Afrika: Das Ende des Mythos Weder hoffnungsloser Fall noch Wirtschaftswunder

Politik

13. April 2016

Verzerrte Bilder und Übertreibungen prägen die Berichterstattung über den schwarzen Kontinent. In den Berichten über Afrika dominieren pauschalisierende Extreme: entweder fataler Pessimismus oder Euphorie.

Strassenverkehr in Accra, der Hauptstadt von Ghana. Afrika ist weder ein hoffnungsloser Fall noch ein Wirtschaftswunder, zumal nicht als einheitliche Masse.
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Strassenverkehr in Accra, der Hauptstadt von Ghana. Afrika ist weder ein hoffnungsloser Fall noch ein Wirtschaftswunder, zumal nicht als einheitliche Masse. Foto: Francisco Anzola (CC BY 2.0 cropped)

13. April 2016
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Der freie Journalist und Afrika-Kenner Fabian Urech analysiert die Medienberichte der letzten Jahre und plädiert für eine differenziertere Sichtweise auf den vielfältigen Kontinent:

Lange galt Afrika als eine von Katastrophen und Kriegen geprägte Ödnis ohne Zukunft. Noch vor einigen Jahren drehten sich westliche Medienberichte über den schwarzen Kontinent fast ausschliesslich um Dürren und Hungersnöte, Staatscoups, Schulden und Krankheiten. Der amerikanische Journalist Christopher Hitchens schrieb in den 90er-Jahren, es sei «völlig unmöglich, auch nur eine Erfolgsgeschichte auf diesem verlorenen Kontinent zu finden.» Der Afrika-Korrespondent von Le Monde, Stephen Smith, beklagte vor dreizehn Jahren: «Die Hälfte des Kontinents ist verwüstet durch Kriege, die andere vegetiert dahin zwischen Krise und Korruption, Tribalismus und Anarchie.»

Doch so hartnäckig sich das Bild eines «hoffnungslosen Kontinents» («Economist» um die Jahrtausendwende) während Jahrzehnten gehalten hatte, so radikal schien es sich in den letzten rund fünf Jahren zu verändern. Auf einmal war in Medienberichten und Sachbüchern allenthalben vom «Afrika-Boom» die Rede, vom «Löwen auf dem Sprung», vom «zukunftsträchtigsten Investitionsstandort» oder vom «erwachenden Riesen». Für US-Präsident Barack Obama war Afrika die «nächste grosse Erfolgsstory der Welt», der ehemalige nigerianische Präsidenten Olusegun Obansanjo bezeichnete das 21. Jahrhundert als das «Jahrhundert Afrikas». Der südafrikanische Politologe Simon Freemantle meinte letztes Jahr: «Kaum eine Woche vergeht, ohne dass eine neue Studie oder eine Konferenz das Wachstumspotential des Kontinents lobpreist.»

Vom Krisen-Kontinent zum aufstrebenden Wachstumsmarkt, vom fatalistischen Afropessimismus zum Narrativ eines Afrika-Booms – und dies innerhalb weniger Jahre. Was war passiert?

Schöne neue Welt

Die plötzliche Euphorie um die Länder südlich der Sahara speiste sich vor allem aus Zahlen zum Wirtschaftswachstum. Nachdem die meisten Volkswirtschaften Afrikas in den 80er- und 90er-Jahren kaum gewachsen waren, wiesen die Statistiken seit der Jahrtausendwende auf einen bemerkenswerten Umschwung hin. Die zehn grössten Volkswirtschaften Afrikas wuchsen im vergangenen Jahrzehnt um über 50 Prozent. Über die Hälfte der am schnellsten wachsenden Ökonomien der Welt lag in Afrika, das laut der OECD spätestens nach der Finanzkrise zum «Wachstumspol der angeschlagenen Weltwirtschaft» geworden war.

Weiteren Auftrieb erhielt das neue Narrativ des aufstrebenden Afrikas durch vielversprechende Statistiken zum Wachstum der Exportvolumen und der ausländischen Direktinvestitionen, durch Berichte über das Entstehen einer afrikanischen Mittelschicht sowie durch die explosionsartige Zunahme von Mobiltelefonen. Nicht zuletzt schien auch die Demokratie auf dem schwarzen Kontinent endlich auf dem Vormarsch: Vielerorts wurden seit den 90er-Jahren regelmässig Wahlen durchgeführt, mancherorts entstand eine kritische Zivilgesellschaft.

Gerade unter internationalen Investoren führten die positiven Meldungen aus dem Süden zumindest zeitweilig zu einer regelrechten Goldgräberstimmung. Die stagnierende Wirtschaft im Westen und der sich etwas abkühlende asiatische Markt liessen die Geschäftsmöglichkeiten und die imposanten Wachstumsraten in Afrika umso verheissungsvoller erscheinen. «Afrika wird als letztes Neuland gesehen, in dem noch maximale Profite möglich sind», unterstrich der südafrikanische Soziologe Devan Pillay. Zu beobachten war dies etwa am Ansturm auf afrikanische Staatsanleihen, die nach dem Schuldenschnitt vor zehn Jahren rasch zum Verkaufsschlager wurden. Für ruandische Anleihen übertraf die Nachfrage der Investoren das Angebot um das Achtfache, für sambische gar um das Fünfzehnfache. Viele waren überzeugt: «Afrika ist das neue China.»

Mitgetragen wurde das neue Afrika-Narrativ derweil auch von vielen Entwicklungshilfeorganisationen. Nach Jahren der Stagnation und vieler Rückfälle, welche die Effektivität und den Sinn der zahllosen Hilfsprogramme immer wieder in Frage gestellt hatten, kamen die guten Neuigkeiten gerade recht. Nun hatte man etwas in der Hand, wenn hartnäckige Kritiker nach dem Nutzen der über 50 Milliarden Dollar fragten, die jährlich in afrikanische Entwicklungsprojekte fliessen.

Zwar waren in der medialen Berichterstattung über Afrika – etwa in Artikeln über Ebola oder die Kriege in Zentralafrika – hin und wieder Rückfälle ins alte Bild eines rückständigen, unverständlichen «Herzens der Finsternis» zu beobachten. Insgesamt aber wurde das alte Stereotyp des verlorenen Kontinents in breiten Kreisen abgelöst durch das neue Narrativ eines aufstrebenden, viel verheissenden Wachstumsmotors.

Das Ende des Mythos

So sehr der neue Optimismus Afrika zu gönnen war, so sehr waren Zweifel berechtigt. Können über fünfzig Staaten innert weniger Jahre synchron vom chronischen Misserfolg zum nachhaltigen Wachstumspfad finden?

Der rasante Absturz der Rohstoffpreise, der Ende 2014 einsetzte, lässt wenig Spielraum für Interpretationen. Im vergangenen Jahr sind die Volkswirtschaften Afrikas noch um 3,8 Prozent gewachsen, der tiefste Wert seit 16 Jahren.

Im Wissen um den Haupttreiber der zuvor imposanten Wachstumsraten erstaunt dies freilich nicht: Laut Schätzungen ging fast die Hälfte des kontinentalen Wirtschaftswachstums auf das einträgliche Rohstoffgeschäft zurück, und noch immer sind rund achtzig Prozent der Exporte Afrikas mit dem extraktiven Sektor verbunden. Für ein Dutzend subsaharische Staaten konstituieren Rohstoffe das Gros der Gesamtexporte. Zu ihnen gehört mit Nigeria auch die grösste Volkswirtschaft des Kontinents. Rund 70 Prozent der Staatseinnahmen stammen dort aus dem Ölgeschäft, im laufenden Jahr wird mit einem staatlichen Defizit von rund 15 Milliarden Dollar gerechnet.

Zu den von der Preisbaisse am stärksten betroffenen Ländern gehören auch Ghana, Sambia und Angola – alles Staaten, die aufgrund ihrer hohen, teils zweistelligen Wachstumsraten in den letzten Jahren regelmässig als Musterbeispiele des Afrika-Booms angeführt wurden. Ghana, der zweitgrösste Goldproduzent des Kontinents und neuester Ölförderer Afrikas, musste beim Internationalen Währungsfond jüngst einen Notkredit aufnehmen. Sambia, dessen Ausfuhren zu 70 Prozent am Kupfer hängen, kämpft mit zweistelligen Inflationsraten und einer raschen Entwertung der Währung. In Angola musste das Staatsbudget um einen Drittel gekürzt werden.

Ist der Afrika-Boom also bereits zu Ende? Viele bezweifeln mittlerweile, dass dieser jemals mehr als ein Strohfeuer war.

Der wachsende afrikanische Mittelstand? Ein statistischer Etikettenschwindel, da bereits jene mitgezählt werden, die mit zwei Dollar am Tag auskommen.

Die Demokratisierung? Ein Mythos, wie die negative Entwicklung verschiedener Gouvernanz-Indices zeigt. Nachhaltiges Wachstum?

Ein Wunsch von Idealisten: Afrika ist heute weniger industrialisiert als vor zwanzig Jahren und importiert «von der Tomatenpaste über die Elektronik bis zu Kleidern alles aus Asien», wie Lamido Sanusi, der ehemalige Chef der nigerianischen Zentralbank moniert.

Armutsreduktion? Prozentual wurden zwar Fortschritte erzielt, in absoluten Zahlen aber leben heute mehr Arme in Afrika als 1990.

Kaum Grautöne

So rasch und radikal das Bild vom verlorenen Kontinent in den letzten Jahren durch das Narrativ des aufstrebenden Afrikas ersetzt wurde, so rasch und radikal scheint das Pendel nun zurückzuschwingen.

«Wir laufen Gefahr, unseren überzogenen Optimismus durch einen übertriebenen Pessimismus zu ersetzen», warnte unlängst der amerikanische Afrika-Experte John Campell. Tatsächlich mehren sich die Zeichen, dass nach der kurzen Afrika-Euphorie gerade in Medienberichten neuerlich der pauschale, fatalistische Afropessimismus Überhand gewinnt. Der «Economist» schwört eine neue afrikanische Schuldenkrise herauf, die «New York Times» schreibt von «Afrikas taumelnder Wirtschaft» und auch in deutschsprachigen Zeitungen nehmen die Krisenwarnungen und Katastrophenmeldungen im Zusammenhang mit Afrika wieder zu.

Oft fehlen solchen Berichten jegliche Grautöne, gezeichnet wird in schwarz und weiss, nach einem binären Schema, das nirgends so ausgeprägt ist wie in der Aussendarstellung Afrikas. Ungeachtet der ethnischen und kulturellen Vielfalt des Kontinents, ungeachtet seiner über 2000 Sprachen, seiner Grösse, die der dreifachen Fläche Chinas entspricht, ungeachtet der Milliarde Einwohner und der über fünfzig unabhängigen Staaten – Afrika bleibt in den Köpfen vieler ein monolithischer Block, eine verschwommene exotische Einheit.

Öfter als anderswo tappen wir hier in die Induktionsfalle, schliessen von der einzelnen Beobachtung auf ein kontinentales Ganzes – im Guten wie im Schlechten. Aus der Schuldenkrise in Ghana wird sodann eine afrikanische Schuldenkrise, aus der fragilen Sicherheitslage in Teilen des Sahels wird ein instabiler Kontinent. Und umgekehrt: Aus vielversprechenden aggregierten Wachstumschiffren wird ein beispielloser Wirtschaftsboom.

Es ist ein vulgarisierendes Entweder-Oder, das kein Dazwischen kennt. Wir sprechen von den «desaströsen Folgen» der Rohstoffkrise, obwohl über die Hälfte der afrikanischen Staaten Netto-Ölimporteure sind und von den tiefen Preisen profitieren. Wir schreiben so fleissig über die Mugabes, Kabilas und Musevenis des Kontinents, dass wir jene übersehen, die es besser machen. Und während des vermeintlichen Booms verlassen wir uns lieber auf nackte Zahlen und die Einschätzungen hungriger westlicher Investoren als auf die nüchtern-differenzierenden Stimmen der Betroffenen selbst.

Gesucht: Ein «Gleichgewicht der Geschichten»

Noch immer kennen nur wenige Afrika aus eigener Erfahrung: Die Staaten südlich der Sahara zählen jährlich nur halb so viele Touristen wie Spanien. Auch deshalb bleibt der Kontinent für viele eine unscharfe, rasch wandelbare Projektionsfläche. Die Komplexität und Grösse des Kontinents ist indes keine Entschuldigung dafür, in Afrika pauschal immer das Absolute zu sehen, die Finsternis oder das Idyll.

«Viele kennen nur eine einzige Geschichte Afrikas», beklagt die nigerianisch-amerikanische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. «Diese einzige Geschichte formt Klischees, die unvollständig und entwürdigend sind.» Chinua Achebe hat diesen Umstand einst als fehlendes «Gleichgewicht der Geschichten» bezeichnet. Der 2013 verstorbene nigerianische Schriftsteller plädierte für eine offenere, differenziertere Berichterstattung über seinen Kontinent: «Ich wünsche mir, dass jeder selbst bestimmen kann, welche Identität ihm zugeschrieben wird. Niemand soll zum Opfer der Einschätzung anderer werden.»

Afrika ist weder ein hoffnungsloser Fall noch ein Wirtschaftswunder, zumal nicht als einheitliche Masse. Es ist an der Zeit, mit der gebührenden Umsicht und Nuanciertheit auf diesen Kontinent zu blicken.

Fabian Urech / Infosperber