Überwachung auf der Bühne «Die Akte Bern»

Kultur

22. Mai 2018

Das Theaterstück «Die Akte Bern» am Konzert Theater Bern schlägt einen Bogen zwischen den historischen Ereignissen um den noch analogen Fichenskandal und der Gegenwart, in der die Überwachungsarsenale seither digital aufmunitioniert wurden und weiter werden.

Beispiel einer Kopie einer Karteikarte (Rückseite) eines Zürcher Bürgers. Die Daten sind übrigens unabsichtlich fehlerhaft und es kann so heute keiner Person mehr zugeordnet werden.
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Beispiel einer Kopie einer Karteikarte (Rückseite) eines Zürcher Bürgers. Die Daten sind übrigens unabsichtlich fehlerhaft und es kann so heute keiner Person mehr zugeordnet werden. Foto: Polizeidienste der Bundesanwaltschaft (PD)

22. Mai 2018
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Das Erlebnis ist einzigartig, denn Überwachung findet üblicherweise verdeckt statt, der Theaterraum hingegen ist hell und transparent. Überwachung im Internet ist unsichtbar, obwohl sie allgegenwärtig ist.

Unbeschwerte Treffen und konspirative Diskussionen, welche früher ungestört am Küchentisch geführt wurden, haben sich mit der Digitalisierung der Diskursräume in Foren und Gruppen-Chats verlagert. Nach den Enthüllungen von Edward Snowden stiegen die mahnenden Geister von ihren Kisten im Speakers Corner herab und sprachen fortan wieder hinter vorgehaltener Hand. Die Geschichte des Whistleblowers Snowden, dessen Flucht, aber vor allem die veröffentlichten Enthüllungen, haben aufgerüttelt. Wie und wo die NSA, der GCHQ und weitere Geheimdienste unsere Privatsphäre ausspähen, wurde ebenso öffentlich, wie der zuvor noch unvorstellbare Umfang dieser Durchleuchtung.

Ende der 80er Jahre erschütterte ein anderer Datenskandal die Schweiz: der Fichenskandal. Nach und nach wurde bekannt, wie gross das Ausmass der jahrelangen Bespitzelungen wirklich war. Die Berner Beamten haben die personenbezogenen Informationen zu Fichen zusammengetragen und notiert. Jede Information schien wertvoll und so kam es, dass Hinweise von Freunden, Lehrern, Uniprofessoren und Eltern sowie weiteren Vertrauenspersonen, wie etwa Geschäftspartner mutmasslich «verdächtiger» Bürgerinnen und Bürger, feinsäuberlich fichiert wurden. Ein Akteneintrag in Bern konnte dazu führen, dass junge Erwachsene, welche politisch aktiv waren, nicht den Beruf der Wahl antreten konnten, oder ihnen die erhoffte Karriere versagt blieb.

Nachdem das Parlament zur Aufklärung herangezogen wurde, erhielten die Betroffenen Akteneinsicht, was, beim Anblick dieser protokollierten Leben, für Bestürzung sorgte. Einige Fichen wurden mit viel Aufwand gepflegt, andere enthielten ein paar dürftige Zeilen über Nebensächlichkeiten. Trotz geschwärzter Passagen bei den Quellenangaben, konnten die Opfer oft die Quellen aus dem Kontext der Fichen rekonstruieren. Die Opfer lasen in ihren Akten Behauptungen Dritter, die als Tatsachen dargestellt wurden.

Die Karteikarten und Aktenberge verschwanden im Zuge der Digitaliserung und mit ihnen der physische Einfluss auf die Daten. Während das Fassungsvermögen von Aktenschränken abschätzbar war, sind die Festplatten – ihre digitalen Nachfolger – so gross, dass nun ein Datenumfang von zig Millionen Büchern abgelegt und beliebig vervielfältigt werden kann. Viele Jahre nach dem ersten Aufbäumen der Bevölkerung gegen die massenhafte Überwachung von unbescholtenen Bürgern stellt sich heute erneut die Frage: Wie viel Freiheit müssen wir für das vermeintliche Versprechen von Sicherheit aufgeben? Oder konkreter und vor allem unbequemer: Warum lassen wir ausufernde staatliche Überwachungung zu und füttern diese Maschinerie mit den selbstdarstellerischen Inhalten auf sozialen Netzwerken gleich selbst?

Das Theaterstück «Die Akte Bern» am Konzert Theater Bern schlägt einen Bogen zwischen den historischen Ereignissen um den noch analogen Fichenskandal und der Gegenwart, in der die Überwachungsarsenale seither digital aufmunitioniert wurden und weiter werden. Das Erlebnis ist einzigartig, denn Überwachung findet üblicherweise verdeckt statt, der Theaterraum hingegen ist hell und transparent. Überwachung im Internet ist unsichtbar, obwohl sie allgegenwärtig ist. Das Stück hingegen macht den Kontrollverlust, der mit Überwachung einhergeht, für das Publikum explizit. Die Grenzen zwischen mutmasslich «sicherem» Zuschauen und «verunsicherndem» Beobachtetwerden verschwimmen.

Die Darsteller bewegen sich durch eine mehrschichtige Welt aus aufgetürmten Röhrenmonitoren, Wählscheibentelefonen und unzähligen Papierakten. Regelmässig kommen Zeitzeugen wie Moritz Leuenberger, Aline Trede, Carlos Hainimann oder Polo Hofer auf den flackernden Röhrenschirmen zu Wort. Die projizierten Interviewsequenzen korrespondieren mit dem Bühnenspiel, indem diese in den Dialogen wiederaufgenommen, bewertet und teilweise sarkastisch pointiert werden.

Das Stück hat mehrere erzählerische Ebenen: Für die Rahmenhandlung sorgen die zwei Protagonisten Anna und Pesche, die auch für zwei Generationen und somit verschiedene Umgangsweisen und Erfahrungen mit analoger sowie digitaler Überwachung stehen. Dazwischengeschaltet finden sich immer wieder besagte Expertenmeldungen, um im nächsten Moment auf der Bühne dramatisiert zu werden. Eben noch die Experten mimend, vereinen sich die Darstellerinnen und Darsteller kurz darauf zum «Chor der Asozialen». Die Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen sind häufig. Den Zuschauern wird nur selten eine Verschnaufpause gewährt. Tobi Müller, dem Verfasser des Stücks, ist es gelungen, das schwer fassbare Thema Überwachung sachlich, umfangreich und dennoch unterhaltsam zu beleuchten. Es ist kein leichter Stoff, mit dem das Publikum konfrontiert wird. Aber nicht das Theater, sondern letztlich die Realität sorgt für Unbehagen. Das Stück rückt dieses oft aus dem öffentlichen Diskurs verdrängte Kernthema des digitalen Zeitalters lediglich ins Rampenlicht. Es zwingt uns hinzusehen: We are watching ourselves.

Simon / dg

«Die Akte Bern» wird bis zum 5. Juni in der Vidmarhalle des Konzert Theater Bern aufgeführt.

Dieser Artikel steht unter einer cc by-sa 4.0 Lizenz und ist zuerst im Blog der Digitalen Gesellschaft erschienen.