Kanadas Abschied vom Kyoto-Protokoll Können Neuwahlen Kanadas Kohlenstoffrausch beenden?

Politik

30. September 2015

Kanada gilt als internationaler Klimanachzügler, besonders auf Grund der exzessiven Förderung von Ölsand. In der aktuellen Parlamentswahl sind erstmals Umwelt- und Klimafragen zum Herzstück der Debatte über die kanadische Wirtschaft geworden.

Industrieller Abbau von Teersand in der kanadischen Provinz Alberta.
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Industrieller Abbau von Teersand in der kanadischen Provinz Alberta. Foto: Dru Oja Jay, Dominion (Howl Arts Collective) (CC BY 2.0 cropped)

30. September 2015
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Wird die seit 2007 regierende konservative Partei von Premierminister Stephen Harper bei den kanadischen Neuwahlen am 19. Oktober abgewählt? Darauf hoffen zumindest globale Klimaschützer. Denn Kanada, das weltweit an neunter Stelle der globalen Luftverschmutzer steht, hat inzwischen den weltweit höchsten Pro-Kopf-Austoss von klimaschädlichen Treibhausgasen. Schuld daran ist die Wirtschaftswachstumsstrategie der Harper Regierung über die letzten neun Jahre, die seit ihrem Amtsantritt im Februar 2006 darauf gesetzt hat, das nördliche Land am Rande der Arktis, das nach Saudi Arabien und Venezuela über die drittgrössten Ölreserven der Welt verfügt, zu einer Energiesupermacht zu machen. Mittel dazu – burn, baby, burn – ist die geplante Verdoppelung der Förderung von Kanadas Bitumen-reichen Teersanden vor allem aus der westlichen Provinz Alberta von derzeit 2.1 Millionen auf 5 Millionen Barrel Öl pro Tag.

Umweltschützer/innen wurden zu Staatsfeinden

Zur Verteilung und den Export dieses dreckigen marginalen Öls, dessen extrem klimabelastende industrielle Erschliessung überhaupt erst durch moderne Fördertechnologien, den globalen Rohstoffboom und weltweit steigende Rohölpreise profitable wurde, treibt die Harper-Regierung seit Jahren mehrere massive Öl-Pipeline Projekte voran – darunter das wohl international bekannteste Pipeline Projekt Keystone XL, das kanadisches Öl nach Texas pumpen soll und seit Jahren auf die Zustimmung der US-Regierung wartet.

Um diese Projekte im eigenen Land durchzusetzen, unterhöhlte die konservative Regierungsführung seit Amtsantritt die bestehende Umweltgesetzgebung systematisch. Einheimische Gegner dieser Strategie – Umweltschützer, lokale Aktvist/innen und Stammesangehörige der aborignal First Nations – wurden zu Staatsfeinden deklariert und geheimdienstlich überwacht. Zudem haben signifikante Budgetkürzungen über die Harper-Jahre das kanadische Umweltministerium, vor allem dessen Abteilungen für Klimawandel und Luftschutz, derart geschwächt, dass das kanadische Regime für Umweltverträglichkeitsprüfungen in den Worten der Parteiführerin der kanadischen Grünen, Elizabeth May, "selbst für ein Entwicklungsland lachhaft" wäre.

Abschied vom Kyoto-Protokoll

Die von der Harper-Administration vorangetriebene kanadische Teersand-Expansion war auch der Hauptgrund hinter dem Austritt Kanadas im Dezember 2011 aus dem Kyoto-Protokoll, der bislang einzigen internationalen Klimavereinbarung mit verbindlichlichen Emissionsreduktionszielen, zumal klar war, dass das Land seine Kyoto-Verpflichtung, seine Emissionen bis 2012 um sechs Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren, nicht halten konnte. Tatsächlich lag Kanadas Ausstoss an Grünhausgasen nur ein Jahr später bereits 23 Prozent über dem Kyoto-Ziel. 2013 dann zog sich die Harper-Regierung – als bislang einzige Nation weltweit –auch aus der UNO Abkommen zur Bekämpfung der Wüstenbildung (UNCCD) zurück, was zuhause als "Abkehr von der Weltgemeinschaft“ gesehen wurde. Kanadische Kritiker wie Maude Barlow vom Council of Canadians höhnten, der UNCCD-Austritt sei nur folgerichtig, denn die Harper Regierung "wolle an nichts beteiligt sein, dass mehr Beweise dafür erbringt, dass unsere Welt in einer existentiellen Umweltkrise steckt.“

International gilt Kanada inzwischen zusammen mit Australien, Japan und Russland als "internationaler Klimanachzügler“ und als Bremsblock für konstruktive Klimaverhandlungen. Diese Gruppe der Klima-Paria-Staaten, Kanada inklusive, spielt nach Ansicht des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan "Poker mit dem Planeten und dem Leben zukünftiger Generationen.“ Laut kanadischen Presseberichten waren es auch Kanada und Japan, die gemeinsam beim deutschen G7-Gipfel im Juni in Elmau hinter den Kulissen fieberhaft daran gearbeitet haben, die Klimapassage in der G7-Abschlusserklärung und damit Bundeskanzlerin Merkels G7-Ambition zu verwässern. Angesichts dessen kommt das überraschende Versprechen der Harper-Regierung, 300 Millionen Kanada Dollar in den neuen Grünen Klimafonds (GCF) einzahlen zu wollen, fast einem kleinen Wunder gleich – oder ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Die USA als Vorbild

Jahrelang versuchte Premier Stephan Harper Kanadas niedriggesteckete Klimaschutzziele mit dem Hinweis darauf zu rechtfertigen, Kanada strebe aufgrund der symbiotischen wirtschaftlichen Verwebung mit den USA eine enge Harmonisierung der Klima- und Energiepolitik der beiden Nachbarstaaten an. Es war mit Blick auf und als angebliches Match für die amerikanischen Klimaschutzzusagen auf dem Kopenhagener Klimagipfel 2009, dass Kanada in Kopenhagen sein damaliges Reduktionsversprechen von 17 Prozent weniger Emissionen als im Referenzjahr 2005 bis zum Jahr 2020 gab – was eine deutliche Schwächung des kanadischen Kyoto-Versprechens bedeutete. Legt man die gegenwärtigen gesetzlichen Energie- und Klimavorschriften zugrunde (und ohne deren signifikante Verschärfung), werden Kanadas Emissionen bis 2020 bereits volle 26 Prozent über dem Kyoto-Wert liegen mit einem stetig wachsenden Anteil der Klimaschadstoffe, die durch die Tarsandförderung verursacht werden. Letztere könnten bis 2020 bereits 14 Prozent des gesamten kanadischen Schadstoffausstosses ausmachen.

Der Ehrgeiz und die Erfüllbarkeit kanadischer Klimaschutzziele sind damit untrennbar mit der Klärung der kanadischen Teersandfrage verwoben. Aus dem Nachbarland USA hat das auch der Wahlkampfleiter der möchtegern US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, John Podesta, unterstrichen und Kanada aufgefordert, auf heimischen Boden, mehr zu tun um seine "exzessiven Emissionen“ durch Teersande zu kompensieren.

Keine faire Emissionsminderung

Der Versuch Stephen Harpers sich hinter einer vermeintlich fehlenden US-Klimapolitik zu verstecken, um von eigenen Klimapolitikdefiziten abzulenken, wird seit einigen Jahren immer schwieriger: der grosse Bruder im Süden investiert prozentual deutlich mehr in grüne Jobs und erneuerbare Energie als Kanada, das sich grüner Investitionen in Höhe von 10 Milliarden Kanada-Dollar seit 2006 rühmt. Die Obama-Regierung hat zudem jetzt im Vorlauf des historischen Klimagipfels in Paris im Dezember freiwillige amerikanische Emissionsreduktionsversprechen vorgelegt, die der kanadische Premier als zu aggressiv, um mit ihnen gleichzuziehen beschrieben hat.

Tatsächlich bekommt der von Kanada Mitte Mai vorgelegte konkrete Vorschlag, welche freiwilligen Verpflichtungen das Land im neuen internationalen Klimaabkommen mit Gültigkeit ab 2020 eingehen will (Intended Nationally Determined Contributions, INDC) von Klimaexpert/innen das Prädikat "ungenügend“ verliehen, die zudem davon ausgehen, dass Kanada die selbstgesteckten Ziele ohne umwälzende Energiepolitikreformen bei weitem verfehlen wird. Die Harper Regierung bietet eine Treibhausgasemissionsminderung von 30 Prozent bis 2030 gegenüber 2005 an. Der Vorschlag ist zum einen unaufrichtig, weil Kanada Emissionskredite, die es für seine Wälder und Tundren als Kohlenstoffsenken bezieht, miteinrechnet und sich zudem die Option offenhält, das nationale Emissionsreduktionsziel auch mithilfe des internationalen Emissionshandels (offsetting) zu erreichen.

Zum anderen ist die angebotene Emissionsminderung viel zu wenig: ein fairer globaler Anteil wäre nach Einschätzung von Expert/innen angesichts der Verschmutzerrolle und Wirtschaftsmacht Kanadas eine Senkung der kanadischen industriellen Emissionen um mindestens 73 Prozent bis 2030 gegenüber 2005. Zum Vergleich: Das US-amerikanische INDC stellt eine 26-28 prozentige Reduktion gegenüber 2005 bis 2025 in Aussicht, die EU verspricht eine 40prozentige Schadstoffausstossverringerung gegenüber 1990 bis 2030, jeweils ausschliesslich durch Massnahmen auf heimischen Boden zu erreichen.

85 Prozent der kanadischen Teersande müssten im Boden bleiben

Wie in den USA noch bis vor kurzem, ging Politikambition und Umsetzungswille in den letzten Jahren als Folge von Untätigkeit oder gar Regression im Klimabereich auf Bundesebene vor allem von einzelnen kanadischen Provinzen oder von Städten wie Vancouver aus. Letzere rühmt sich beispielsweise, die niedrigsten Schadstoffemissionen unter allen wichtigen nordamerikanischen Metropolen zu haben, und spricht sich offen gegen die Kinder Morgan Transgebirgische Pipeline aus, die Vancouver mit dem selbsterklärten Ziel, "die grünste Stadt der Welt“ zu werden, stattdessen in einen der wichtigsten Exporthafen für Schweröl verwandeln würde.

Vier Provinzen (British Columbia, Quebec, Ontario und Teersandregion Alberta) haben im April 2015 ein gemeinsames Kohlenstoffpreis-System beschlossen. Ontario, nach Alberta Kanadas zweitgrösste Verschmutzerregion, hat bereits 2014 alle seine Kohlekraftwerke vom Netz genommen und trat im April auch offiziell dem regionalen Kohlenstoffmarkt der Western Climate Initiative teil, in dem Quebec und das amerikanische Kalifornien bereits gemeinsam agierten.

Allerdings unterstützen die Provinzfürsten generell auch die Teersand- und Ölförderung und den Ausbau der nationalen Pipelinekapazität. Erst im Juli stimmten die Führer der kanadischen Provinzen einer Nationalen Energiestrategie zu, die sehr zum Leidwesen der kanadischen Klimaschützer/innen keine Emissionsreduktionsziele enthält und die Expansion von Teersanden sogar noch einfacher machen könnte. Will die globale Gemeinschaft aber ihr 2 Grad Celsius Erwärmungsziel nicht überschreiten, so müssen nach Kalkulationen von Klimaforscher/innen 85 Prozent der kanadischen Teersande im Boden bleiben. Damit müsste die gesamte kanadische Teersandförderung nach gegenwärtigen Förderraten in nur sieben Jahren beendet werden.

Volatilität der Ölpreise führt zu wackliger Wirtschaft

Wie gross die Rolle ist, die Stephen Harpers ungenügende Klima- und Umweltpolitik – in der nationalen Umsetzung und auf dem internationalen Parkett – im laufenden kanadischen Wahlkampf spielen wird, ist ungewiss. Dass sie aber eines der wichtigeren Wahlthemen sein kann, die zudem den Konkurrenten der Oppositionsparteien aller Coleur eine breite Angriffsfläche auf den amtierende Premier bietet, ist klar. Denn die Energiegrossmacht-Wachstumsstragie der konservativen Regierung hat die kanadische Wirtschaft auch der Volatilität globaler Ölpreise ausgesetzt und zur Jahresmitte 2015 an den Rand der Rezession gebracht.

Die "wacklige Wirtschaft“, Sorgen um wachsende Lebenshaltungskosten und Nahrungsmittelpreise und die Zukunft der Pensionssysteme sind nach jüngsten kanadischen Meinungsumfragen die vier erstplazierten Themen über die befragte Bürger/innen mehr von den Parteiführern hören wollen, gefolgt an fünfter Stelle vom Umweltschutz. Eine erste Fernsehdebatte der vier Hauptkandidaten/innen ums Premierministeramt Anfang August, in der Premierminister Harper den Wirtschafts- und Umweltkurs seiner Regierung gegenüber Angriffen von Tom Mulcai (National Democratic Party, NPD), Justin Trudau (Liberale) und Elizabeth May (Grüne) verteidigen musste, zeigte, dass mit dem Streit um die Ölpipelines erstmals Umwelt- und Klimafragen zum Herzstück der Debatte über die kanadische Wirtschaft geworden sind.

Für eine wachsende Anti-Pipeline-Volksbewegung aus Umwelt- und Klimaschützer/innen, lokalen Aktivisten/innen und Vertreter/innen der First Nations, die ein nationales Moratorium weiterer Teersandvorhaben fordern, ist der Wahlkampf damit auch die Chance für eine nationale Debatte darüber, welche Wirtschaftsstrategie Kanada braucht, um der Herausforderung des Klimawandels zu gegegnen. Die First Nations, deren Landrechte durch das kanadische oberste Verfassungsgericht garantiert sind und in vielen Einzelfällen den Pipeline-Projekten die Durchquerung ihrer Territorien verwehren, spielen dabei eine besondere Rolle und sind nach Einschätzung der kanadischen Autorin Naomi Klein "unsere beste Chance“ für den Stopp der kanadischen Teersandexpansion.

Klimaschutz ist wichtiger als Pipelinebau

Die Stossrichtung dieser Volksbewegung geniesst breite Zustimmung in der kanadischen Bevölkerung, wenn man einzelnen Meinungsumfragen trauen darf. Laut einer Erhebung des kanandischen Climate Action Networks (CAN Canada) vom April diesen Jahres findet eine Mehrheit von 61 Prozent der Befragten (natürlich mit Unterschieden je nach Parteizugehörigkeit) den Klimaschutz wichtiger als Pipelinebau und Teersandförderung und gar 70 Prozent wollen das ihr Land international eine Führungsrolle im Klimaschutz übernimmt. Überraschend deutlich ist auch die Gender-Differenzierung dieser Befragung: rund 12 Prozent mehr kanadische Frauen als Männer wollen deutliches Handeln im Klimaschutz. Sie stellen auch die Mehrheit der noch unentschlossenen Wähler und haben damit nach Ansicht von Loiuise Comeu von CAN Canada in dieser Wahl "die Macht, Kanada in Sachen Klimaschutz zu bewegen.“

Kanadische öffentliche Meinung zum Klimawandel ist im übrigen seit Jahren relativ stabil, mit mehr als 60 Prozent aller Befragten besorgt über Klimaveränderungen und einer grundsätzlichen Erwartung, dass Regierungen (sowohl auf Bundes- wie auf Provinzebene) mit Vorschriften und Gesetzesgebung im Klimaschutz aktiv werden müssen. Ob die im Vergleich zur US-amerikanischen Bevölkerung insgesamt prozentual grössere Unterstützung kanadischer Bürger für den Klimaschutz dieses Mal Konsequenzen an der Wahlurne hat, ist allerdings – zumindest im Blick auf die Ergebnisse der letzten beiden Bundeswahlen in Kanada 2008 und 2011, die Stephen Harper im Amt bestätigt haben – ungewiss.

Naomi Klein, andere kanadische Kommentaren – und letzlich Klimaschützer und vom Klimawandel bereits Betroffene in aller Welt – hoffen, dass das anhaltende "Leidenschaftsdefizit,“ wonach Kanadas Wähler zwar Klimaschutz wollen, aber andere Dinge eben noch mehr, am 19. Oktober endlich überwunden werden kann.

Liane Schalatek
boell.de

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