Brecht zwischen Weill und Eisler Welche Botschaft brachte der “Bote der Arbeiterbewegung”?

Kultur

24. Januar 1998

"Als ich Das Kapital von Marx las, verstand ich meine Stücke", schreibt Brecht am Ende der zwanziger Jahre (Berliner und Frankfurter Ausgabe, im folgenden: BFA, Bd. 21, S. 256).

Kurt Weill Denkmal in Dessau.
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Kurt Weill Denkmal in Dessau. Foto: M_H.DE (CC BY-SA 2.0 cropped)

24. Januar 1998
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1. Die Charaktermaske in der Musik

In seinen, zusammen mit Kurt Weill geschaffenen Musiktheaterstücken Mahagonny und Dreigroschenoper hat Brecht Distanz zu seiner frühen Produktion gewonnen, die er nun unter dem Gesichtspunkt der Entleerung klassischer Dramaturgie beschreiben kann: "Wir haben uns (provisorisch) damit geholfen, die Motive überhaupt nicht zu untersuchen (…) um wenigstens nicht falsche anzugeben". Nun, nach der Lektüre des ersten Bands des Marxschen Kapital sieht er sich imstande, hinter den scheinbaren Motiven, wie sie in der klassischen Form dargeboten werden: Liebe und Heldenmut, die eigentlichen, wahrhaften Motive erkennen und auf die Bühne bringen zu können: Sex und Geld; wobei Sex sich im wesentlichen als Darstellungsform des Geldes herausstellt. Brecht versucht sozusagen, die ersten Kapitel des Kapital zu dramatisieren: "Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer", heisst es bei Marx; sie erscheinen als Charaktermasken des Kapitals — "Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse (…) als deren Träger sie sich gegenübertreten" (MEW Bd. 23, S. 99f. ). Als solche machen sie sich bei Brecht Illusionen über ihre wahren Motive — Illusionen, die vom Verfremdungseffekt zerstört werden — so dass die wahren Motive, die ökonomischen Verhältnisse, zutage treten können.

In den Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wird deutlich, welche Aufgaben Brecht dabei für die Musik vorsieht: Es geht bei ihrem Einsatz vor allem darum, die Homogenität des Kunstwerks zu sprengen und eine "radikale Trennung der Elemente" herbeizuführen; die Musik und der Text, die Schauspieler und die Rollen, die Bühne und das Publikum sollen nicht ineinander verschmolzen, sondern einander gegenübergestellt werden, um kritische Distanz zu ermöglichen (BFA Bd. 24, S. 79); die Einfühlung des Spielenden in die Rolle, des Publikums in die Figur soll unterbrochen werden, um die Wiedererkennung des Subjekts — die Selbsttäuschung der Charaktermaske, die sich einbildet, sie wäre ein Charakter — zu verhindern.

Die Verfremdung hebt zuletzt auch den Trost auf, den sonst das Happy Ending oder das tragische Sterben (in der Oper meist mit einer Arie verbunden) dem Publikum spendet, um damit die Identifikation mit dem Subjekt zu besiegeln. So parodieren Brecht und Weill in der Dreigroschenoper das gute Ende, das lieto fine der traditionellen Oper; und in Mahagonny das tragische — die Oper schliesst mit der Darstellung vollkommener kapitalistischer Anarchie, in der jedes politische Handeln sinnlos geworden ist: "Können uns und euch und niemand helfen".

Das kommunistische Telos aber erscheint nicht anders als in solcher parodistischen Negation des bürgerlichen Finales. Ebenso bleibt der geschichtliche Vorgang, der dieses Telos nach der Meinung der , Klassiker' hervorbingen soll, im Dunkel der Parodie: Die Frage des Klassenkampfs, die ja auch bei Marx mit dem Begriff der Charaktermaske nicht wirklich vermittelt wird, spielt in der Konzeption von Mahagonny und Dreigroschenoper so gut wie keine Rolle. Erscheint die Arbeiterklasse hier auf der Bühne, so in ihrer Eigenschaft als variables Kapital, als Verkäufer einer Ware wie jeder anderen.

In der Dreigroschenoper ist auch sie, wie die ganze bürgerliche Gesellschaft, ins Verbrechermilieu übersetzt und tritt dort als die "Platte" von Gangsterboss Mackie Messer auf, der über ihre Produktivität nichts Gutes berichtet: "So was von Versagen! Lehrlingsarbeit ist das, nicht die Arbeit reifer Männer! " Bei Mahagonny handelt es sich nicht direkt ums Verbrechermilieu, es ist hier vielmehr eine Art Freizeitparadies, worin Brecht und Weill die Charaktermasken dingfest zu machen versuchen. Die Arbeiter sind nun Holzfäller — das einzige Interesse, das sie haben, ist insofern kein Klasseninteresse, als sie es mit allen anderen teilen: das Interesse nach Geld, das sie in die Waren der Freizeit umtauschen: Prostituierte, Whisky, Spiele etc. ; und wenn einer von ihnen schliesslich hingerichtet wird, so keineswegs aus politischen Gründen, sondern weil er kein Geld mehr hat — worin ausdrücklich das schlimmste Verbrechen in dieser Stadt Mahagonny zu verstehen ist.

Die Arbeitskraft gab auf der Bühne nie allzuviel her — insbesondere in der Form der Lohnarbeit. Das ist ein altes Problem sozialkritisch inspirierter Dramatik. Brecht und Weill führen darum eine andere Ware, die wesentlich bühnenwirksamer ist, als ihren Stellvertreter ins Treffen: die käufliche Liebe — eine besondere Art von Abstraktion, die sich gleichsam an den Frauen festsetzt. So vermag die Abstraktheit des Geldes fast ausschliesslich in dieser Abstraktheit weiblicher Sexualität gespiegelt zu werden, und die Prostitution erhält dadurch den höchsten Stellenwert: sie symbolisiert die Gesellschaft schlechthin.

Kurt Weill hat für diese Dramaturgie des Warenfetischs die musikalische Form erfunden: eine doppelbödige Tonalität. Während in der zeitgenössischen Musik der Zweiten Wiener Schule die tonale Grundlage längst erodiert worden ist, lässt sie Weill in bewusst fadenscheiniger Form noch einmal erklingen, um damit die Fadenscheinigkeit der alten dramatischen Motive — Liebe und Heldentum — hörbar zu machen. Seine Musik, schrieb Adorno, schleift "den abgenutzten, verschabten Hausrat der Bürgerstube auf einen Kinderspielplatz (…), wo die Kehrseiten der alten Waren als Totemfiguren Entsetzen verbreiten (…) Ihre Konstruktion, ihre Montage des Toten macht es als tot und scheinhaft evident und zieht aus dem Schrecken, der davon ausgeht, die Kraft zum Manifest. " (Gesammelte Schriften Bd. 17, Frankfurt a. M. 1982 S. 120) Überall in dieser Musik sind kleine Verfremdungseffekte gesetzt: oft entsteht ein solcher Effekt allein durch ein unpassendes Verhältnis zum Text: so etwa erklingt zu den Worten der Zuhälterballade aus der Dreigroschenoper ein Tango-Ryhthmus mit einer sentimentalen Melodie: Die Liebe, die von der Musik besungen wird, als wäre sie eine reine Gefühlssache, erweist sich im Text als äusserst brutales Machtverhältnis zum Zweck der Geldbeschaffung.

Allerdings ist bei genauerem Hinsehen und Hinhören der Kontrast, der sich hier zwischen Text und Musik einstellt, auch im Text selber unabhängig von der Musik und in der Musik unabhängig vom Text vorhanden — so singt Jenny: "da hat er mir aber eins ins Zahnfleisch gelangt, da bin ich direkt drauf erkrankt. Das war so schön in diesem halben Jahr (…)"; in der Musik wiederholen sich am Anfang der Ballade immerzu dieselben Akkorde der Begleitung — als wäre die Platte hängen geblieben — und bringen damit die Monotonie des Liebeslebens (im Bordell wie in der Ehe) im selben Mass zum Ausdruck, als sie demonstrieren, dass die Dreiklänge ihre formbildende Kraft verloren haben, nicht mehr richtig fortschreiten können. Eine von Weill ebenfalls verwendete Übertreibung ist die in der Unterhaltungsmusik übliche Häufung von Septimakkorden: er treibt sie, so Dietrich Stern, "bis in die Nähe einer geschichteten, nicht funktionalen Harmonik". (Angewandte Musik 20er Jahre, Berlin 1977, S. 111)

Kann hier von Parodie gesprochen werden, so handelt es sich um eine, die den Dingen auf den Grund geht: Die Musik demaskiert sich selbst als Charaktermaske. Zuweilen entwickelt sich aus dieser Demaskierung auch ein ganz eigenes, düster drohendes und zynisch formuliertes Pathos, das aus der Parodie hervorbricht: etwa im zweiten Dreigroschen-Finale. Während Weill für die parodierenden Sequenzen seiner Musik oft Jazz-Rhythmen verwendet und Dur-Tonarten, erklingen die finsteren Passagen, die wie ein Unwetter über dem ganzen Spass heraufziehen, meist in phrygischen oder dorischen Kirchentonarten, mit Moll-Harmonien und in einem schweren, nicht tänzerischen Rhythmus. Es ist eine Art surrealer Trauermarsch, der hier der bürgerlichen Gesellschaft geblasen wird: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. "

2. Die Arbeiterbewegung in der Musik

Als sich Hanns Eisler ins Berliner Musikleben einmischte, griff er ebenfalls zu jener doppelbödig parodierenden Tonalität — und manche seiner Songs erinnern in ihrer demaskierenden Haltung unmittelbar an Weill: zum Beispiel das "Lied von der belebenden Wirkung des Geldes". Auch Eisler verwendet zur parodistischen Einfärbung sehr gerne Elemente des Jazz und auch er parodiert überwiegend in Dur. Es scheint sogar, als ob der Schüler von Schönberg die musikalischen Methoden von Weill verfeinert und sich dadurch der Weill durchaus gegebenen Fähigkeit entfremdet, wirkliche Gassenhauer zu produzieren; beispielsweise montiert Eisler ins "Kuppellied" (aus Die Rundköpfe und die Spitzköpfe) das berühmte Motiv von Wagners Tristan ein, was einerseits nur der Kenner zu identifizieren vermag und andererseits die musikalische Struktur komplizierter und weniger singbar macht. Wenn Eisler einen synkopierten Rhythmus im Stil von Ragtime, Tango, Rumba oder Foxtrott verwendet, dann tut er es sparsamer und gezielter als Weill: er lässt ihn etwa nicht ungebrochen ein ganzes Stück durchlaufen.

Was auf den ersten Blick als Verfeinerung wahrgenommen werden kann, die Eisler an den parodierenden Methoden vornimmt, entpuppt sich als eine gegenüber Weill veränderte Haltung des Komponisten. Während in der Weillschen Komposition die Verfremdung oder Parodie des vorgefundenen Materials das bestimmende Moment, das Moderne, ausmacht, geht Eisler gewissermassen konstruktiver vor: Er versucht aus den verfremdenden Techniken und dem vorgefundenen Material ein neues positives, selbständiges musikalisches Verfahren zu entwickeln. Charakteristisch für diese veränderte Haltung ist eine Bemerkung Eislers zum Jazz: "Man muss nämlich unterscheiden können zwischen dem Jazz als Technikum und der widerlichen Ware, welche die Vergnügungsindustrie aus ihm machte. Die bürgerliche Musik war nicht imstande, das Fortschrittliche im Jazz weiterzuentwickeln (…) Hier waren Möglichkeiten gezeigt, eine neue Einheit von Freiheit des einzelnen und Diszipliniertheit des Gesamtkörpers zu erzielen (Improvisieren mit festem Ziel), das Gestische zu betonen, die Methode des Musizierens der Funktion unterzuordnen, also bei Funktionswechsel übergangslos zu wechseln usw. " (Musik und Politik 1924-1948, Leipzig 1985, S. 132)

Dieser Wille zur Konstruktion lässt sich unschwer auf die Lehre bei Schönberg zurückführen. Doch ist hier noch ein andere Lehre wirksam, in die Eisler ging, als er Schönberg und Wien verlassen hatte. Bereits in den acht Klavierstücken op. 8, die er 1925 für Schüler von Arthur Schnabel komponiert hat, zeichnet sich die Entfremdung von der Schönberg-Schule deutlich ab: "Nicht zuletzt sollte", wie Fritz Hennenberg schreibt, "ein akzentbetonter Rhythmus mit seinen wohlüberschaubaren Symmetrien (Verdikt in der Schönberg-Schule! ) wiedereingesetzt werden, von dessen Raster sich dann auch moderne rhythmische Verschiebungen, wie die Synkope, abheben liessen und eine Verbindung zur Umgangsmusik geschaffen werden konnte. " (Hanns Eisler, Reinbek 1981, S. 31) Damit war es Eisler möglich geworden, Verbindungen zur Musik Kurt Weills zu knüpfen. Was ihn aber von Anfang an von diesem unterschied, war die immer wiederkehrende Verarbeitung eines ganz bestimmten akzentbetonten Rhythmus: Oft klingen bereits in den Klavierstücken op. 8 "höchst ungewohnt für Klaviermusik, und zumal aus dieser Zeit, Formeln von Märschen an — Widerhall jener Musik der Strasse, die Eisler nun anzuziehen begann. " Es war die Arbeiterbewegung, die sich hier als Marschrhythmus auf dem urbürgerlichen Instrument niederschlug. Mit diesem Rhythmus hatte sie sich auf den Strassen als politische Kraft formiert — einerseits ihre Verteidigungsfähigkeit gegenüber den Verbänden der militanten Rechten geschult und den anderen demonstriert, andererseits wohl auch den Staat als Perspektive der Bewegung verinnerlicht. Denn der Marsch ist von seinem Ursprung her soetwas wie die musikalische Form staatlicher Integration: Insbesondere seit dem späten 19. Jahrhundert und mit ausserordentlichem Fleiss in Deutschland und Österreich hatten sich die Individuen, indem sie die Märsche hörten, spielten und mitmarschierten, in die Rolle des staatstragenden Volks eingeübt; im Gleichschritt mit den anderen wurden sie nicht allein diszipliniert, sondern bannten im selben Mass die permanente Angst, die sie in Bezug auf den Wert ihrer Arbeitskraft beschlich: die Angst, minderwertig, überflüssig zu sein. Der Marsch mit dem Gleichschritt auf den ersten Taktschlag garantierte ihnen gleichsam ihren Wert: mit der Gleichwertigkeit und Stärke als Staatsbürger und Volksgenossen ist das Körpergefühl konnotiert, das er vermittelt.

Wenn nun Eisler den Marschrhythmus aufnimmt, um Balladen, Songs und Instrumentalmusik für die Arbeiter, die Arbeitersänger und für das Agitproptheater zu schreiben, dann tut er es zwar nicht in jener durchwegs parodistischen Manier wie Weill (etwa im Marsch der Heilsarmee aus Happy End), vielmehr versucht er ihm wirklich etwas , Positives' abzugewinnen. Die disziplinierende, gewissermassen staatsförmige Struktur des Marsches übernimmt Eisler dabei aber nur zum Teil, denn er trachtet immer wieder danach, den mechanischen Gleichschritt zu brechen, in Schwingung zu versetzen oder wenigstens aufzulockern — und dazu dienen ihm nun gerade die Elemente des Jazz.

So baut er etwa im bekannten Marschlied Der Rote Wedding (mit dem stupiden Text von Erich Weinert) einen synkopierten Gegenrhythmus (in Flöten und Oboen) zu den skandierten starken Taktteilen ("Links, links, links! ") ein, lässt mitunter die Bässe tanzen und überrascht die marschierend Singenden zuletzt mit einem unvermittelten Wechsel vom 4/4 zum 5/4 Takt (dieser Stolperschritt wurde übrigens in der sowjetischen Ausgabe von 1961 eliminiert). Mit der Synkope des Jazz, dem der Tanzmusik abgelauschten swing kommt ein neuer rhythmischer Schwung in die Musik der Arbeiterbewegung: Eisler hebt die Trennung zwischen den Sphären von Staatstreue und Freiheitsgefühl, Arbeit und Freizeit auf, indem er deren musikalische Chiffren: Marsch und Tanz aufeinander bezieht, und sie doch immer wieder in ihrem repetitiven Charakter bricht, soweit er in den Marschrhythmus eine Irritation einwebt und auch die Sehnsucht der Synkope nach ewiger Wiederholung nicht erfüllt.

Freilich behält der Marschrhythmus letztlich die Oberhand — und hier zeigt sich Eisler als Vertreter einer Arbeiterbewegung, die sich wirklich dem Staat verschrieben hat, nachdem die Weltrevolution, die von Russland ihren Ausgang nehmen sollte, gescheitert war. Einen besseren Staat zu schaffen und nicht den Staat selbst abzuschaffen — aus der Not der nichtstattgefundenen internationalen Revolution die Tugend des neuerfundenen sozialistischen Nationalstaats zu machen, so lautete das inoffizielle Programm der Agitprop-Kultur, das nicht ins Bewusstsein gehoben, sondern mit Marschrhythmen festgestampft wurde. So gestaltet etwa Eislers Linker Marsch — die Vertonung eines Gedichtes von Majakowski — einen Konflikt zwischen der (mittels Halbtakttriolen) synkopierten Singstimme und dem durchgängig hörbaren Marschrhythmus, wobei Eisler wieder einen seiner typischen Überraschungseffekte einbaut, indem er die Pauke nicht — wie üblich — nur zur Fixierung des Marschrhythmus einsetzt, sondern zugleich auch mit der Imitation der synkopierten Singstimme betraut. Aber der Konflikt wird dadurch gelöst, dass sich die Singstimme, wie Georg Knepler schreibt, "so frei sie sich immer gebärdet, letztlich doch wieder dem Marschrhythmus fügt. " (Gedanken zur Musik, Berlin/DDR 1980, S. 39)

Im Unterschied zu Weill werden Marschrhythmus und synkopierte Tanzrhythmen weniger zur permanenten Verfremdung als zur punktuellen Verdeutlichung einer bestimmten textlichen Aussage verwendet. Bei beiden Komponisten findet sich zum Beispiel eine charakteristische Begleitfigur aus zwei Sechzehntel und einem Achtel — eine beliebte Floskel aus der Tanzmusik, womit die regelmässige Schlagzeit gegenüber der synkopierten Melodieführung akzentuiert wird. Weill verwendet sie in charakteristischer Übertreibung durchgehend in dem Refrain von "Oh, moon of Alabama"; Eisler gebraucht die Wendung im Refrain des "Songs von Angebot und Nachfrage" aus der Massnahme in ähnlichem Sinn, um das auf Geld fixierte Denken des singenden Händlers zu illustrieren; doch setzt er sie nur punktuell in wenigen Takten ein; in seiner Ballade von den Säckeschmeissern nimmt die gleiche Wendung jedoch einen anderen Sinn an: durch die Beschleunigung des Tempos lädt sie sich gleichsam mit dem Marschrhythmus auf und durch das energische Stampfen der Viertel wird sie, so Dietrich Stern, "als positiv verstärkendes, dynamisierendes Element aufgefasst. Sie unterstreicht so die Aufforderung des Texts, nach den vielen Kaffeesäcken nun auch die Eigentümer, die , fetten Räuber', ins Meer zu schmeissen. " (Angewandte Musik 20er Jahre, Berlin 1977, S. 110)

Eisler greift also zu parodierenden Techniken, gibt ihnen aber immer wieder einen ernsten, positiven Sinn: gerade diese Wendung zur ernsten Politik drückt sich in der häufigeren Verwendung von Molltonarten aus (wobei in der Melodieführung meist die phrygische Kirchentonart dominiert). Auf die Frage von Sergej Tretjakow, ob er sein neues Kampflied wieder in Moll schreibe, soll Eisler geantwortet haben: "Ja, Moll ist bedeutungsvoller. , Komintern' ist auch in Moll, aber ist es etwa trist, hat es weniger Kraft durch dieses Moll? Es wirkt nur noch drohender. " (“Sinn und Form”-Sonderheft Hanns Eisler, Berlin 1964, S. 127) Das zynische, düster drohende und schwere Pathos, für das bereits Weill Moll-Harmonien und ebenfalls phrygische oder dorische Kirchentonarten vorbehalten hatte, wird bei Eisler dynamisiert und in einen Appell zum politischen Handeln umgewandelt, der surreale Kondukt in einen mitreissenden Revolutionsmarsch transponiert. Tatsächlich lässt sich am Beginn des Einheitsfrontliedes fast wörtlich das 2. Dreigroschenfinale wiedererkennen.

Als Adorno im Jahr 1932 Weills und Eislers Musik einander gegenüberstellte, schlug das Pendel seiner Kritik zugunsten von Dreigroschenoper und Mahagonny aus: "Der Chok, mit welchem Weills Kompositionsverfahren die gewohnten kompositorischen Mittel, überbelichtet, als Gespenster präsentiert, wird zum Schrecken über die Gesellschaft, aus der sie entspringen und zugleich zur Negation der Möglichkeit einer positiven Gemeinschaftsmusik (…) Fraglos ist Weills Musik heute die einzige von echter gesellschaftlich-polemischer Schlagkraft, solange sie auf der Spitze ihrer Negativität sich hält. " Aber Adorno fügt auch hinzu: "Ihre Problematik rührt daher, dass sich auf dieser Spitze nicht verbleiben lässt" (“Zeitschrift für Sozialforschung” 1932/1, S. 122). Damit hat er nicht nur eine Ahnung von Weills späterer Entwicklung zum Musical-Komponisten ausgesprochen, sondern zugleich das Dilemma von Eisler formuliert, der die Spitze der Negativität zur Waffe positiver, konstruktiver Politik umdreht.

3. Von der Dreigroschenoper zur Massnahme, von der Parodie der Ökonomie zum Ernstfall der Politik

Der Einfluss der Komponisten auf den Stückeschreiber wird gerne unterschätzt. Dies entspricht freilich dem allseits — auch von Eisler selbst — gepflegten Brecht-Mythos. Es sollte aber nachdenklich machen, dass das Mahagonny-Songspiel, Der Flug der Lindberghs und Der Jasager sowie Das Lehrstück vom Einverständnis mit der Musik von Paul Hindemith und die Massnahme, mit der schliesslich die Zusammenarbeit zwischen Brecht und Eisler begann, allesamt für Musik-Veranstaltungen geschrieben wurden und in erster Linie Gegenstände der Musikkritik bildeten. Die Musik war nicht allein der Anlass der Produktion, vielmehr entstanden Text und Musik in fortwährender wechselseitiger Reflexion.

Nun verhält es sich aber auch nicht so einfach, dass Brecht mit dem Komponisten gleichsam automatisch die Dramaturgie ausgewechselt hätte; dass er also zunächst von den Weillschen Kompositionen zur zynischen Negativität angestachelt und dann von den Eislerschen zum politisch Positiven motiviert worden wäre. In Wahrheit vollzog sich die Abwendung von der Negativität bereits in der Zusammenarbeit mit Weill — und zwar in den Lehrstücken Der Flug der Lindberghs und Der Jasager. Anstelle der Demaskierung der Charaktermaske wird schon hier ein neues Subjekt evoziert — nicht als Individuum, sondern als Kollektiv. Beschäftigte sich das epische Theater von Songspiel und Oper eben noch damit, die , automatische' Auflösung des Individuums in Funktionen des Warentausches zur Schau zu stellen, so demonstriert das epische Subjekt des Lehrtheaters — paradigmatisch im Chor verkörpert — die zielbewusste Auflösung des Individuums im und durch das rhythmisierte Kollektiv.

Die Lehre der Lehrstücke lautet: Zerstörung des Individuums. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Lehrstücktheater nicht wirklich von Ernst Jüngers gleichzeitigen Phantasien vom Arbeiter oder der totalen Mobilmachung. "In den wachsenden Kollektiven", schreibt Brecht, "erfolgt die Zertrümmerung der Person"; und: "Ein Kollektiv ist nur lebensfähig von dem Moment an und so lang, als es auf die Einzelleben, der in ihm zusammengeschlossenen Individuen nicht ankommt. " (Brechts Modell der Lehrstücke, Frankfurt a. M. 1976, S. 96f. ) Die Frage, worin das Individuum sich aufzulösen habe, wird von Lehrstück zu Lehrstück allerdings anders beantwortet — und hier tritt nun deutlich die Differenz zwischen Weill und Eisler hervor: im Flug der Lindberghs ist es die Einheit von Technik und kollektiv Arbeitenden; im Jasager das Kollektiv einer Schulklasse, das als Stellvertreter einer religiösen Opfergemeinde fungiert; in der Massnahme jedoch das Politische der kommunistischen Partei.

Für Weill bedeutete das Lehrstück offenkundig eine Sackgasse: seine Musik zu diesen Brecht-Texten wirkt leer und matt im Vergleich zu der von Mahagonny oder Dreigroschenoper; Weill schöpfte musikalischen Ausdruck aus der Negation des Individuums durch den Warenfetisch; für das neue Subjekt des Kollektivs, das nun im Lehrstück evoziert werden sollte, fehlte es ihm wohl an konkreten musikalischen Bezügen zu wirklich existierenden Kollektiven. Ganz im Gegensatz zu Hanns Eisler. In übertriebener Bescheidenheit hat dieser sich in Hinblick auf Brecht als "Bote der Arbeiterbewegung" bezeichnet: "Vor allem 1929, als der grosse Sprung kam von der Dreigroschenoper und Mahagonny bis zur Massnahme. Da funktionierte ich eigentlich mehr wie der Bote der Arbeiterbewegung. Ich war nur der Bote. Ich war doch keine Persönlichkeit, sondern der Bote, der dem Brecht doch etwas mehr Praktisches von der Arbeiterbewegung mitteilte, was auf ihn, ein sehr empfindsamer Mann — ich sage , empfindsamer Mann': nämlich für Haltungen empfindsam —, einen gewissen Eindruck machte. " (Gespräche mit Hans Bunge, Leipzig 1975, S. 171) Statt des reitenden Boten, der in der Dreigroschenoper das alte gute Ende und mit ihm den klassischen Helden ad absurdum führt, erschien Eisler und sang mit seiner unnachahmlichen Stimme das neue Subjekt und das gute, weder tragische noch komische Ende herbei: die Aufhebung des Individuums im Kollektiv der Arbeiterpartei.

Massnahme und Mutter erscheinen darum wie eine Inversion von Dreigroschenoper und Mahagonny: die Songs vom Warenfetisch schlagen in Marschrhythmen der Arbeiter um, die Nachahmung kapitalistischer Anarchie in teleologische Lehre (wobei mitunter in einzelnen Songs die alte ökonomische Demaskierung fortlebt, zur Charakterisierung des aussichtslosen Individuums und eingesprengt in die neue politische , Erzählung' des kollektiven epischen Subjekts).

In der Massnahme wird das Ziel auf den politischen Punkt gebracht: der "junge Genosse", der als Individuum, aus individuellen Motiven, handelte, wird aus eben diesem Grund von der Partei liquidiert; in der Umständlichkeit, mit der zuletzt eine konkrete Situation konstruiert wird, die den Mord legitimieren soll, verrät sich das vorausgesetzte abstrakte Telos nur allzu deutlich: die Auslöschung des Individuums. In gewisser Weise hat Brecht damit Mechanismen der stalinistischen Prozesse vorweggenommen — denn für die Lehrstück-Dramaturgie ist das Einverständnis des einzelnen mit seiner Liquidierung ein zentrales, sinnstiftendes Moment.

Werner Mittenzwei hat darauf hingewiesen, dass eine solche Fabel — wonach das Individuum für eine bessere, höhere Sache geopfert wird — in der Geschichte der Literatur durchaus nichts Neues darstellt; sie ist vielmehr, wäre hinzuzufügen, der Inbegriff tragischer Kunst. Die alte Literatur aber, so Mittenzwei weiter, "verwies bei der Gestaltung solcher Grenzsituationen auf ein allgemeines sittliches oder göttliches Prinzip, auf die Staatsräson. " Und diesbezüglich erkennt Mittenzwei sehr klar, worin zunächst der Skandal der Massnahme bestand: "Was war es dann aber, was Freund und Feind veranlasste, das Stück mit spitzen Fingern von sich zu weisen? Hielt man einen solchen Vorgang zwar in anderen Zeiten und gesellschaftlichen Bereichen, nicht aber in den Reihen einer Partei der revolutionären Arbeiterklasse für möglich, und wenn doch, dann mit der Absicht, ihn um so begründeter verwerfen zu müssen? "

Aber Mittenzwei hat Probleme, den Unterschied zwischen der hergebrachten Tragödie und dem Lehrstück zu verdeutlichen und gerät ins weltanschauliche Schwadronieren: Für einen marxistischen Denker könne es "eine solche idealistische Lösung" — wie den Sieg der Staatsräson! — nicht geben. Die Drei Agitatoren, die den jungen Genossen liquidieren, "berufen sich auf die Lehre der Klassiker. Das Wort Lehre muss hier als Metapher begriffen werden. Brecht umschrieb damit den bestmöglichen Lösungsversuch für die dringlichsten Schwierigkeiten, in denen die Menschheit steckte. " (Das Leben des Bertolt Brecht, Berlin-Weimar 1987, Bd. 1. , S. 348f. ) Der Brecht-Spezialist scheut sich offenkundig, den Gedanken zu denken, dass die "Lehre" wiederum nur eine Metapher für die Staatsräson sein könnte — und zwar für jene des Sozialismus in einem Lande, worin eben Brecht — von Eisler belehrt — nunmehr den bestmöglichen Lösungsversuch für die dringlichsten Schwierigkeiten, in denen die Menschheit steckte, erblickte. "Umarme den Schlächter, aber / ändre die Welt, sie braucht es! "

Tatsächlich bringen Brecht und Eisler nicht einen revolutionären Vorgang zur Darstellung, sondern im Gegenteil: dessen Aufhebung in der Staatsräson, die sie nicht zufällig als "Lehre der Klassiker" Marx, Engels und Lenin verkleiden — begannen doch in der Sowjetunion zur selben Zeit diese Texte als Legitimationsideologie für die ursprüngliche sozialistische Akkumulation zu fungieren. Eisler und Brecht artikulieren mit der Massnahme im Grunde nur die normale Gesetzmässigkeit abendländischer Politik und Dramaturgie — wie der Stalinismus ja auch nichts anderes tat, als die Akkumulation nachzuholen, die im Westen längst stattgefunden hatte. Der Schock, den sie damit auslösen, rührt daher, dass sie es ungeschminkt tun — dies entspricht der rasenden Verkürzung, in der die Sowjetunion die Akkumulation nachzuholen versuchte. Indem Brecht und Eisler dem zu Tode gebrachten Individuum die Dignität und dem Publikum den Trost der Tragik nehmen, erscheint aber sein Tod umso klarer und unversöhnter und wirkt umso skandalöser. Wie der Stalinismus der Moderne bloss ihre eigene Gewordenheit vor Augen führt, so bringt die Massnahme nur den Gehalt der abendländischen Tragödie zum Ausdruck — jener Form also, in der das Werden des Staats mit Vorliebe dramatisiert worden ist.

Auch dies bedeutet in gewisser Weise eine Verfremdung, eine Aufhebung von Fetischisierung — nur bezieht sie sich nicht auf die Warenproduktion, sondern auf den Staat. Dessen Form wird bejaht, wie zuvor die Warenform, da auch sie das Individuum seiner Nichtigkeit überführt. Bestand die Gefahr der Dreigroschenoper und von Mahagonny aber darin, dass die Negativität in die Affirmation des Kapitals umschlägt, so scheint die Negativität im Falle der Massnahme und der Mutter bereits von der Affirmation des Staates abgeleitet. Die Mutter Pelagea Wlassowa ist stolz auf ihren Sohn: "ich habe einen Sohn der nötig ist" — und sie "rezitiert" voller Stolz, in dem sich der Staat schon breitmacht: "Viele sind zuviel / Wenn sie fort sind, ist es besser. / Aber wenn er fort ist, fehlt er. / Er organisiert seinen Kampf / Um den Lohngroschen, um das Teewasser / Und um die Macht im Staat. " In der Fassung von 1938 ist die Macht im Staat zu einem ganzen Lied auskomponiert: "Wir brauchen nicht nur das Stück Brot / Wir brauchen den Brotlaib selbst. / Wir brauchen nicht nur den Arbeitsplatz / Wir brauchen die ganze Fabrik und die Kohle und das Erz und / Die Macht im Staat. "

An der Massnahme aber besticht die Radikalität, mit der Brecht und Eisler politische Möglichkeiten spielerisch ins Extrem treiben und damit — jenseits taktischer Konzeptionen und politischer Propaganda — Klarheit herstellen über die Konsequenzen bestimmter Haltungen. Und es ist gerade das spielerische Element — das Moment der bewussten Distanzierung — das ihnen diese Aussicht eröffnet. Es ist eben kein Zufall, dass unter allen politischen Texten jener Jahre — seien es nun Pamphlete, Romane, Essays, Gedichte oder Stücke — einzig die Massnahme das Verhalten der Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg und die Moskauer Prozesse vorwegnehmen konnte. Brecht und Eisler sprachen offen und bejahend aus, was sonst hinter politischen Phrasen verborgen blieb: als die Moskauer Prozesse dann in vollem Gang waren, lief auch die Phrasenproduktion auf Hochtouren; es war die Zeit der Volksfront-Taktik — und je öfter von Humanismus gesprochen wird, desto zahlreicher die Hinrichtungen.

Ähnlich wie Eislers Musik den Marschrhythmus, die Symmetrie und das Gleichmass im Metrischen wie im Harmonischen und Melodischen, immer wieder durchbricht, um Distanz zu erzeugen zwischen dem Marschierenden und dem Gleichschritt, dem Singenden und der Melodie, verzichtete Brecht auf die Identifikation von Rolle und Darsteller, Publikum und Dargestellten: es handelt sich um ein Oratorium, in dem die Rollen gewechselt werden; wo berichtet, nicht verkörpert wird: "Jeder der vier Spieler soll die Gelegenheit haben, einmal das Verhalten des jungen Genossen zu zeigen, daher soll jeder Spieler eine der vier Hauptszenen des jungen Genossen spielen. " (Musik und Politik 1924-1948, S. 133) Dennoch bleibt ein Rest von Identifikation, denn das Stück stellt einen Gerichtsprozess dar: die vier Agitatoren und der Chor sind die grundlegenden Identifikationsfiguren, sie bilden den Rahmen für den spielerischen Bericht vom Tod des Genossen.

Es ist Theater auf dem Theater, das einen Prozess (Todesurteil und Hinrichtung des jungen Genossen) im Prozess (Verteidigung der vier Agitatoren für die Hinrichtung des jungen Genossen) zur Darstellung bringt. Darum wird letztlich bei aller Distanzierung doch die Einheit von Zeit, Ort und Handlung gewahrt — anders als in Mahagonny und Dreigroschenoper, wo diese Einheit selbst parodiert wurde. Ebenso erhält sich in der Musik das Gleichmass des Metrischen ("Das Grundtempo der Massnahme ist ein gehendes, marschierendes") und die Grundtonbezogenheit der Tonalität — "geordnet sind die Reihen der Kämpfer" auch in der Musik. Die Ebenen der Distanzierung, die Eisler einbaut, sprengen diesen Rahmen nicht — geben aber die Möglichkeit, über die Vorgänge zu reflektieren: "Anzustreben ist ein sehr straffes, rhythmisches, präzises Singen. Der Sänger soll sich bemühen, ausdruckslos zu singen, d. h. er soll sich nicht in die Musik einfühlen wie bei einem Liebeslied, sondern er soll seine Noten referierend bringen, wie ein Referat in einer Massenversammlung, also kalt, scharf und schneidend. " (Musik und Politik 1924-1948, S. 168) Eisler greift vielfach auf vorbürgerliche Musikformen zurück, so vermag seine Musik das Romantische zu meiden, Trost und Tragik zu verweigern — die Zuhörenden warten vergeblich auf das Erlösungsmotiv, den Genuss der Dur-Moll-Opposition oder den triumphalen Schlussmarsch. Sie ermöglicht damit ein Nachdenken über ihre eigene Funktion — und Eisler selbst hat diese Möglichkeit in seinen Anmerkungen zur Massnahme realisiert: "Die Musik (…) stellt einen Versuch dar, eine gesellschaftliche Umfunktionierung als heroischen Brauch zu konstituieren. Es ist denkbar, dass so etwas gefährlich ist, denn ohne Zweifel wirkt dadurch der Vorgang rituell, d. h. entfernt sich von seinem jeweiligen praktischen Zweck. " (Musik und Politik 1924-1948, S. 131f. )

Im Wissen um diese Gefahr, war Eisler Brecht gewiss voraus. Er wusste, dass ihn die vorbürgerlichen Musikformen in die Nähe der Kirchenmusik brachten und die Partei die Stelle der Kirche einnehmen konnte. Die Ritualisierung der Vernichtung war auch der Grund gewesen, warum er den Jasager scharf kritisiert hatte, und seine Kritik wiederum hatte Brecht überhaupt erst veranlasst, die Massnahme zu schreiben: als eine "Konkretisierung" des Jasagers, als Annäherung an einen "praktischen Zweck". Es spricht nun wieder für Brechts Theater, dass es die Möglichkeit eines solchen Einspruchs selbst provoziert und diesen Einspruch als Anregung zur ntwicklung auch aufnimmt: So hatte etwa bereits der Protest von Schülern bei der Einstudierung des Jasagers in einem Gymnasium in Berlin-Neukölln (der späteren Karl Marx-Schule) zur Umarbeitung geführt — und zur Entstehung zweier anderer Stücke: Der Jasager und Der Neinsager. Die Schüler sahen einfach nicht ein, warum der Knabe im Stück ohne konkrete Gründe — nur, weil der "grosse Brauch" es verlange — von den anderen in den Abgrund gestürzt werden und dazu selbst noch Ja sagen sollte.

Was der Musik ebenso wie dem Text der Massnahme aber mangelt, ist der Ausdruck der Angst. Und darum entspringt der bewusst gesetzten Distanzierung immer wieder ein falsches, manchmal sogar widerwärtiges Pathos, das falsch und widerwärtig ist, weil es letztlich auf eine verschwiegene Identifikation mit dem Gewaltmonopol, als Partei ausgegeben, vertraut, um die eigene Ohnmacht nicht zugeben zu müssen. Damit hängt zusammen, dass Eislers Musik mitunter wuchtiger und bedrückender wirkt als in seinen Liedern und Balladen — manches weist sogar auf den forcierten Ton und den Bombast von Schostakowitsch' und Prokofjews späteren Kompositionen voraus.

Dieses Pathos erzeugt bloss Gruseleffekte: dem Publikum und den Darstellern soll es kalt über den Rücken laufen, wenn der junge Genosse ausgelöscht wird — eine seltsam infantile Schadenfreude, oder vielmehr eine Freude an der Angst der anderen, dürfte Eisler, Brecht und Dudow bei der gemeinsamen Produktion richtiggehend angespornt haben. Wenn Eisler sagt, der Sänger in der Massnahme solle sich nicht einfühlen wie bei einem Liebeslied, seine Noten vielmehr kalt, scharf und schneidend bringen wie eine Referat in einer Massenversammlung, dann bleibt eben noch immer die Möglichkeit eines sadomasochistischen Liebeslieds, und ein solches ist für Massenversammlungen nicht gerade zu empfehlen.

In der Heiligen Johanna der Schlachthöfe — die genau am Scheitelpunkt zwischen Mahagonny und Massnahme steht und darum vielleicht das radikalste Stück ist, das Brecht geschrieben hat — ist die Frage des Staats noch nicht mit der Frage der Gewalt verquickt, das kommunistische Ziel noch nicht verstaatlicht. Es wird vielmehr negativ formuliert vom Fleischfabrikanten Mauler: "Geld aber ein Mittel, einiges zu verbessern und sei's / Für einige nur, ausserdem: dieser Aufbau! / Seit Menschengedenken errichtet, wenn auch immer aufs neu / Weil immer verfallend, doch ungeheuer, wenn auch Opfer fordernd / Sehr schwierig herzustellen immerfort und mit Gestöhn / Immerfort hergestellt, aber doch unvermeidlich / Abpressend der Ungunst des Planeten das Mögliche (…) Denn sonst müsst alles umgestürzt werden von Grund aus / Und verändert der Bauplan von Grund aus nach ganz / Unerhörter neuer Einschätzung des Menschen, die ihr nicht wollt / Noch wir, denn dies geschähe ohne uns und Gott (…). " Und bei allem was Johanna tut, ist das Gefühl der Angst präsent — ohne dass der Autor sich die Hände reibt.

Zuletzt ruft sie nicht dazu auf, die Macht im Staat zu erobern, sondern einfach zu Gewalt und Widerstand, sie selbst ist noch nicht als Opfer instrumentalisiert wie der junge Genosse in der Massnahme — und der Weg, auf den sie sich begibt, bleibt lange Zeit offen: "Vor's morgen wird, werden wir / Von diesen Höfen hier aufbrechen / Und ihre Stadt Chikago erreichen bei Morgengrauen / zeigend unseres Elends ganzen Umfang auf offenen Plätzen / Alles anrufend, was wie ein Mensch aussieht. / Was weiter wird, weiss ich nicht. " Hätte Eisler hierfür die Musik geschrieben, er wäre über Marsch und Tonalität vielleicht weiter denn je hinausgelangt.

Gerhard Scheit
streifzuege.org

Dr. Gerhard Scheit hat einst Violine und Posaune gespielt, beschäftigt sich aber seither mit philosophischen und kulturwissenschaftlichen Fragen. Ende Mai erscheint sein neues Buch "Mülltrennung — Beiträge zu Politik, Literatur und Musik" im Hamburger Konkret-Verlag.