Ein Interview mit der LGBT-Organisation RedSomos aus Bogota „Die LGBT-Community ist kein Ghetto“

Politik

7. September 2016

Die im Oktober 2012 aufgenommenen Friedensverhandlungen zwischen der Regierung Santos und der FARC-EP in Kolumbien schufen die Möglichkeiten für kolumbianische AktivistInnen, sich erneut verstärkt zu organisieren und öffentlich Präsenz zu zeigen.

LGBT-Demonstration in Bogota am 30. Juni 2013.
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LGBT-Demonstration in Bogota am 30. Juni 2013. Foto: Diego Harker (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

7. September 2016
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Im vorangegangenen Jahrzehnt unter Santos Vorgänger Alvaro Uribe, war jede Form des Aktivismus als „Unterstützung des Terrorismus“ diffamiert und blutig durch den Paramilitarismus unterdrückt worden. Eine dieser jungen Organisationen, die in den vergangenen Jahren ihre öffentliche Präsenz immer weiter ausbauen konnte, ist die LGBT-Konföderation RedSomos aus Bogota.

Jan Ronahi [LCM]: Hallo Miguel, kannst du dich und deine Organisation kurz vorstellen? Wie organisiert ihr euch und an welchen sozialen Kämpfen seid ihr beteiligt?

Mein Name ist Miguel Angel Barriga und ich bin der Direktor der LGBT-Organisation RedSomos. Wir sind eine politische und soziale Organisation, die vor 8 Jahren in Bogota gegründet wurde. Unsere Arbeit besteht im Prinzip in einer Politik der Unterstützung von Minderheiten im Kampf um ihre Rechte – z.B. LGBTs, aber insbesondere auch Jugendliche und Menschen mit Behinderungen, eben alle die von Diskriminierung und systematischer Benachteiligung betroffen sind. Unser Kampf dreht sich daher hauptsächlich um die Auseinandersetzung mit systematischer Stigmatisierung, die Unterstützung von sozialen und politischen Rechten und die Ermutigung von betroffenen Menschen gegen diese Verhältnisse aufzubegehren.

Jan Ronahi [LCM]: Kannst du uns mehr über die soziale und politische Situation von LGBTs in Kolumbien erzählen? Wie verhält sich der Staat zu LGBT-Rechten und wie steht die Mehrheit der Bevölkerung dazu?

Der Kampf für LGBT-Rechte und für die Partizipation von LGBTs in der Gesellschaft kommt in den letzten Jahren gut voran. Das hat vor allem damit zu tun, dass besonders in den grossen Städten soziale Bewegungen aufgekommen sind, die das Schicksal von LGBTs in der Öffentlichkeit thematisieren und sich gegen homophobe/transphobe Gewalt, Ausschluss, Missbrauch und andere Formen der Gewalt gegenüber Menschen, die nicht in das heteronormative Gesellschaftsbild passen, aussprechen. In den Städten sind wir daher auch mit weit weniger Diskriminierung konfrontiert, auch wenn auch dort noch immer eine Kontinuität der systematischen Verletzung der Menschenrechte von LGBTs festzustellen ist.

Im Besonderen von Gewalt betroffen sind z.B. Trans-Frauen, die einem sehr hohen Gewaltlevel ausgesetzt, von weiten Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen sind und deshalb auch kaum Spielraum für eine sichere Existenz in unserer Gesellschaft haben. Sie landen häufig auf der Strasse. Und das Leben auf der Strasse in Kolumbien heisst, dass sie viel eher mit Armut, Gewalt, Missbrauch usw. konfrontiert sind, da dieser Bereich der Gesellschaft eben mehr mit diesen Problemen zu kämpfen hat. Das ist jetzt natürlich nur ein Beispiel, an dem wir feststellen können, dass es auch in der LGBT-Community Unterschiede im Grad der Diskriminierung, aber auch des sozialen Status gibt. Die LGBT-Community ist keine soziale Klasse, sondern ein gesellschaftlicher Teilbereich, der sich aus vielen gesellschaftliche Klassen zusammensetzt – eben aus reichen und armen Menschen besteht. Es ist offensichtlich, dass arme LGBTs unter viel stärkerer Diskriminierung leiden, z.B. was den Zugang zu ihren Rechten oder sexueller Erziehung anbelangt.

Jan Ronahi [LCM]: In Europa haben wir das Problem, dass die grossen LGBT-Organisationen sich sehr stark am Staat orientieren oder sogar in staatliche Institutionen integriert sind. Das führt dann zu der Tendenz, dass viele LGBT-Aktivisten sich nicht an anderen politischen Kämpfen, z.B. Klassenkampf oder Antiimperialismus, beteiligen. Wie definierst du eure Organisation im Verhältnis zu den sozialen Bewegungen?

Wir haben uns immer als eine Organisation verstanden, die dasResultat des Zusammenwirkens aller unser Mitglieder darstellt. Darüber hinaus verorten wir uns ganz klar in der Kontinuität der Studentenrevolten, von linkem politischen Aktivismus und der progressiven Bewegung in unserem Land. Wir stehen daher natürlich nicht nur für LGBT-Rechte ein, sondern eben auch für progressive, linke Ideen und Konzepte. Auch deshalb, weil wir immer betont haben, dass unser Kampf keine Sache ist, die Abseits einer generellen gesamtgesellschaftlichen Veränderung stattfinden kann, sondern nur mit ihr. Unser Bemühen geht daher in die Richtung unser Anliegen und unsere Kämpfe mit anderen zu verknüpfen, z.B. mit den Kämpfen um die Befreiung der Frau.

Jan Ronahi [LCM]: Kolumbien ist ein sehr vielfältiges Land, das sich aus Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zusammensetzt. Spielt aus deiner Sicht auch Rassismus und Klassen-Diskriminierung eine Rolle in der LGBT-Bewegung?

Diskriminierung ist eine soziale, keine kulturelle Praxis und vollzieht sich in einer Gesellschaft als Ganzes. Da die LGBT-Community Teil dieser Gesellschaft ist, reflektiert sie natürlich genauso wie andere Teile der Gesellschaft Ungleichheitsideologien, wie eben Rassismus und Diskriminierung aufgrund von sozialer Klasse. Es ist mir wichtig klarzumachen, dass die LGBT-Community kein Ghetto ist, sie also nicht als ein von der Gesellschaft getrennter Raum betrachtet werden darf. Stattdessen ist unsere Community genauso Teil einer Gesellschaft in der Elitismus, Klassismus und Ausschluss ein integraler Bestandteil unseres alltäglichen Lebens ist. Deshalb gibt es natürlich Teile in der LGBT-Bewegung, die klassistische oder elitistische Einstellungen haben. Wir sollten auch nicht vergessen, dass das, was wir für LGBT-Kultur halten, sehr häufig ein Import aus dem Westen, vor allem der USA, ist – besonders im Hinblick von Konsumismus oder der Bedienung der LGBT-Industrie, die es bereits in anderen Ländern gibt. Aus all diesen Gründen definieren wir die Community und Bewegung nicht als ein Raum abseits der Gesellschaft, sondern als politisches Kampffeld.

Jan Ronahi [LCM]: In den vergangenen Jahren versuchten insbesondere konservative und die radikale Rechte in Europa das Thema LGBT-Rechte für ihre rassistischen und neoliberalen Agenden zu instrumentalisieren, z.B. indem behauptet wird Muslime seien homophober als andere Teile der Bevölkerung. Es gibt auch Teile der LGBT-Community, die dieser Argumentation folgen. Beobachtest du Ähnliches in Kolumbien oder verfolgt die radikale Rechte eine traditionell repressive Rhetorik gegenüber LGBTs?

Generell ist die LGBT-Community in unserem Land kein Machtfaktor, d.h. unser Kampf wird von keiner der etablierten Partien in irgendeiner Form berücksichtigt. Allerdings haben in jüngster Zeit einige linke Parteien und Personen begonnen, unseren Kampf in die Öffentlichkeit zu tragen und zu verteidigen. Während die politische Linke unsere Forderungen aufnimmt, lehnt die Rechte und weite Teile der Konservativen unsere Agenda ab. Und da es eben relativ unwahrscheinlich ist, dass wir in den nächsten Jahren eine linke Regierung bekommen, wird es vorerst keine Institutionalisierung der Bewegung geben. Interessanterweise können wir aber feststellen, dass die kolumbianische Oligarchie beginnt, sich der Tatsache anzupassen, dass der Kampf für LGBT-Rechte immer stärker präsent ist: So hatte der derzeitige konservative Präsident Santos eine LGBT-Unterstützergruppe im Rahmen des Wahlkampfs. Aber: Diese Leute repräsentieren weder die Bewegung als Ganzes, noch haben sie in der Bewegung nennenswerten Einfluss.

Jan Ronahi [LCM]: Wie positionieren sich denn die linken Parteien und Bewegungen genau zu eurer Agenda? Wie sieht ihre Unterstützung aus?

Um die Frage korrekt zu beantworten ist es wichtig zwischen linken LGBT-Organisationen einerseits und traditionellen und ideologischeren politischen Parteien zu unterscheiden, wie z.B. die Kommunistische Partei Kolumbiens (PCC) oder die verschiedenen maoistischen Parteien. Wir begrüssen es, dass letztere Parteien und Gruppen heute unseren Kampf reflektieren und unterstützen, da das lange Zeit nicht der Fall war. Zur gleichen Zeit muss zu diesen Organisationen kritisch angemerkt werden, dass sie, da sie einen höheren Grad an Struktur aufweisen als die Bewegung, versuchen uns zu repräsentieren und zu vereinnahmen. Es ist dann eben dieser taktische Zugang dieser Parteien, der uns bis zu einem gewissen Grad Abstand zu ihnen halten lässt. Sehr häufig stimmen wir jedoch Teilen ihrer Agenda zu und unterstützen diese auch tatkräftig. Inwieweit mit Parteien der politischen Linken zusammengearbeitet werden soll, ist ein stark diskutierter und kontroverser Punkt in der Bewegung, da die LGBT-Frage eben in erste Linie eine politische und nicht zwangsläufig eine soziale Dimension hat. Da jedoch insbesondere unsere Organisation den Kampf breiter definiert als lediglich das Einfordern von Rechten für LGBTs, gibt es für uns stärkere Anknüpfungspunkte bei anderen linken Organisationen.

Jan Ronahi [LCM]: Die gesellschaftliche Situation in Kolumbien ist weiterhin stark vom anhaltenden bewaffneten Konflikt geprägt. Welche Rolle spielen deiner Meinung nach LGBTs in diesem Konflikt? Wie positioniert sich die Mehrheit der Bewegung zu den Friedensverhandlungen zwischen der Regierung Santos und den FARC?

Es gibt zwei Aspekte, die mir im Zusammenhang mit dieser Frage wichtig erscheinen und die sich aufeinander beziehen: Der eine Aspekt bezieht sich auf die Frage, warum wir Frieden brauchen und die Friedensverhandlungen deshalb notwendig sind. Der andere bezieht sich auf die Frage, inwieweit und in welcher Form LGBTs vom bewaffneten Konflikt betroffen waren – insbesondere wenn wir über die Opfer des Konflikts und mögliche Wiedergutmachungen reden. Der bewaffnete Konflikt hat unserer Meinung nach sowohl in der Vergangenheit als auch in verschärftem Masse heute die Möglichkeiten einer politischen Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnisse verkleinert, da er eine Situation der brutalen Repression gegenüber jeder Form politischer Opposition, Stigmatisierung und Kriminalisierung von Protest, sowie einer starken Beschränkung bürgerlicher Freiheiten hervorgebracht hat.

Der bewaffnete Kampf lies also ab einem bestimmten Punkt keinen Raum mehr für die Entwicklung politischer Agenden und deren Diskussion in der Öffentlichkeit. Wenn es also keine Möglichkeit gibt, sich öffentlich für die Rechte von LGBTs auszusprechen, das Ganze also überhaupt erst zu einem Thema in der Gesellschaft zu machen, dann unterliegt es weiterhin einem gesellschaftlichen Tabu. Hinzu kommt, dass es eine unglaublich hohe Zahl von Menschen gibt, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung im Rahmen des bewaffneten Konflikts Opfer wurden. Das betrifft insbesondere transsexuelle Menschen. Menschen, die z.B. aufgrund ihrer sexuellen Orientierung mit Gewalt gezwungen wurden ihre Häuser zu verlassen und zu fliehen. Die Friedensverhandlungen generieren demgegenüber eine Situation, in der es endlich möglich wird, über diese Opfer des bewaffneten Konflikts und über die Normalität der Existenz von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen in der Gesellschaft öffentlich zu sprechen.

Jan Ronahi [LCM]: Zum Schluss: Hast du eine Nachricht für die Bewegung in Europa?

Ja, die habe ich. Der Kontext unserer Kämpfe ist sehr unterschiedlich, aber ich denke es ist dennoch unglaublich wichtig, Erfahrungen auszutauschen, die in den verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten und Kämpfen gemacht werden konnten. Ich möchte die europäische LGBT-Bewegung einladen, sich mehr mit der Situation in Lateinamerika – einem Kontinent der so genannten Dritten Welt – auseinanderzusetzen, weil wir auch hier einige Erfolge für die Rechte von LGBTs erkämpfen konnten. Diese Kämpfe waren noch schwerer als in Europa, da unsere Länder für eine lange Zeit Regierungen hatten, die um einiges mehr an der politischen Rechten orientiert waren und überhaupt keine Toleranz in LGBT-Fragen zeigten. Bis heute gibt es keinerlei Projekte zur sexuellen Aufklärung oder zur Förderung von Toleranz gegenüber LGBTs, noch werden autonome Initiativen wie wir mit staatlichen Mittel gefördert. Neben dem politischen Austausch sind wir daher auch für Ratschläge bzgl. einer autonomen Finanzierung unserer Projekte dankbar.

Jan Ronahi / lcm