Wie Big Data, Kunst und Pop in Südkorea miteinander vermählt werden Schöpfen oder berechnen?

Kultur

31. Oktober 2016

Songs, deren Melodien mithilfe algorithmischer Verfahren hergestellt werden. Operierte Gesichter und perfekt geshapte Körper. Fernsehserien, deren Plots auf Big-Data-Analysen beruhen.

Hongdae Party District in Seoul, Südkorea.
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Hongdae Party District in Seoul, Südkorea. Foto: Ken Eckert (CC BY-SA 4.0 cropped)

31. Oktober 2016
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Neue Stars am laufenden Band, frisch aus der Retorte. Die Kulturindustrie in Südkorea boomt, K-Pop ist Exportschlager. Doch hat das alles noch etwas mit Kunst zu tun? Berliner Gazette-Autorin Kim Ly Lam hat sich in Seoul umgeschaut:

Geduckte Köpfe, dicht aneinandergereiht und Smartphones, deren Licht auf die zarten Gesichtszüge strahlt; kein ungewöhnlicher Anblick in der Untergrundbahn von Seoul. Die Waggons befördern jährlich knapp 2,6 Milliarden Menschen und nicht wenige der Personen geniessen das freie Wifi, das auf den Schienen angeboten wird. Fragt man die jungen Studenten in Hongdae, ob sie sich ein Leben ohne Medien vorstellen könnten, weiten sich die Augen ungläubig: „A-ni!“ (Nein!). „Wieso denn auch?“, lacht Jung-Soo (Name geändert). Technologie sei ein Segen und mache das Leben schliesslich so viel leichter.

Wer mit der Bahn gegen sieben unterwegs ist, wird auf den silbernen Bänken Männer im massgeschneiderten Anzug beobachten können und ajummas, ältere Damen, die ihren Einkauf zum nächtlichen Strassenstand tragen. Dazwischen versinken erschöpfte Studenten in ihren Jacken, wer die Nase spitzt, riecht das Soju-Getränk der vergangenen Nacht. Seoul ist ein buntes Treiben, das nie schläft. Nahezu jedes Viertel beherbergt einen eigenen kleinen Time Square und es reihen sich grosse Reklamen und Blinklichter auf, Farben, die sowohl tagsüber als auch nachts auf den Bildschirmen flackern.

Und so ist es ihr Leuchten, das in den müden Augen juckt, man spürt es wie eine Erbse unter der Matratze. Doch die Koreaner haben sich mit den omnipräsenten Medien arrangiert. Jüngst haben Anwohner sogar begonnen, ihre Wohnfenster als Werbefläche zu vermieten. Die Kultur- und Medienindustrie boomt: Sie ist ein Geschäft geworden, das sich um Reichweite und Kontrolle dreht.

Realität und Pseudo-Welt

An meinem ersten Abend in Seoul bin ich von der kulturüberfluteten Stadt beeindruckt. ‚Wow – wie modern alles hier ist', denke ich mir. Arm in Arm stehen meine Freundin und ich inmitten der belebten Einkaufsstrasse, während sich die grossen Werbetafeln in unseren Augen spiegeln. Neben uns ziehen Menschengruppen vorbei, sie wirken weniger beeindruckt von den schallenden Medien. Vielleicht sind sie auch nur überfüttert.

Der Informationenkonsum scheint hier zumindest keine Grenzen zu kennen. Auf den Strassen warnen zahlreiche Schilder Handynutzer vor dem Verkehr, da viele Bürger ihre ungeteilte Aufmerksam dem Smartphone schenken. Auch im Zug sind nahezu alle Augenpaare auf die Bildschirme geheftet. Ich habe verwirrt beobachten können, wie die nächste Pop-Band in einer quirkig-bunten TV-Show zusammengestellt wird oder sich Menschen beim Verzehren von riesigen Mengen an Essen livestreamen. (Man nennt diesen Livestream auch Mukbang.) Zum Glück waren die meisten Handynutzer zu vertieft gewesen, um sich über meinen schamlosen Mitkonsum zu empören oder ihn überhaupt zu bemerken.

In Korea steigt das Angebot an kulturellen Medienangeboten kontinuierlich. Vor allem Real-Life-Formate wie Kochsendungen, Mukbang und Reality Shows erfreuen sich zunehmender Popularität. Sie produzieren Bilder einer non-existenten Realität, eine parallele „Pseudo-Welt“, und verwandeln Erfahrungen, Tätigkeiten und Lebendigkeit in eine Ware, mit der sich Geld verdienen lässt. Für viele Konsumenten entsteht hier ein neuer Massstab für ihre eigene Realität. Es wird eifrig nach dem Rock recherchiert, den K-Pop-Star Taeyeon im neusten Musikvideo trägt, oder der erste Trip nach Santorini gebucht, da Beauty-Blogger davon schwärmen.

Doch das Nachahmen dieser Medien ist mit Vorsicht zu geniessen. „Pseudo-Welten“ werden vordeterminiert und manipuliert, nicht selten sind es die ökonomischen Akteure und Interessengruppen, die ihren Profit daraus ziehen. Dass viele von uns sie zu imitieren versuchen, spielt den Profiteuren eine ungeheure Macht zu. Daher besteht das Risiko nicht nur in gänzlichem Kreativitätsverlust; wir selbst erodieren zu einer Kopie eines in Medien vorgelebten Konstrukts und werden in unserem Wert durch Gleichheit degradiert. Es ist die Geburtsstunde des kontrollierbaren „Mainstreams“, einer gängigen Praktik unserer heutigen Kulturmedienindustrie, und eine Niederlage für den freien Individualismus. Für die Industrie bedeutet das vor allem Geld. In Südkorea gibt es eine Vorgeschichte dieser Konformität.

„Woori“ (우리) – das Wir zählt

Wer verstehen möchte, warum die Kulturpropaganda ausgerechnet in Südkorea hohe Erträge erzielt, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen. Die in Südkorea verbreitete Indoktrination hat nämlich geschichtliche Wurzeln. Man schaue sich die Situation in den 50ern an: Korea ist gespalten, der Krieg hat beide Hälften ausgelaugt. Die südkoreanische Regierung will inmitten von Schutt und Asche einen sozialen und ökonomischen Wiederaufbau anleiten. Eine ehrgeizige Aufgabe, da der Anspruch hoch ist und der Westen Druck ausübt.

Wer in den Geschichtsbüchern blättert, wird auf Lob für die südkoreanische Marktpolitik stossen. Diese sei offen und mit Schwerpunkt auf Export und Aussenhandel geführt worden, was den Sprung in die westliche Liga ermöglicht habe. Auch lässt sich daraus die Glorifizierung von Technologie in Korea ableiten, ein hochgeschätzter Treibstoff des Handels. Der Tigerstaat wird vor allem durch seinen rapiden Industrialisierungsprozess definiert. Seltener werden die staatlichen Kampagnen innerhalb der Gesellschaft thematisiert, die zu einem neuen Volksverständnis geführt haben – und ebenfalls fundamental für den Aufstieg waren.

Vielen Politikern war nach dem Krieg bewusst, dass das Spalten der Nation eine Identitätskrise ausgelöst hatte. Das Volk war zu verunsichert gewesen, um an einem Strang zu ziehen, eine Problematik, die den Wiederaufbau erschweren würde. So war es unumstösslich, zunächst die Gesellschaft zu stabilisieren und die vielen verstörten Individuen zu einen. „Woori“ bedeutet übersetzt wir oder uns und ist das Schlüsselwort der fortan eingeleiteten Propaganda. Diese betonte stets die kollektive Identität und Interdependenz der Südkoreaner und vermarktete Einigkeit und Gruppenzugehörigkeit als lohnenswerte Bestrebungen. Noch heute werben Banner und Plakate mit woori auf den Firmengebäuden und U-Bahn-Gängen Seouls.

Sie appellieren an das Wir-Gefühl, das in der koreanischen Gesellschaft tief verankert ist. Ökonomisch gesehen kann die woori-Propaganda zu einem instrumentalisierten Mainstream führen. Koreaner bestellen gerne das populärste Gericht auf dem Menu, kaufen sich die Kleidung ihrer Freunde nach – Partner-Looks sind äusserst beliebt! – oder deuten beim Friseur auf einen Star, dem sie ähnlich sehen möchten. Es gilt, einer Gruppe zuzugehören, während Sonderbarkeit und Individualität eher Makeln ähneln. Und so beeinflusst der starke Nationalgeist unter dem Woori-Credo das Konsumverhalten der Menschen. Die Kontrollierbarkeit und Vereinheitlichung des Volkes kommt nicht nur einem Wiederaufbau zugute; sie kann auch manipulativ eingesetzt werden, was die Problematik der zuvor erläuterten Kulturindustrie und „Pseudo-Welt“ verstärkt.

Die nationale Filterblase

Untersucht man das Web-Verhalten der koreanischen Bürger, gibt es starke Tendenzen, nationale Quellen zu nutzen. Denn auch im Netz bleibt so mancher Bürger seinem Land loyal. So nutzen die meisten User bevorzugt koreanische Blogs und Foren für die Recherche oder kommunizieren über KakaoTalk statt WhatsApp, gerne lesen sie die vertrauten Hangul-Zeichen. Sogar Google weicht der Suchmaschine Naver, einem Web Portal, das von ehemaligen Samsung-Mitarbeitern gegründet wurde. Der globale Riesenkonzern Google hatte sich dieses Frühjahr über die schlechten Geschäftsbedingungen für ihren Online-Mapping-Service beklagt. Internationale Geschäftspartner würden systematisch benachteiligt, um lokale Unternehmen wie Naver Corp. oder Kakao Corp. zu fördern.

Zur Verteidigung hatte die koreanische Regierung erwidert, dass nationale Firmen die nationale Sicherheit förderten, da sie allein staatlich überprüftes Material nutzen würden. Dass sich hier ein neues Problem bezüglich internationalen Austauschs und potenzieller Zensur auftut, kommt nur wenigen Bürgern in den Sinn. Das Konzept ähnelt besorgniserregend einem nationalen Filter, der den Informationenkonsum seines Volkes reguliert. „Es ist nicht so, dass die jungen Menschen dort nichts mitbekämen“, meint ein Freund zu mir.

Wir sitzen am Zülpicher Platz in Köln, erst vor wenigen Wochen hat er seinen Freiwilligendienst in Seoul beendet. Das Jahr hatte er in einer WG mit koreanischen Studenten verbracht. „Meine ganzen Mitbewohner haben ständig kritisiert, was abläuft. Aber keiner wollte sich dazu aufraffen, etwas daran zu ändern.“ Dafür seien schliesslich zu viele Menschen mit der jetzigen Lage zufrieden. Es werde romantisiert, was das Zeug hält, und niemand wolle die oberflächliche Ruhe der Gesellschaft stören. Woori gehe vor.

Aller Geschlossenheit und Eigenheit zum Trotz, steigt weltweit die Faszination an der Kultur Koreas. Der Export von koreanischen Populär-Medien wie K-Pop und K-Drama erhöht sich von Jahr zu Jahr, während die Industrie zu einem vitalen Zweig der Ökonomie des Landes heranwächst. Für den Einfluss der koreanischen Kulturblase gibt es seit einiger Zeit einen Begriff: Hallyu. Südostasiatische und lateinamerikanische Länder seien dafür besonders empfänglich, auch im Westen gibt es zunehmend Korea-Fans.

Den vergangenen internationalen K-Pop Tanzwettbewerb 2015 in Changwon hat sogar eine nigerianische Tanzgruppe gewonnen. Was einem unabhängigen Austausch gleicht, wird insgeheim von der koreanischen Regierung reguliert. Dessen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten organisiert beispielsweise das K-Pop World Festival, an dem jährlich über 60 Länder teilnehmen. Die staatlichen Agenturen sind sich bewusst, dass mit steigender Kulturvermarktung ebenfalls Einnahmen und Einfluss wachsen.

Cultura Oeconomica

Nun existiert der Kultur- und Kreativindustrialismus nicht nur in Südkorea. Er ist ein Zeitgeist, der unsere gesamte Gesellschaft einfängt und in modernen Staaten vorherrscht, die sich dem Wachstum verschrieben haben. Dennoch sticht Südkorea mit besonderer Anpassungsfreudigkeit heraus. So kritisierten Komponisten bereits in den 80ern, dass traditionelle „echte koreanische Musik“ durch Verwestlichung vom Aussterben bedroht sei.

Unabhängige Leidenschaft würde einem profitablen globalen Erfolgsrezept weichen, das aufs Genaueste berechenbar ist, weshalb das Individuelle und Koreanische in vielen Kunstdisziplinen seine Beliebtheit verliere. Es gebe Regeln, wie ein Lied aufgebaut sein soll, oder bestimmte Methoden, mit denen ein traditionelles Instrument an westliche Vorlieben angepasst werden kann.

Tatsächlich fällt uns bei näherer Betrachtung auf, dass sich weltweit Kulturen angleichen. Dies ist nicht nur ein Phänomen der Globalisierung, sondern vor allem ein Produkt des kapitalistischen Kulturindustrialismus. Der heutige künstlerische Prozess ähnelt zunehmend einem mechanischen Akt, der durch ökonomische Zweck- und Nutzenmaximierung charakterisiert wird. Was den Populärmedien der Moderne zu fehlen scheint, ist das Herzblut ihres Schöpfers, das Schaffen von Kunstwerken um der Werke Willen.

Ode an die Effizienz

Stattdessen steht die Reproduzierbarkeit im Fokus. Eine Ode an Effizienz und den Kapitalismus. Der aussergewöhnliche Eifer Südkoreas, mit dem Fortschritt des Westens Schritt zu halten, scheint den gesamten Prozess zu beschleunigen. Die Konsequenzen dieser Vorherrschaft spürt vor allem die koreanische Kultur.

Man schaue sich die Praktiken in der zeitgenössischen koreanischen Musik an, dem K-Pop. Wer die Branche zu verstehen versucht, wird abseits schöner Sänger, virtuosem Synchrontanz und Glitzer und Geld die Abgründe des Industriewahns vorfinden. Ehemalige K-Pop-Künstler berichteten von dem immensen Druck, einem vorgeschriebenen Mass zu entsprechen. Dieser äussere sich vor allem im körperlichen Erscheinungsbild der jungen Männer und Frauen. Der Körper werde genauestens abgemessen und nach dem Ideal modifiziert; Begriffe wie „V-Shape“ und „S-Line“ beschreiben die Formen und Grössen, die Gesicht und Körper zu bieten haben müssen.

Plastische Chirurgie ist im Business nämlich Normalität. Besonders beliebt sind Augenlid-Operationen, die das asiatische Auge vergrössern und dem westlichen Ideal anpassen. Somit ist Schönheit hierzulande keine subjektive Bewertung mehr; sie ist an einem Standard gekoppelt und reproduzierbar. Wer durch Seoul läuft wird feststellen müssen, dass sich alle Menschen erschreckend ähnlich aussehen.

Selbst ich, eine Person, die mit vietnamesischen Wurzeln aufgewachsen ist und meint, asiatische Gesichter nach Land und Person unterscheiden zu können, war verblüfft. Die operierten Gesichter der Stadt waren nur schwer auseinanderzuhalten. An dieser Stelle gibt sich eine dialektische Beziehung zwischen dem Woori-Nationalbewusstsein und einer zunehmenden Verwestlichung zu erkennen. Es ist ein erfolgreiches Zusammenspiel zwischen den beiden Charakteristika des heutigen Südkoreas, ein Spiel von Zwang und Strebsamkeit. Darin findet sich ein reichhaltiger Nährboden für Agenturen und Konzerne, die die Zwänge zu ihrem Profit nutzen und instrumentalisieren.

Künstlich werden Bedürfnisse produziert, die auf ihnen aufbauen und von der Kulturindustrie gesteuert werden. Das Ergebnis sind Prosperität und Macht, gehüllt in eine angeblichen Freiheit, die man der Kunst und Kultur zuschreibt. Dass deren Ausdruck heutzutage in Abhängigkeit vom Kapitalismus steht, ist ein kritischer Konflikt. Es verwandelt uns vom autonomen Konsumenten in eine manipulierte Schachfigur, deren Züge vorberechnet wurden. Südkorea lehrt uns: Die Kulturindustrie dient nicht der Kultur, sondern dem Kapitalismus. Sie hat Kosten, die sich auf die kulturelle Identität eines Landes auswirken – und das, was wir als Kultur verstehen und definieren.

Kim Ly Lam
berlinergazette.de

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