Der geborene Autodidakt Tolstoi als sozialer Denker

Kultur

3. November 2010

In dem genialsten Romanschriftsteller der Gegenwart lebte von Anfang an neben dem rastlosen Künstler ein rastloser sozialer Denker.

Werbung für eine Tolstoi-Ausstellung im Museum Strauhof in Zürich.
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Werbung für eine Tolstoi-Ausstellung im Museum Strauhof in Zürich. Foto: Jürg Vollmer (CC BY-SA 2.0 cropped)

3. November 2010
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Die Grundfragen des menschlichen Lebens, der Beziehungen der Menschen zueinander, der gesellschaftlichen Verhältnisse beschäftigten seit jeher tief das innerste Wesen Tolstois, und sein ganzes langes Leben und Schaffen war zugleich ein unermüdliches Grübeln über "die Wahrheit" im Menschenleben. Dasselbe rastlose Suchen nach Wahrheit wird gewöhnlich auch einem anderen berühmten Zeitgenossen Tolstois, Ibsen, nachgesagt.

Während aber in den Ibsenschen Dramen der grosse Ideenkampf der Gegenwart in dem grossspurigen, meistens kaum verständlichen Puppenspiel zwerghafter Gestalten grotesken Ausdruck findet, wobei der Künstler Ibsen unter den unzureichenden Anstrengungen des Denkers Ibsen kläglich erliegt, vermag die Denkarbeit Tolstois seinem künstlerischen Genie nichts anzuhaben.

In jedem seiner Romane fällt diese Arbeit irgendeiner Person zu, die mitten in dem Getümmel lebenstrotzender Gestalten die etwas linkische, ein wenig lächerliche Rolle eines verträumten Räsoneurs und Wahrheitssuchers spielt, wie Pierre Besuchow in "Krieg und Frieden", wie Lewin in "Anna Karenina", wie Fürst Nechljudow in der "Auferstehung".

Diese Personen, die immer die eigenen Gedanken, Zweifel und Probleme Tolstois in Worte kleiden, sind in der Regel künstlerisch am schwächsten, schemenhaftesten gezeichnet, sie sind mehr Beobachter des Lebens als Mitwirkende Teilnehmer. Allein die Gestaltungskraft Tolstois ist so gewaltig, dass er selbst nicht imstande ist, die eigenen Werke zu verpfuschen, wie sehr er sie in der Sorglosigkeit eines gottbegnadeten Schöpfers misshandeln mag.

Und als der Denker Tolstoi mit der Zeit über den Künstler den Sieg davongetragen hatte, so geschah es nicht, weil das künstlerische Genie Tolstois versiegte, sondern weil ihm der tiefe Ernst des Denkers Schweigen gebot.

Wenn Tolstoi in dem letzten Jahrzehnt statt herrlicher Romane nunmehr künstlerisch oft trostlose Traktate und Traktätchen über Religion, Kunst, Moral, Ehe, Erziehung, Arbeiterfrage schrieb, so war es, weil er mit seinem Grübeln und Denken zu Ergebnissen gelangt ist, die ihm sein eigenes künstlerisches Schaffen als eine frivole Spielerei erscheinen liessen.

Welches sind nun diese Ergebnisse, welche Ideen verfocht und verficht jetzt noch bis zum letzten Atemzuge der greise Dichter? Kurz gefasst, ist die Ideenrichtung Tolstois bekannt als, eine Abkehr von den bestehenden Verhältnissen mitsamt dem sozialen Kampf in jeglicher Gestalt zu einem "wahren Christentum". Schon auf den ersten Blick mutet diese geistige Richtung reaktionär an.

Gegen den Verdacht freilich, als hätte das von ihm gepredigte Christentum irgend etwas mit dem bestehenden offiziellen Kirchenglauben zu tun, ist Tolstoi schon durch den öffentlichen Bannstrahl geschützt, mit dem ihn die russische orthodoxe Staatskirche getroffen hat Allein auch eine Opposition gegen das Bestehende schillert in reaktionären Farben, wenn sie sich in mystische Formen kleidet.

Doppelt verdächtig erscheint aber ein christlicher Mystizismus, der jeden Kampf und jede Form der Gewaltanwendung verabscheut und die Lehre von der "Nichtvergeltung" predigt, in einem sozialen und politischen Milieu wie dem des absolutistischen Russland.

Tatsächlich äusserte sich der Einfluss der Tolstoischen Lehren auf die junge russische Intelligenz – ein Einfluss, der übrigens nie weittragend war und sich nur auf kleine Zirkel erstreckte – Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, d. h. in der Periode des Stillstands des revolutionären Kampfes, in der Verbreitung einer indolenten ethisch-individualistischen Strömung, die eine direkte Gefahr für die revolutionäre Bewegung hätte werden können, wäre sie nicht räumlich wie zeitlich bloss eine Episode geblieben.

Und endlich unmittelbar vor das geschichtliche Schauspiel der russischen Revolution gestellt, wendet sich Tolstoi offen gegen die Revolution, wie er bereits in seinen Schriften schroff und ausdrücklich gegen den Sozialismus Stellung genommen, speziell die Marxsche Lehre als eine ungeheure Verblendung und Verirrung bekämpft hat.
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Bild: L.N. Tolstois Arbeitszimmer in Poliana. / Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski (PD)

Gewiss, Tolstoi war und ist kein Sozialdemokrat, und für die Sozialdemokratie, für die moderne Arbeiterbewegung hat er nicht das geringste Verständnis. Allein, es ist ein hoffnungsloses Verfahren, an eine geistige Erscheinung von der Grösse und von der Eigenart Tolstois mit dem armseligen steifen Schulmass herantreten und ihn danach beurteilen zu wollen.

Die ablehnende Haltung zum Sozialismus als einer Bewegung und einem Lehrsystem kann unter Umständen nicht von der Schwäche, sondern von der Stärke eines Intellekts herrühren, und dies ist gerade bei Tolstoi der Fall. Einerseits herangewachsen noch in dem alten leibeigenen Russland Nikolaus' L, in einer Zeit, wo es im Zarenreich weder eine moderne Arbeiterbewegung noch auch die nötige wirtschaftliche und soziale Vorbedingung dazu, eine kräftige kapitalistische Entwicklung, gab, war er in seinem kräftigsten Mannesalter Zeuge des Versagens zuerst der schwächlichen Anläufe einer liberalen Bewegung, dann auch der revolutionären Bewegung in der Form der terroristischen "Narodnaja Wolja", um erst im Alter fast eines Siebzigjährigen die ersten kräftigen Schritte des industriellen Proletariats und schliesslich als hochbetagter Greis die Revolution zu erleben.

So ist es kein Wunder, dass für Tolstoi das moderne russische Proletariat mit seinem geistigen Leben und Streben nicht existiert, da ihm der Bauer, und zwar der ehemalige tiefgläubige und passiv duldende russische Bauer, der nur eine Sehnsucht kennt – mehr Land zu besitzen, ein für allemal das Volk schlechthin bedeutet.

Anderseits aber gehört Tolstoi, der alle kritischen Phasen und den ganzen qualvollen Werdegang des russischen öffentlichen Gedankens miterlebt hat, zu jenen selbständigen, genialen Geistern, die sich sehr viel schwerer in fremde Denkformen, in fertige Lehrsysteme fügen als Durchschnittsintelligenzen. Sozusagen geborener Autodidakt – nicht in bezug auf die formale Bildung und das Wissen, sondern in bezug auf das Denken –, muss er zu jedem Gedanken auf einem eigenen Wege gelangen.

Und sind die Wege für andere meist unbegreiflich und die Resultate bizarr, so erreicht der kühne Einzelgänger dabei doch Ausblicke von überwältigender Weite. Wie bei allen Geistern dieser Art, liegt die Stärke Tolstois und das Schwergewicht seiner Gedankenarbeit nicht in der positiven Propaganda, sondern in der Kritik des Bestehenden. Und hier erreicht er eine Vielseitigkeit, Gründlichkeit und Kühnheit, die an die alten Utopistenklassiker des Sozialismus, an Saint-Simon, Fourier und Owen, erinnern. Es gibt nicht eine von den hergebrachten geheiligten Institutionen der bestehenden Gesellschaftsordnung, die er nicht unbarmherzig zerpflückt, ihre Verlogenheit, Verkehrtheit und Verderblichkeit aufgezeigt hätte.

Kirche und Staat, Krieg und Militarismus, Ehe und Erziehung, Reichtum und Müssiggang, physische und geistige Degradation der Arbeitenden, Ausbeutung und Unterdrückung der Volksmassen, das Verhältnis der Geschlechter, Kunst und Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt – alles unterzieht er einer schonungslosen, vernichtenden Kritik, und zwar stets vom Standpunkt der Gesamtinteressen und des Kulturfortschritts der grossen Masse. Liest man z. B. die Anfangssätze seiner "Arbeiterfrage", so meint man, eine populäre sozialistische Agitationsschrift in der Hand zu haben:

"In der ganzen Welt gibt es mehr als eine Milliarde, Tausende Millionen Arbeiter. Das ganze Getreide, sämtliche Waren der ganzen Welt, alles, wovon die Menschen leben und was ihren Reichtum ausmacht, ist das Produkt des arbeitenden Volkes. Allein nicht das arbeitende Volk, sondern die Regierung und die Reichen geniessen alles, was es erzeugt. Das werktätige Volk aber lebt in ewiger Not, Unwissenheit, Sklaverei und Verachtung bei allen denjenigen, die es kleidet, nährt, für die es baut und denen es dient.

Das Land ist ihm weggenommen worden, und es ist das Eigentum derer, die nicht arbeiten, so dass der Arbeiter alles das machen muss, was die Grundbesitzer von ihm verlangen, um vom Grund und Boden leben zu können. Verlässt aber der Arbeiter das Land und geht in die Werkstatt, so gerät er in die Sklaverei bei den Reichen, bei welchen er das ganze Leben 10, 12, 14 und noch mehr Stunden am Tag eine fremde, eintönige und oft für das Leben schädliche Arbeit ausführen muss. Kann er sich aber auf dem Lande oder bei der fremden Arbeit so einrichten, um nur in Not leben zu können, so lässt man ihn nicht in Ruhe, sondern verlangt von ihm Steuern, zieht ihn selbst für drei, für fünf Jahre zum Soldatendienst heran und zwingt ihn, für das Kriegswerk besondere Steuern zu zahlen.

Will er aber den Boden benutzen, ohne Rente zu zahlen, einen Streit anfangen oder die Arbeitswilligen verhindern, seine Stelle einzunehmen, oder die Steuern verweigern, so schickt man gegen ihn das Militär, das ihn verwundet, tötet und mit Gewalt zwingt, nach wie vor zu arbeiten und zu zahlen ... Und so leben die meisten Menschen in der ganzen Welt, nicht bloss in Russland, sondern auch in Frankreich, Deutschland, England, China, Indien, Afrika, überall."'

Seine Kritik des Militarismus, des Patriotismus, der Ehe wird an Schärfe von der sozialistischen Kritik kaum übertroffen und bewegt sich in derselben Richtlinie wie diese. Wie originell und tief die soziale Analyse Tolstois ist, zeigt z. B. der Vergleich seiner Ansicht über die Bedeutung und den sittlichen Wert der Arbeit mit der Ansicht Zolas. Während dieser die Arbeit als solche in echt kleinbürgerlichem Geiste auf das Piedestal erhebt, wofür er bei manchen hervorragenden französischen und anderen Sozialdemokraten in den Geruch eines Sozialisten von reinstem Wasser gekommen ist, bemerkt Tolstoi ruhig, indem er mit wenigen Worten den Nagel auf den Kopf trifft: "Herr Zola sagt, dass die Arbeit den Menschen gut mache; ich habe immer das Gegenteil bemerkt: Die Arbeit als solche, der Stolz der Ameise auf ihre Arbeit, macht nicht nur die Ameise, sondern auch die Menschen grausam ...

Aber wenn sogar die Arbeitsamkeit kein erklärtes Laster ist, so kann sie in keinem Falle eine Tugend sein. Die Arbeit kann ebenso wenig eine Tugend sein wie das Sichernähren.

Die Arbeit ist ein Bedürfnis, das, wenn es nicht befriedigt wird, ein Leiden und nicht eine Tugend ausmacht Die Erhebung der Arbeit zu einer Tugend ist ebenso verkehrt wie die Erhebung des Sichernährens des Menschen zu einer Würde und Tugend. Die Arbeit konnte die Bedeutung, die man ihr in unsrer Gesellschaft zuschreibt, nur als eine Reaktion gegen den Müssiggang gewinnen, den man zum Merkmal des Adels erhoben hat und den man noch als Merkmal der Würde in reichen und wenig gebildeten Klassen hält ...

Die Arbeit ist nicht bloss keine Tugend, sondern sie ist in unsrer falsch geordneten Gesellschaft zum grössten Teil ein das sittliche Empfindungsvermögen ertötendes Mittel."

Wozu zwei Worte aus dem "Kapital" das knappe Gegenstück bilden: "Das Leben des Proletariats beginnt, wo seine Arbeit aufhört." Bei der obigen Zusammenstellung der beiden Urteile über die Arbeit zeigt sich übrigens genau das Verhältnis Zolas zu Tolstoi im Denken wie im künstlerischen Schaffen: das eines biederen und talentvollen Handwerkers zum schöpferischen Genie.

Tolstoi kritisiert alles Bestehende, erklärt, dass alles wert sei, zugrunde zu gehen, und er predigt: Abschaffung der Ausbeutung, allgemeine Arbeitspflicht, ökonomische Gleichheit, Abschaffung des Zwanges in der Staatsorganisation wie im Verhältnis der Geschlechter, völlige Gleichheit der Menschen, der Geschlechter, der Nationen und die Völkerverbrüderung. Welcher Weg soll uns aber zu dieser radikalen Umwälzung der sozialen Organisation führen?

Die Rückkehr der Menschen zu dem einzigen und einfachen Grundsatze des Christentums: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Man sieht, Tolstoi ist hier reiner Idealist.

Durch sittliche Wiedergeburt der Menschen will er sie zur Umkrempelung ihrer sozialen Verhältnisse bringen, und die Wiedergeburt will er durch laute Predigt und durch Beispiel erreichen. Und er wird nicht müde, die Notwendigkeit und Nützlichkeit dieser sittlichen "Auferstehung" zu wiederholen mit einer Zähigkeit, einer gewissen Dürftigkeit der Mittel und einer naiv-schlauen Überredungskunst, die lebhaft an die ewigen Wendungen Fouriers von dem Eigennutz der Menschen erinnern, den er in verschiedensten Formen für seine sozialen Pläne zu interessieren suchte.

Das soziale Ideal Tolstois ist also nichts anderes als Sozialismus. Will man aber den sozialen Kern und die Tiefe seiner Ideen in schlagendster Weise erkennen, so muss man sich nicht sowohl an seine Traktate über ökonomische und politische Fragen, sondern an seine Schriften über die Kunst wenden, die übrigens auch in Russland zu den am wenigsten bekannten gehören.

Der Gedankengang, den Tolstoi hier in glänzender Form entwickelt, ist folgender: Die Kunst ist - entgegen allen ästhetischen und philosophischen Schulmeinungen - nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen, sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander wie die Sprache.

Nachdem er durch eine köstliche Abschlachtung aller Kunstdefinitionen von Winckelman und Kant bis Taine diesen echt materialistisch-historischen Massstab gewonnen hat, tritt Tolstoi mit demselben in der Hand an die gegenwärtige Kunst heran und findet, da der Massstab in keinem Gebiet und in keinem Stück auf die Wirklichkeit passt; die gesamte bestehende Kunst ist – mit einigen ganz geringen Ausnahmen – der grossen Masse der Gesellschaft, nämlich dem arbeitenden Volke, unverständlich.

Statt daraus mit der landläufigen Meinung auf die geistige Rohheit der grossen Masse und die Notwendigkeit ihrer "Hebung" zum Verständnis der heutigen Kunst zu schliessen, zieht Tolstoi den umgekehrten Schluss: Er erklärt die gesamte bestehende Kunst für "falsche Kunst": Und die Frage, wie ist es denn gekommen, dass wir seit Jahrhunderten eine "falsche" statt einer "wahren", d. h. volkstümlichen Kunst haben, führt ihn zu einem weiteren kühnen Ausblick: eine wahre Kunst hätte es in den uralten Zeiten gegeben, wo das gesamte Volk eine gemeinsame Weltanschauung – Tolstoi nennt sie "Religion" – hatte; aus dieser seien solche Werke wie Homers Epos oder die Evangelien entstanden.

Seit jedoch die Gesellschaft in eine ausgebeutete grosse Masse und eine kleine herrschende Minderheit zerklüftet sei, diene die Kunst nur dazu, die Gefühle der reichen und müssigen Minderheit auszudrücken, da dieser aber heute jede Weltanschauung überhaupt abhanden gekommen sei, so hätten wir den Verfall und die Ausartung, die die moderne Kunst charakterisieren.

Zu einer "wahren Kunst" kann es nach Tolstoi nur dann kommen, wenn sie aus einem Ausdrucksmittel der herrschenden Klassen wieder zur Volkskunst, d. h. zum Ausdruck einer gemeinsamen Weltanschauung der arbeitenden Gesellschaft, wird.

Und mit starker Faust schleudert er in das Verdammnis der "schlechten, falschen Kunst" die grössten und kleinen Werke der berühmtesten Sterne der Musik, der Malerei, der Dichtkunst hinab und zum Schluss – seine sämtlichen eigenen herrlichen Werke. "Sie stürzt, sie zerfällt, die schöne Welt, ein Halbgott hat sie zerschlagen." Nur noch einen letzten Roman – "Auferstehung" – schrieb er seitdem, sonst hielt er es nur für wert, einfache, kurze Volksmärchen und Traktätchen zu schreiben, "die jedermann verständlich sind".

Der schwache Punkt Tolstois: die Auffassung der ganzen Klassengesellschaft als einer "Verirrung" statt einer historischen Notwendigkeit, die die beiden Endpunkte seiner geschichtlichen Perspektive, den Urkommunismus und die sozialistische Zukunft, verbindet, liegt auf der Hand.

Wie alle Idealisten, glaubt er ja auch an die Allmacht der Gewalt und erklärt die ganze Klassenorganisation der Gesellschaft als das blosse Produkt einer langen Kette nackter Gewaltakte. Aber eine wahrhaft klassische Grösse liegt in dem Gedanken über die Zukunft der Kunst, die Tolstoi zugleich in der Vereinigung der Kunst als Ausdrucksmittel mit dem sozialen Empfinden der arbeitenden Menschheit und der Ausübung der Kunst, d. h. der Künstlerlaufbahn, mit dem normalen Leben eines arbeitenden Gesellschaftsgliedes erblickt.

Die Sätze, in denen Tolstoi das Abnorme in der Lebensweise des heutigen Künstlers geisselt, der nichts anderes tat als "seiner Kunst leben", sind von lapidarer Wucht, und es liegt ein echt revolutionärer Radikalismus darin, wenn er die Hoffnungen zerschlägt, eine Verkürzung der Arbeitszeit und Hebung der Bildung in den Massen werde ihnen das Verständnis für die Kunst, wie sie heute gestaltet ist, verschaffen :

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Bild: Poster von Leon Tolstoi's "Sergius" / PD

"Das alles sagen die Verteidiger der heutigen Kunst mit Vorliebe, doch bin ich überzeugt, dass sie selbst nicht glauben, was sie sagen

Sie wissen wohl, dass die Kunst, wie sie sie auffassen, die Unterdrückung der Massen zur notwendigen Bedingung hat und sich auch durch die Aufrechterhaltung dieser Unterdrückung selbst aufrechterhalten kann.

Es ist unerlässlich, dass sich Massen von Arbeitern in der Arbeit erschöpfen, damit unsre Künstler, Schriftsteller, Musiker, Sänger und Maler auf den Grund der Vollkommenheit gelangen, der ihnen gestattet, uns Vergnügen zu bereiten ...

Doch selbst angenommen, dass diese Unmöglichkeit möglich ist und dass man ein Mittel fände, die Kunst, wie man sie auffasst, dem Volke zugänglich zu machen, so drängt sich eine Betrachtung auf, die beweist, dass diese Kunst nicht eine universelle sein könnte: nämlich der Umstand, dass sie für das Volk völlig unverständlich ist. Früher schrieben die Dichter lateinisch, doch jetzt sind die künstlerischen Erzeugnisse unsrer Dichter ebenso unverständlich für den gemeinen Menschen als wären sie in Sanskrit geschrieben.

Man wird nun antworten, die Schuld liege an dem Mangel von Kultur und Entwicklung des gemeinen Menschen, und unsre Kunst werde von allen dann verstanden werden, wenn sie eine genügende Erziehung genossen haben. Das ist wieder eine unsinnige Antwort, denn wir sehen, dass die Kunst der höheren Klassen zu jeder Zeit nur ein einfacher Zeitvertreib für diese Klassen selbst gewesen ist, ohne dass die übrige Menschheit etwas davon begriffen hat.

Die unteren Klassen mögen sich noch so sehr zivilisieren, die Kunst, die von Anfang an nicht für sie geschaffen war, wird ihnen stets unzugänglich bleiben ... Für den denkenden und aufrichtigen Menschen ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass die Kunst der höheren Klassen nie die Kunst der ganzen Nation werden kann."

Der das schrieb, ist in jedem Zoll mehr Sozialist und auch historischer Materialist als jene Parteigenossen, die, in der neuerdings aufgekommenen Kunsthexerei machend, mit gedankenloser Geschäftigkeit die sozialdemokratische Arbeiterschaft zum Verständnis für die dekadente Kleckserei eines Slevogt oder eines Hodler "erziehen" wollen.

So muss Tolstoi in seiner Stärke wie in seinen Schwächen, im tiefen und scharfen Blick seiner Kritik, im kühnen Radikalismus seiner Perspektiven wie im idealistischen Glauben an die Macht des subjektiven Bewusstseins in die Reihe der grossen Utopisten des Sozialismus gestellt werden.

Es ist nicht seine Schuld, sondern sein historisches Pech, dass er mit seinem langen Leben von der Schwelle des 19. Jahrhunderts, an der die Saint-Simon, Fourier und Owen als Vorläufer des modernen Proletariats standen, bis an die Schwelle des 20. reicht, wo er als Einzelgänger dem jungen Riesen verständnislos gegenübersteht.

Aber die reife revolutionäre Arbeiterklasse kann ihrerseits dem grossen Künstler und dem kühnen Revolutionär und Sozialisten trotz seiner selbst mit verständnisinnigem Lächeln heute die ehrliche Hand drücken, die die guten Worte geschrieben hat:

"Jeder kommt auf seinem Wege zur Wahrheit, eins aber muss ich sagen: Das, was ich schreibe, sind nicht nur Worte, sondern ich lebe danach, darin ist mein Glück, und damit werde ich sterben."

Rosa Luxemburg / Leipziger Volkszeitung, Nr. 209 vom 9. September 1908