Nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff Brasilien zwischen Korruption und Machtkämpfen

Politik

22. Juli 2016

Rekapitulieren wir was anfangs Mai dieses Jahres die brasilianische Politik geprägt hat: Der brasilianische Senat beschloss mit 55 zu 22 Stimmen, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff zu lancieren, sie wurde für 180 Tage suspendiert.

Die politischen Kräfte die sich gegen Rousseff gewendet haben, sind letztlich dieselben, mit denen die PT über Jahre hinweg zusammengearbeitet hat.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Die politischen Kräfte die sich gegen Rousseff gewendet haben, sind letztlich dieselben, mit denen die PT über Jahre hinweg zusammengearbeitet hat. Foto: Lucio Bernardo Jr. (CC BY 3.0 cropped)

22. Juli 2016
1
0
9 min.
Drucken
Korrektur
Ihr Amt wurde von Michael Temer der PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro), die grösste (Mitte-Rechts) Partei Brasiliens, übernommen. Während diesen 180 Tagen muss der Senat, unter Leitung des obersten Gerichtshofes, die Vorwürfe gegen Rousseff untersuchen und über ihre definitive Absetzung entscheiden. Die Vorwürfe beziehen sich hauptsächlich auf Bilanztricks im Staatshaushalt, doch Rousseff wird zusätzlich von der Opposition beschuldigt, im sogenannten „Petrobras-Skandal“ beteiligt gewesen zu sein. Letzteres spielt jedoch für das Amtsenthebungsverfahren keine Rolle, doch das Bild der Regierung Rousseff hat sich in der Öffentlichkeit angesichts der Korruptionsskandale zum Negativen gewendet. Der Prozess gegen die ehemalige Präsidentin könnte Monate dauern und ob sie je wieder zu ihrem Amt kommt ist zunächst unklar.

Rousseff sieht sich als Opfer eines politischen Manövers der Opposition, sie wirft ihren Gegnern vor, die schwere politische Lage in Brasilien (Inflation, Wirtschaftsrezession und Korruptionsskandale) auszunutzen, um ohne Wahlen an die Macht zu gelangen. In ihrer Partei PT (Partido dos Trabalhadores) spricht man von einem Staatsstreich. Es ist übrigens seit der Militärdiktatur das zweite Mal, dass die PMDB zur Präsidentschaft gelangt ohne dafür gewählt worden zu sein (1985 übernahm José Sarney das Amt von Tancredo Neves, der vor seinem Amtsantritt verstarb).

Doch die Kräfte die sich gegen Rousseff gewendet haben, sind letztlich dieselben, mit denen die PT über Jahre hinweg zusammengearbeitet hat.

Über die PMDB

Die PMDB hat seit dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien (1985) versucht, sich eine Machtposition innerhalb des Staates zu erkämpfen. José Sarney, Mitglied der PMDB, übernahm 1985 den Posten des verstorbenen Neves (der erste „demokratisch“ gewählte Präsident Brasiliens). Der Amtsantritt Sarneys geschah unter Zustimmung der Militärregierung, denn Sarney war für die Machteliten kein unbekanntes Gesicht. Vor seinem Beitritt in die PMDB war er langjähriges Mitglied der offiziellen Partei der Militärregierung ARENA (Alianca Renovadora Nacional). Die PMDB gibt sich zwar oft neutral, doch ihr Machtstreben und ihre bürgerlichen, rechts-konservativen Tendenzen sind eindeutig.

Seit 1995 haben sie sich klar als Macht etabliert, Fernando Henrique Cardoso, ein Sozialdemokrat der im selben Jahr Präsident wurde, war 1986 Senator für die PMDB bevor er 1988 die PSDB (Partido de la Social Democracia) gründete. Ein alter Bekannter der PMDB wurde also 1995 zum Regierungschef gewählt. Seine neoliberale Regierung verbündete sich umgehend mit der Rechten Partei PFL (Partido del Frente Liberal) und der PMDB um ihre Machtposition zu festigen. Ohne die Allianz mit der PMDB wäre es sowohl für die Regierung von Cardoso, wie auch für die Regierungen von Lula und Rouseff unmöglich gewesen, Brasilien zu regieren. Der Einfluss und die Macht der PMDB wird deutlicher, wenn man folgende Fakten berücksichtigt: Die PMDB hat am meisten Senatoren (18) im Bundessenat und zugleich stammt der Präsident des Senats, Renan Calheiros, aus ihren Reihen.

In der Abgeordnetenkammer ist die PMDB zurzeit die zweitstärkste Kraft (mit 65 Abgeordneten) hinter der PT, bis vor kurzem war Eduardo Cunha der PMDB Präsident der Abgeordnetenkammer, doch angesichts seines Rücktritts (er ist auch in Korruptionsskandale verwickelt) hat Waldir Maranhao, Mitglied der PP (Partido Progressista), einer rechtskonservativen Partei, seinen Posten übernommen. Zudem weist die PMDB auch die grösste Anzahl an Gouverneuren (7 von 27) und Bürgermeistern (1.002 von 5.568) auf. Deshalb war es für Rousseff verheerend, als im März dieses Jahres, die PMDB ihren Austritt aus der Regierungskoalition bekannt gab, die Position von Rousseff wurde hierdurch zusätzlich geschwächt.

Die Arbeiterpartei PT

Die PT wurde 1980 gegründet, unter ihrer Flagge fanden sich viele verschiedene, selbsternannte linke Gruppierungen, von Gewerkschaften bis zu christlichen bzw. befreiungstheologischen Gruppen wie z. B. die CEB´s (Comunidades Eclesiales de Base). Die PT hemmte schon bald jegliche revolutionäre Perspektive, indem sie sich der bürgerlich-parlamentarischen Ordnung unterordnete. Für viele Linke schien die PT dennoch, vor allem wegen ihrem Massenmobilisierungspotential, interessant. Doch auch das ist mittlerweile verloren gegangen, wie sich im Jahr 2013 zeigte, wo Brasilien die grössten Unruhen seit dem Ende der Militärdiktatur zu spüren bekam und die PT, nachdem sie die Kraft dieser Bewegung bemerkte, verzweifelt versuchte die Massen unter ihre Fahne zu bringen.

Die Leute liessen sich jedoch nicht für die PT-Agenda instrumentalisieren, was zunächst die Regierungstreue Linke dazu veranlasste, die Demonstrationen als „Mittelschichts-Aufstand“ zu diffamieren. Laut den PT Anhänger gab es ja gar keine Gründe um zu protestieren, denn den Ärmsten ging es angeblich besser denn je. Solche Ansichten sind kein Grund zur Überraschung, denn seit über 12 Jahren ist die PT eine der wichtigsten Stützen der kapitalistischen Ordnung, sie arbeitet im Namen des Kapitals und fördert zugleich begrenzte Sozialreformen um die Klassenkonflikte zu dämpfen.

Als Lula da Silva, Gründungsmitglied der PT, 2003 zum Regierungschef gewählt wurde, galt er für viele Linke als Hoffnung, doch seine Regierung glich nach kurzer Zeit immer mehr dem neoliberalen Programm seines Vorgängers Cardoso. Sogar innerhalb der PT gab es schwerwiegende Konflikte, kurz nachdem 2003 Lula zur Macht kam. Lula hat z. B. die von Cardoso vorgeschlagenen Rentenreformen vehement kritisiert und später ähnliche Reformen selbst vorgeschlagen, was zur Kritik und Spaltungen innerhalb der PT selbst führte. Seine Regierung verbündete sich von Anfang an mit dem In- und Ausländischen Kapital. Was Lula gelungen ist, ist einen Konsens zwischen der bürgerlich-reformistischen „Linke“ und der Bourgeoisie zu bilden. Einerseits sorgte er dafür das Kapital weiterhin Profit generieren konnte, andererseits versuchte er eine „soziale Miteinbeziehung“ der unteren Schichten zu betreiben.

Was hingegen Dilma Rousseff angeht, lässt sich den Charakter ihrer wirtschaftsfreundlichen Politik am deutlichsten durch ein paar kurze Beispiele erläutern.

Das Staudammprojekt am Rio Xingu

In Belo Monte, im brasilianischen Amazonasgebiet, wurden seit 2013 zehntausende Bauern und indigene Gruppen zwangsumgesiedelt um Platz für eines der grössten Wasserkraftwerke weltweit zu schaffen. Die Regierung zögerte nicht lange, wenn es darum ging, militärische Spezialeinheiten ins Amazonasgebiet zu schicken um die Lage unter Kontrolle zu behalten. Als „Gegner des Fortschritts“ bezeichnete Rousseff all diejenigen, die gegen den Staudamm Widerstand leisteten, ihre Regierung verbündete sich hierbei nicht zum ersten Mal mit Grossunternehmen um Mensch und Umwelt auszubeuten. Nicht zu vergessen ist, dass Lula da Silva bei seiner Präsidentschaftskampagne versprach, das Amazonasgebiet zu beschützen.

Für die Regierung Rousseff, die die politische Agenda Lulas weiterführte, war die oberste Priorität, mit den bürgerlichen Parteien zusammenzuarbeiten und das Staudammprojekt durchzuboxen. Sie kollaborierten auch mit José Sarney, der grossen Einfluss auf das Unternehmen „Eletronorte“ hat, und übergaben letztlich das Projekt diesem Unternehmen. Bis 2019 soll das Wasserkraftwerk am Rio Xingu fertig sein und seit Mai dieses Jahres sind die ersten Turbinen in betrieb.

Die Krise der Autoindustrie

Im Jahr 2015 waren die Hälfte der 29 Autofabriken in Brasilien von der Wirtschaftskrise betroffen, alleine in der Autoindustrie wurden über 37.000 Arbeitsplätze vernichtet, die Regierung stellte sich wieder einmal auf die Seite der Grossunternehmen wie Mercedes-Benz, Fiat, Ford, General Motors oder Peugeot Citroen und sah den Massenentlassungen tatenlos zu. In den letzten 10 Jahren hatten zunächst immer mehr Automobilkonzerne in Brasilien Fabriken eröffnet, weil die PT Regierung für politische Stabilität garantierte. Doch nach dem „Petrobras-Skandal“ und der Rezession in der Wirtschaft suchten die Autoriesen andere Märkte, Mexiko hat mittlerweile Brasilien als grössten Autoproduzent in Lateinamerika abgelöst.

Die steigende Arbeitslosigkeit, das sinkende Realeinkommen und das schrumpfende Bruttoinland Produkt sind einige der Gründe für die Krise innerhalb der Autoindustrie, denn die Kaufkraft innerhalb Brasiliens ging zurück und veranlasste die Autoriesen dazu, durch Massenentlassungen, ihren Profit zu sichern. Grossunternehmen wie Mercedes-Benz stellten sogar zynische Forderungen an die Arbeiter, wie z.B. in Sao Paolo: Zur Rettung von Arbeitsplätzen sollten die Arbeiter eine Lohnsenkung von 10%, die Halbierung der für 2016 vorgesehenen Lohnanpassungen und weitere Zugeständnisse machen, ansonsten drohte die Vernichtung von 1500 Arbeitsplätzen.

Nachdem über 7000 Arbeiter eine Woche lang streikten, verhandelten die Gewerkschaften folgenden Deal aus: Alle Arbeiter werden wieder eingestellt und ihre Arbeitsplätze für ein Jahr gesichert, und im Gegenzug wird allen Angestellten den Lohn um 20 % gekürzt. Dass bestimmte Gewerkschaften dies als Sieg bezeichnen, sagt bereits viel über die Gewerkschaften selbst aus. Insgesamt wurden in Brasilien 2015 über 1 Million Arbeitsplätze vernichtet, die Krise geht bis heute weiter und die PT-Rousseff Regierung reagierte mit einem drastischen Sparprogramm: Löhne wurden gekürzt und Sozialleistungen (im Wohnungs- und Gesundheitsbereich) gestrichen.

Nach dem 12 Mai

Temer hat gezeigt, dass er eine rücksichtslosere, marktfreundlichere Politik als Rousseff anstrebt und bemüht ist, private Investitionen in Brasilien anzukurbeln. Staatliche Unternehmen sollen zunehmend privatisiert werden (z. B. der Ölproduzent Petróleo Brasilero) und Sozialleistungen gekürzt werden. Im Gegensatz zur PT Regierung von Rousseff ist Temer nicht darum bemüht das Bild einer „sozialen Regierung“ zu propagieren, Krankengelder und Invalidenleistungen sollen um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Auch das Rentensystem will Temer, zur Entlastung des Staatshaushalts, reformieren, zudem hat er verschiedene Ministerien zusammengefügt oder geschlossen und die jeweiligen Posten ausschliesslich mit weissen Männern besetzt. Es wurden z. B. die eigenständigen Ministerien für Frauenangelegenheiten, Rassengleichheit und Menschenrechte in das Justizministerium eingegliedert.

Das Kulturministerium wurde ganz geschlossen (und nach Protesten wieder eröffnet). Auch die geplante Aufnahme von ca. 100.000 syrischen Flüchtlinge innerhalb einer Zeitspanne von 5 Jahren die Rousseff eingeleitet hatte, wurde durch Temer aufgegeben. Neben all diesen massiven Problemen, fangen im August dieses Jahres die Olympischen Spiele an. Noch unter Rousseff wurde ein Anti-Terror Gesetz eingeführt - ein Gesetz das zur Kriminalisierung sozialer Protesten dienen kann und das „allgemeine Gesetz der Olympischen Spiele“, welches das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, an Wettkampfsorte einschränkt. Zum „Schutz der Spiele“ wurde eine Rekordzahl von 65.000 Polizisten und 20.000 Soldaten aufgeboten. Dass die Polizeigewalt ein extremes Problem darstellt in Brasilien ist bereits Vielen klar, dennoch hier ein paar Zahlen von Amnesty International dazu: Während der WM 2014 wurden in Rio de Janeiro 580 Menschen getötet, und seit 2009 (seitdem Brasilien als Gastgeber der Olympischen Spiele 2016 feststeht), starben ca. 2500 Menschen durch Polizeigewalt.

Es sieht fast so aus als stünde Brasilien eine neue Welle von sozialen Kämpfen bevor. Die Regierung von Temer hat nicht nur mit Widerstand auf den Strassen zu rechnen, angesichts der neuen Korruptionsskandale (die dieses Mal das politische Umfeld von Temer betreffen), verlieren sie auch im Parlament zunehmend an Stärke. Die Regierung verfügt über keinen starken Rückhalt in der Bevölkerung, das anfängliche Misstrauen gegenüber Temer hat sich verstärkt.

Pepe

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-SA 3.0) Lizenz.