Hinterm Vorhang der Pupillen Archäologischer Eigenbefund

Lyrik

10. April 2017

Archäologischer Eigenbefund.
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Archäologischer Eigenbefund. Foto: Politikaner (CC BY-SA 3.0 unported)

10. April 2017
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Korrektur

Ich habe da einen Zahn gesehn
In meinem Mund, in unterer Reihe hinten links.
Der Arzt hielt mir den Spiegel vor und sprach:
„Bilder erklären mehr als Wörter.“ (Besucht er grad
Nen Abendkurs in Philo- oder Astrologie?)
Orangenrehbraun (Farben gibt's, Johann,
Da wärste nicht drauf gekommen!) Er war
Der ältesten einer in meinem Steinbruch
Kopf. Ihn anzuschauen, war nicht richtig schön.
(Gut, dachte ich, dass innere Organe
Innen bleiben, die meisten, ein Leben lang.)
Gott, meinen Blinddarm sah ich nicht,
Als ich ein Kind noch war, nicht wusste
Ein noch raus. Meine Tonsillen lagen, der vordersten
Front in der Schlacht gegen Bakterien entzogen, in einer Schale
Aus Blech, die ich in der Hand halten musste,
Im Sitzen operiert (war es zu Zeiten Sauerbruchs?),
Wie Boulettchen vor meinen Augen
In meinem Halsblut, das ich hustend auswarf.
Der Arzt schalt mich, sein Kittel ward gesprenkelt,
Sein Äusserstes an Würde war verletzt,
Verdammt, dass ich mich als ein Kerl erweise, nicht als Memme.
(Ich werd den Tatort nicht vergessen, er war
Das Polizeikrankenhaus in Berlin-Mitte.)
Mehr sah ich bisher nicht von meinem Inneren;
Schnittwunden zählen nicht, die sind zu äusserlich.
Vier Rippen, die ich brach, sind nicht der Klage wert.
Nun dieser ekelfarbene, schiefe Pfeiler, der wackelnd hielt
Eine Brücke, die das Kleinkind mit
Dem alten Knaben verband (und beide ich).
Von innen trieb der Schmerz zum Dentologen mich,
O Freunde, Römer, Landsleute, es war ein üblicher Tag,
Der mich pantherisch ansprang und ich sass wie betäubt
Und ohne Willen und hinterm Vorhang der Pupillen
Wie vor dem Ende meines Lebens. (Applaus!)

Eckhard Mieder