Eckhard Mieder Deleatur. Rügen.

Lyrik

5. Februar 2013

Hügelgrab auf der Insel Rügen.
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Hügelgrab auf der Insel Rügen.

5. Februar 2013
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Korrektur

1.

Grad spüre ich den Verlust eines Zeitalters, es ist
Das Zeitalter der Rotweinflecken auf Papieren, die übersät sind
Mit Korrekturzeichen. Deleatur. Es ist
Das Zeitalter der Sätze noch von Mann zu Mann, von Frau
Zu Frau, von Mann zu Frau und von Frau zu Mann.
Vom Vater zu den Kindern, von den Kindern zur Mutter.
Es ist, als schlösse sich eine Tür, und ich weiss nicht,
Befinde ich mich in einem Gefängnis oder ist das Gefängnis
Die Welt davor, woher die Gesänge einsickern. Deleatur.
Entkomme ich noch einmal in eine Zukunft?

2.

Jüngst, als ich lief fünf Tage lang über die Insel Rügen,
Lag mir die Welt zu Füssen. Gras war sie und steile Küste,
Stein war sie und Wellen war sie, und nichts war,
Was mich ablenkte vom Wunsch, nirgendwo anzukommen
Oder falls nötig in einem Boot zu ruhen in
Schuppen und Schleim der toten Fische, zwischen den Reusen
Und Netzen und neben dem Kasten mit leeren Bierflaschen.
Und die Liebste in Nähe, die vor mir lief:
Auch sie eine Welle, auch sie ein Takt, ein Rhythmus,
Ein musikalisches Sein, bevor es Musik gab. Deleatur.

3.

Der Wind, der als Sturm überm Meer beginnt, kommt an:
Sanft wiegt er das Gras und das Blattwerk der Birken,
Sacht schaukelt die Glocke im Kirchturm bei Vitt,
Klanglos, es braucht, um zu lärmen, gröbere Stösse
Als grad geschehen: der Wind, der als Sturm begann,
Kam als Brise über die rhythmisch schaukelnden Kähne
Im alten Hafen und wurde, den Schutz der Kaimauer nutzend, Zum Lüftchen auf der Höhe. Deleatur. Da oben stehn
In Scharen, und schwappen auch wie das Brackwasser,
Die Touristen, fröhlich und mit lockerer Börse.

4.

Deleatur. Wohin ich die Füsse setze, setzt die Vergangenheit
Sich fest, ein Moos, ein Farn, eine Akelei an der Kate,
Eine blaue Clematis am Felsen. Meine Füsse sind Steine,
Kicherndes Geröll, sich rundend im Schliff,
Sich glättend im Wind, vom salzigen Wasser, von den Hieben
Der hundgrossen Möwen. Deleatur. Deleatur. So, wandernd dahin,
Streift mich der Schweden Geschrei von anno dunnemals,
Und aus dem Wasser steigen die feministischen Geschöpfe,
In deren Algenhaar die Aale sich winden, das Silber der Fische
Abschuppt sich und macht die nassen Hexen schön. Deleatur.

5.

Woher ich kam, verschwindet im Dunst. Wohin ich gehe,
Verschwindet in der Sonne. Ich betrete den Märchenwald,
In dem die Bäume, wie Penisse einige, andere wie Spinnen,
Stehen, und bin doch nicht verloren. Ich habe die Lügen
In den Städten gelassen. Ich habe mich des Gepäcks entledigt,
Der ganzen kapitalistischen Scheisse. Deleatur. Keine Kasse
Kann mir folgen, die Äste fingern nach mir, keine Rechnung
Berührt mich, Blätter bedecken meine Schultern, keine Mode
Zwingt mich, ganz und gar eingehüllt bin ich ins Kleid
Der Spinnenetze, der libellenen Lieder überm Sumpfigen.

6.

So liefen wir, du und ich, fünf Tage lang über die Insel,
Deleatur, Rügen, und wir verloren uns nicht aus den Augen,
Nicht aus dem Sinn: Es muss sein eine Gegenwart, wenigstens,
Im Reich der Kröten und Goldruten, der Stockrosen und des
Schilfs,
Deleatur, es muss sein: dass wir den Kranichen zuschauen,
Die sich sammeln, bevor sie in den Süden fliegen, über den
Kontinent,
Davon mit einer Leichtigkeit, die wir nie haben werden.
Deleatur. So lass uns demnächst durchs Gebirge laufen
Oder über die Wasser Schwedens oder den Mekong hinauf,
Dessen Quelle noch niemand sah. Wir sind die ersten. Deleatur.

Eckhard Mieder

Eckhard Mieder