Foto: FEFP

7. Oktober 2013
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Sie drücken das fehlende Vertrauen in das aktuelle politische System aus, die mangelnde Glaubwürdigkeit der derzeit Regierenden, wirkliche Veränderungen durchzusetzen, die Frustration vieler Jahre des Wartens und die angestaute Wut auf die demokratischen Regierungen nach Pinochet, weil sie eine Vertiefung des neoliberalen Modells zugelassen haben.

Bürgerorganisationen und Öffentlichkeit konstatieren die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen. Es müssen Lösungen gefunden werden. Es ist kein Zufall, dass die meisten sozialen Bewegungen eine gemeinsame Forderung haben. Unabhängig vom Thema führt die Analyse der jeweiligen Situation zu der Erkenntnis, dass die gegenwärtige politische Verfassung das grösste Hindernis für die Umsetzung signifikanter Änderungen ist.

Das ist nichts Neues. Seit etwa fünfzehn Jahren weisen die Umweltorganisationen auf die Notwendigkeit grundlegender Verfassungsänderungen zum Schutz der Gemeingüter, des Naturerbes und zur Regelung der Eigentumsverhältnisse bei Wasserrechten und Bergbaukonzessionen hin. Getan hat sich nichts. Durch die angestrebten Strukturveränderungen soll im Wesentlichen das Subsidiaritätsprinzip des Staates[1] beendet werden, der einen bedeutenden Teil der öffentlichen Aufgaben an Privatunternehmen und Marktwirtschaft übertragen hat.

Noch heute herrscht das neoliberale Modell, das während der Diktatur aufkam. Die verschiedenen demokratischen Regierungen, die nach 1990 im Wechsel an der Macht waren, haben keine wesentlichen Änderungen vorgenommen, sondern vielmehr das neoliberale System verwaltet und konsolidiert.

Umwelt im Dienste des Wachstums

Die Verabschiedung des ersten Umweltgesetzes Chiles im Jahr 1994 brachte keine wesentlichen Neuerungen zum Schutz des Naturerbes. Tatsächlich diente das Gesetz der besseren Verwaltung des „Systems der Umweltbewertung von Projekten“, das heisst, des Verfahrens zur Erlangung einer umweltrechtlichen Genehmigung. Aber im konkreten Fall ist das System ungerecht, weil es die Gleichheit vor dem Gesetz nicht garantiert. Daraus entstanden sehr schnell Umwelt- bzw. soziale und ökologische Konflikte, die sich im Laufe der Zeit weiter zuspitzten.

Die Ursachenanalyse der Konflikte ergibt, dass die gesetzlichen Regelungen die Verfassungsbestimmungen nicht effektiv garantieren können. Danach hat jeder Mensch ein Recht auf ein Leben in einer verschmutzungsfreien Umwelt. Das Umweltgesetz gewährleistet nicht einmal ein Mindestmass an Schutz der natürlichen Ressourcen und Ökosysteme, da entsprechende Branchengesetze höherrangig und weitreichender sind.

Die Regierungen haben Initiativen zur Entwicklung und zur Einführung von anspruchsvolleren Regelungen zum Umwelt- und Naturschutz bzw. zum Umgang mit den natürlichen Ressourcen gebremst. Die Folge ist, dass in Chile die Unternehmen entscheiden, wie, wann, wo und mit welcher Technologie sie ihre Projekte entwickeln. Um die Erlaubnis zur Durchführung eines Investitionsvorhaben erteilt zu bekommen, müssen sie lediglich einen wenig anspruchsvollen Prozess zur Bewertung der Umweltfolgen durchlaufen.

Die Umwelt wird also in den Dienst des Wirtschaftswachstums gestellt. So brachte es auch ein Minister für die Geschäftsbereiche Wirtschaft, Bergbau und Energie der Regierung des Sozialisten Ricardo Lagos zum Ausdruck, als er sagte: "Wir glauben, dass die Umwelt Mittel zum Zweck ist. In dem Masse, wie wir sie umgestalten, werden wir in der Lage sein voranzukommen, neue Bereiche zu erobern" und fügte dann hinzu: "Wenn es schon Umweltorganisationen gegeben hätte, als Kolumbus in See stach, hätte man uns nie entdeckt. Über 20% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Um diesen Menschen eine angemessene Arbeit zu geben, müssen wir neue wirtschaftliche Aktivitäten fördern. Und erst danach werden wir uns um die Vögelchen und die Bäumchen kümmern."

Dieser Satz bringt einen Leitgedanken der wechselnden Regierungen nach der Pinochet-Ära zum Ausdruck: Wirtschaftswachstum ist der einzige Weg zur Armutsreduzierung. Eine Beschränkung der Wirtschaftstätigkeit richtet sich dagegen. Daraus resultiert die Sorge, dass neue Umweltvorschriften die Privatinitiative stoppen könnten.

Demokratiedefizite

Das genannte Zitat ist ein extremer Fall politischer Ehrlichkeit ist. Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die chilenischen Umweltvorschriften Defizite aufweisen, die in der Praxis das demokratische Recht der Bürger/innen auf Akzeptanz oder Ablehnung wirtschaftlicher Aktivitäten beschneiden.

Das Umweltgesetz gewährt den Bürger/innen nur einen minimalen Mitwirkungsraum: Die dort gewährte Bürgerbeteiligung hat rein konsultativen Charakter. Den Bürger/innen wird die Möglichkeit genommen, über Projekte zu befinden. Dies erzeugt Frustration und ein Gefühl der Hilflosigkeit und Wut.

Das gleiche gilt für die Konvention Nr. 169 der ILO: Schon allein der Zeitraum von 17 Jahren, der seit der Vorlage im Jahr 1991 bis zu ihrer endgültigen Annahme im Jahr 2008 vergangen ist, zeigt, wie schwierig es war, die vorherige, freie und informierte Befragung der indigenen Völker in die nationale Gesetzgebung aufzunehmen. In der Praxis hat sie dennoch keinerlei verbindlichen Charakter. Der Anwalt Jorge Contesse sagt darüber: „Das ist ein Museumsstück, das höchstens für die Erkenntnis, woher wir kommen, was passiert ist und wie viel Menschen sich engagierten, wichtig ist. Ansonsten hat sie wenig praktischen Nutzen.“

Neben den rechtlichen Schwierigkeiten gibt es in den chilenischen Institutionen Mängel in der Eigenständigkeit bei der Entscheidungsfindung: Die Ausarbeitung und Umsetzung von öffentlichen und privaten Projekten wird von lokalen Behörden befürwortet oder abgelehnt, in denen Vertraute des Präsidenten der Republik tätig sind. Das heisst, die Lobbyarbeit der Regierung hat Einfluss bis in die obersten Behörden. Und als wäre das nicht genug, gibt es in den Territorien keine rechtlich verbindlichen Pläne, um gegen die Umsetzung eines spezifischen Projekts vorzugehen.

Chile hat auch keine Gesetze, um Bestand und Qualität solcher öffentlicher Güter wie Artenvielfalt (von Ökosystemen, Arten und Genen) und Gewässern (Binnengewässer und Meer) zu gewährleisten. Es fehlen gesetzliche Regelungen in den Bereichen Raumordnung, Naturschutz bzw. Schutz der Artenvielfalt, des Bodens, der Gletscher und Wasservorkommen. Und schliesslich sei noch angemerkt, dass die Konzessionen im Bergbau- und Energiesektor sowie die Wasserrechte an Privatunternehmen auf unbegrenzte Zeit vergeben werden.

Auf der anderen Seite sind die Kontrollmöglichkeiten der staatlichen Stellen in den verschiedenen Bereichen fast Null. Dadurch werden Zerstörung und/oder Verschmutzung von Ökosystemen, Abbau und Verwertung von natürlichen Ressourcen bis zu deren Verschwinden sowie die Fortführung eines auf Extraktion und Export von natürlichen Ressourcen beruhenden Entwicklungsmodells ermöglicht. Gewinne werden privatisiert und Verluste vergesellschaftet.

Diese Mängel haben dazu geführt, dass die Öffentlichkeit andere Mittel suchte, um Produktionsvorhaben zu stoppen. Die sozialen Proteste sind dabei der sichtbarste Ausdruck. Der effektivste aber war zweifellos der Rechtsweg. Gemeinden, die diesen Weg wählten, weil sie nicht mehr auf eine Reaktion der Regierung warten wollten, konnten mit Hilfe von Gerichten erfolgreich Projekte stoppen.

Ist dieser Weg auch legitim, so ist er nicht ideal. In einem Land mit grossen Ungleichheiten wie Chile ist der Zugang zur Justiz auch im Hinblick auf die Kosten ungleich. Nach und nach verliert dieses Mittel auch an Effizienz, weil die Regierungen auf die Einschaltung der Gerichte mit neuen gesetzlichen Regelungen reagiert haben, durch die – wie es bei der vor kurzem beschlossenen Gesetzgebung zum Thema Elektroenergie der Fall war – die Zustimmung zu Investitionen im Schnellverfahren erleichtert werden soll.

Zur rascheren Durchführung von Projekten wurde das Komitee zur Erleichterung von Investitionen gegründet, dessen Ziel „die Beratung des Präsidenten bei der Umsetzung der öffentlichen Politik zur Erleichterung von Investitionsvorhaben und der Einsatz als Koordinierungsinstanz der beteiligten staatlichen Stellen“ ist. Projekte werden aber von den politischen Stellen und Beamten mitunter als „von nationalem Interesse“ eingestuft, wodurch der Staat zu einem Partner dieser Vorhaben wird. Damit gibt er seine (im Subsidiaritätsprinzip festgelegte) Neutralität auf und nimmt so a priori eine positive Haltung zu einem bestimmten Projekt ein. Diese Situation wird durch ein eher wenig strenges System der Umweltprüfung noch verschärft.

Herausforderungen für die Zukunft

In einer Zeit, wo des 40. Jahrestages des Putsches gedacht wird, muss sich Chile im Umweltsektor zahlreichen Herausforderungen stellen: Die chilenische Umweltpolitik wird durch ein wenig anspruchsvolles Gesetz geregelt, das weder Mensch noch Natur schützt. Durch das bestehende System wurde das neoliberale Modell verschärft, bei dem die Rolle des Staates in extremer Form reduziert, die Privatwirtschaft gefördert und sogar subventioniert und der Abbau der natürlichen Ressourcen ohne Rücksicht auf Umwelt- oder soziale Kosten gefördert wird. Tiefgreifende Veränderungen sind nötig: Verfassungsreform, Überprüfung und Aktualisierung aller Rechtsvorschriften, in die Parameter zum Umwelt- und Naturschutz aufgenommen werden müssen, neue Regelungen für den Umgang und den Schutz von Gemeingütern.

Unser Land muss mittelfristig einen Weg gehen, durch den es sich vom extraktivistischen neoliberalen Modell, bei dem der Kupferbergbau von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft ist, so entwickeln kann, dass dem Staat eine grössere Rolle zukommt. Er muss in der Lage sein zu regeln, zu steuern und zu kontrollieren. Dadurch könnte die starke wirtschaftliche Konzentration, die von einigen wenigen wirtschaftlichen Gruppen gelenkt wird, beendet und stattdessen die Produktion in verschiedenen Bereichen diversifiziert werden, um die nationalen und/oder regionalen Märkte zu versorgen.

Die Konzentration der Produktion (Bergbau, Fischerei, Forstwesen), die derzeit auf dem Abbau und dem Export von natürlichen Ressourcen auf einem niedrigen Verarbeitungsniveau basiert, muss zu einem Gesellschaftsmodell gewandelt werden, in dem Menschen, Ökosysteme und lokale Ökonomie wertgeschätzt, die Wirtschaft diversifiziert und die lokale Entwicklung für die einheimischen und regionalen Märkte gefördert werden.

Dies ist keine leichte Aufgabe. Es geht darum, den falschen Nutzen des gegenwärtigen Modells zu bekämpfen und nicht darum, mehr Kupfer zu produzieren, um mehr Bildung zu finanzieren und so weiterhin mehr Kupfer zu produzieren. Die Herausforderung besteht darin, zu einer tiefgreifenden politischen und sozialen Reform zu gelangen, die sich den Schutz von Personen, Gemeingütern und Natur zu eigen macht, damit dieses Thema in Zukunft nicht mehr nur als eine Verpflichtung angesehen wird, der man nur nachkommt, um bestimmte Sektoren zu beruhigen oder die soziale Unzufriedenheit zu mildern.

Flavia Liberona
boell.de

Fussnoten:

[1] Das Konzept der Subsidiarität bedeutet nach der chilenischen Verfassung, dass der Staat eine zweitrangige Rolle einnimmt und nur dann eingreift bzw. agiert, wenn die Privatunternehmen nicht handeln wollen.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-SA 3.0) Lizenz.