Kleine Musikgeschichte des Fordismus (notiert nach Art der Sonate) Roll over Adorno?

Kultur

11. Mai 1997

Unter den zahlreichen erfundenen Anekdoten des neudeutschen Humoristen Eckhard Henscheid gibt es eine einzige wirklich geglückte — sie handelt von Professor Adornos Verhältnis zur populären Musik.

Der amerikanische Jazzmusiker Benny Goodman 1958 in Kopenhagen.
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Der amerikanische Jazzmusiker Benny Goodman 1958 in Kopenhagen. Foto: SAS Scandinavian Airlines (PD)

11. Mai 1997
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Korrektur
"Immer wieder und herb kritisierte Adorno in Buch und Gespräch die Jazzmusik. Ein Student fragte ihn, ob dies Verdikt auch für die neue Popmusik gelte, für die Beatles z. B. Adorno schwieg zuerst und dachte sehr lange nach. Erst auf die nochmalige dringliche Anfrage, ob seiner Meinung nach die Beatles auch schlecht seien, antwortete er langsam: , Ja, die auch. '"1

Warum Adorno-Schüler Jazz und Pop sosehr mögen

Tatsächlich bedeutete das Jazz-Verdikt Adornos für die nachfolgende Generation der Adorno-Schüler und -Leser oftmals ein Problem, da nicht wenige Jazz- oder Rock-Fans darunter waren, die vielleicht sogar nebenher in einer Band spielten — und ausgerechnet der Meister der Negativen Dialektik sollte ihnen diesen Rhythmus verderben, bei dem sie vor lauter Negativität Arme und Beine förmlich zucken spürten? Wer gewieft genug war, machte aus dieser seelischen oder sogar körperlichen Not eine akademische Tugend und erwarb seine wissenschaftlichen Meriten über das Thema, warum Professor Adorno den Jazz oder die Beatles nicht leiden konnte, stellte den Professor vom Kopf aufs Tanzbein und fand heraus, dass dieser den wirklichen Jazz oder den wirklichen Rock gar nicht kennen konnte, weil er eben nicht zuletzt ein Bildungsbürger war, und dass darum für Produkte der Kulturindustrie dasselbe oder etwas Ähnliches oder etwas Vergleichbares gelten müsse, wie für jene Kunstwerke, die Adorno favorisiert habe, zumal die Kunstautonomie ohnehin abgestorben sei etc.

Aber es ist seltsam: Adorno lässt sich nicht verjazzen, die Negative Dialektik nicht einmal rappen. Die Differenz zwischen U- und E-Musik ist mehr als die Grenze zwischen zwei Marktsegmenten — sie hat in der Produktion ihren Sitz, und bis dorthin reicht die beschwingte Adorno-Kritik der akademischen Vatermörder meist nicht. Wenn es darum über autonome Kunst und kulturindustriellen Pop, über Atonal-Seriell-Minimal und Jazz-Rock-Rap, noch irgendetwas zu sagen gibt, dann in ihrem Zusammenhang mit der Durchsetzung der abstrakten Arbeit als universaler Kategorie der Gesellschaft — Kunstautonomie und Kulturindustrie sind die beiden ästhetischen Seiten dieser Durchsetzung. Denn bei Adorno, der im Unterschied zu den meisten seiner verjazzten und poppigen Kritiker noch einen Begriff von Wertkritik — als Kritik der abstrakten Arbeit — hatte, ist gerade dieser Zusammenhang etwas verdeckt — aber er ist vorhanden. Ihn ein wenig ans Licht zu bringen, versuchen die folgenden Überlegungen.

Beat und Off-Beat I: Jazz

(Exposition — Hauptthema: Die Synkope als Freizeit-Signal in der fordistischen Arbeitsgesellschaft)

Der Siegeszug des Jazz verlief parallel zu dem des Automobils. Es waren die Fabriken Henry Fords, die ab 1908 das Fahrzeug mit Verbrennungsmotor (Modell T) zur Massenware machten — und weil in diesen Fabriken mit Fliessband und tayloristischen Methoden auch ein neues Niveau in der , Rationalisierung', in der Abstraktheit und Messbarkeit von Arbeit erreicht wurde, das bald auf die Produktion anderer Konsumgüter übergriff, sprechen Ökonomen mit einigem Recht vom Zeitalter des Fordismus, das damals angebrochen sei.

Etwa zur selben Zeit und schneller noch als das Auto entwickelte sich die Schallplatte zur Massenware; auf ihrer Grundlage erst avancierte der Jazz zur ersten nahezu globalen Unterhaltungsmusik. Die erste Jazzplatte ging 1918 (in New Orleans) in Produktion. Der Fordismus zeichnet sich auf der Ebene des Marktes vor allem dadurch aus, dass zum ersten Mal in der Geschichte breiteste Schichten als Konsumenten der industriell gefertigten Waren gewonnen werden konnten, neue Bedürfnisse geweckt oder alte umgeleitet wurden, die zuvor noch von Kleinbetrieben, Handwerkern, oder überhaupt nicht in Form von Waren bedient wurden. Während also früher dem Platzkonzert der örtlichen Blechmusikkapelle gelauscht oder zur Polka im Gasthaus getanzt wurde, kaufte man sich nun in zunehmendem Mass, so man genügend Geld hatte, eine Schellack oder Schallplatte (der Plattenumsatz stieg etwa in Deutschland zwischen 1906 und 1930 von 1,5 Millionen auf 30 Millionen Stück, 1977 waren es dann 136,4 Millionen).

Das Auto verhält sich auch hinsichtlich seines Gebrauchswerts zur Eisenbahn — der ersten industriellen Form der Mobilität —, wie die Jazzband zur Blasmusik: diese war die frühe Begleitmusik der Industrialisierung, ob sie nun von Militär-, Dorf- oder Werkskapellen geblasen wurde. (Der sentimentale Arbeiterbewegungsschinken , Brassed off' des Regisseurs Mark Herman — der dieses Jahr bei der Berlinale mit grossem Erfolg gezeigt wurde — hat folgerichtig zur Blasmusik gegriffen, um die Bergwerksarbeit zu verklären. ) Wie das Auto dem einzelnen Fahrenden Mobilität relativ unabhängig von den anderen ermöglichte (das Fahrrad fungiert hier in gewisser Weise als Auto des kleinen Mannes), so der Jazz dem einzelnen Spielenden im Ensemble. Die Analogie soll nicht überspannt werden, aber beide, Auto und Jazz, gewannen im Fordismus geradezu symbolischen Gebrauchswert — also einen Gebrauchswert, der für viele andere stand: sie galten als Inbegriff der Freizeit — ja als Ding, das die Freizeit in Freiheit verwandeln konnte. Diese symbolische Bedeutung gilt es im Inneren der Musik selbst dingfest zu machen.

Als wichtigstes Charakteristikum des Jazz, wie auch der an ihn anschliessenden Musikformen (Pop, Rock etc. ), kann eine bestimmte Art von Rhythmus gelten: Off-Beat und Synkope in Permanenz, die den Beat — die Betonung der regelmässigen Schlagzeit — konterkarieren. Der Beat, der bei dem bevorzugten Vierviertel-Takt den ersten und dritten Taktschlag akzentuiert, wird nicht aufgehoben, aber abgewertet. Der Unterschied zwischen Off-Beat und Synkope ist dabei eher ein gradueller: die Synkope ist gewissermassen Off-Beat in grosser, notierbarer Gestalt; Off-Beat die Synkope im Kleinen. Aus der Spannung zwischen Beat und Off-Beat entsteht nun der charakteristische swing oder drive oder rock… Gegenüber dieser rhythmischen Eigenart bleiben die anderen Charakteristika des Jazz von geringerer Bedeutung: wie der Off-Beat gegen den Beat seine Akzente setzt, so versuchen die Instrumentalisten "gegen" die klassische, herkömmliche Art des Spielens anzuspielen: die festgelegte temperierte Stimmung und die auf ihr gegründete Harmonik werden dabei etwa nicht aufgehoben oder zurückgenommen (sieht man von der signifikanten kleinen Terz und kleinen Septime der Blues-Harmonik ab), sondern eher umspielt: Unrein intonierte, verschmierte — smear — , schmutzig gemachte' Töne — dirty notes —, häufige Glissandi, weite Vibrati; Töne, die absichtlich etwas zu tief angesetzt werden, um dann mit auf Erregung kalkulierter Langsamkeit hinaufgeschraubt zu werden etc. stehen in einem tonalen Rahmen, der im wesentlichen den harmonischen Spielregeln des Abendlandes (Tonika-Subdominante-Dominante) folgt. Die Improvisation löst sich zwar von der fixierten Notenschrift, akzeptiert aber ihre harmonischen Rahmenbedingungen.

Eine der frühesten Erscheinungsformen des Off-Beat war der Ragtime, ein Klavierstil, bei dem in der einfachsten Form die linke Hand den Beat, die rechte den Off-Beat spielte; der Name des Stils leitet sich ab von ragged time — zerrissene Zeit. Und die Zeit des Fordismus war in der Tat zerrissen wie noch nie — in Arbeit und Freizeit. Je mehr die Arbeit , rationalisiert' und selbst zerstückelt wurde und in einer strengen Disziplin und einer abstrakten Messbarkeit aufging, die wohl unbewusst in der Musik als Beat empfunden werden kann, desto mehr fuhr offenbar auch der Off-Beat in die Beine, suggerierte Befreiung von der Disziplin und dem Diktat der Zeit. (Wäre es möglich, einem Individuum aus der europäischen Gesellschaft des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts — egal aus welcher Klasse oder Schicht — Jazz- oder Rockmusik vorzuspielen, es würde die Attraktivität der permanent synkopierten Musik wohl kaum verspüren, da es doch auf der anderen Seite auch noch nicht jener disziplinierten und abstrakten Form der Arbeit unterworfen wäre. Vielleicht würde es den Off-Beat eher als zwanghafte Reaktion empfinden. )

Der Off-Beat ist dem Milieu der amerikanischen Schwarzen entsprungen — der ehemaligen, aus Afrika verschleppten Sklaven — also einer Bevölkerungsschicht, die in besonderem Mass die Disziplinierung durch die modernen Arbeitsverhältnisse erfuhr, für die aber die Industrie zugleich die Befreiung aus der Sklaverei bedeutete. Die Spannung zwischen Beat und Off-Beat lässt sich jedenfalls nicht unmittelbar aus der afrikanischen Herkunft der Schwarzen herleiten. Abgesehen davon, dass dies fast schon eine biologistische Substantialisierung wäre, stimmt es auch nicht im strikt musikalischen Sinn. In der traditionellen afrikanischen Musik gibt es keine Taktstruktur mit festgelegten metrischen schweren (akzentuierten) und leichten (nicht akzentuierten) Zählzeiten.

Kann man von einem Beat hier überhaupt sprechen, so ist es eine Zusammenfassung von mehreren "Elementarpulsationen" — eine Art Schwebezustand. Eine besondere Eigenart der afrikanischen Musik ist überhaupt die Kombination oder Überlagerung verschiedener heterogener Rhythmen (Polyrhythmik). In vielen Fällen könnte etwa von einem individuellen Beat gesprochen werden — so bei einem Beispiel aus Zambia, das Gerhard Kubik heranzieht: "Der Beat eines jeden der drei Trommler fällt an eine andere Stelle des zeitlichen Ablaufs. Würde man sie (… ) bitten, den Beat mit dem Fuss zu markieren, dann stampften sie nicht gemeinsam, sondern zwischeneinander fallend. Das bedeutet, dass jeder der Musiker sein Spiel auf eine von seinem Gegenüber verschiedene Ebene von Orientierungspunkten bezieht; und jeder die gesamte Musik (… ) von seinem Standpunkt aus anders gelagert hört. "2

Die Abstraktion, die solche individuellen Spiel- und Hörperspektiven zugunsten eines einzigen, gleichsam punktgenauen Beat beseitigt (also auch die Überlagerung heterogener Rhythmen abbaut), setzte sich demnach in der Musik der Schwarzen erst in Amerika allgemein durch. 3 Die Individuen erkennen bewusst oder unbewusst im abstrakten Beat etwas von den ihnen aufgezwungenen Arbeits- und Zeitverhältnissen wieder und können im Off-Beat in gewisser Weise auf Distanz dazu gehen, eine bestimmte Form der Selbstbestimmung zurückgewinnen und sich entspannen. Vorübergehend aus der Logik der fordistischen Arbeits- und Zeitökonomie entlassen, werden die Spielenden und Hörenden von einer federnden Elastizität getragen, die bei aller Dynamik stets gelassen — relaxed — bleibt.

Aus der geläufigen Zuordnung des Jazz zu den afrikanischen Ursprüngen der schwarzen Musiker resultierte aber für dessen weisse Rezipienten von Anfang an eine bestimmte, unwiderstehlich romantische Konnotation des Off-Beat: ähnlich wie die Roma und Sinti und die "Zigeunermusik" standen die Schwarzen und der Jazz für Lebensformen, die sich der abstrakten Arbeit und ihrer Disziplin prinzipiell widersetzten, die sich "gehen liessen" und das protestantische Arbeitsethos verweigerten, sich vielmehr auch sexuell keiner Norm unterwarfen — die Schwarzen galten als , Wilde', als , Primitive', die ihren natürlichen Trieben noch verbunden seien und sich ihrer gerade in der Jazzmusik versicherten. Und diese Konnotation dürfte nicht wenig zum Erfolg des Jazz unter Weissen in Amerika und Europa beigetragen haben. Duke Ellington hat mit seiner Bigband diese weisse Rezeptionshaltung fast schon parodiert, als er mit dem Jungle Style das adäquate exotische Trugbild schuf und mit , wilden' Dämpfereffekten der Blechbläser Tierlaute als Urwaldgeräusche imitierte. Doch der Dschungel, dem die Jazzmusik entstammte, lag in New Orleans, Chicago und New York.

Bereits in den dreissiger Jahren und ohne genaue Kenntnis der genuin afrikanischen Musikformen bestritt Adorno den afrikanischen Charakter des Jazz, indem er nichts anderes tat, als dessen Gebrauch in der Moderne zu untersuchen: "keine Archaik gibt es im Jazz denn die aus Moderne mit dem Mechanismus der Unterdrückung gezeitigte. Nicht alte und verdrängte Triebe werden in den genormten Rhythmen und genormten Ausbrüchen frei: neue, verdrängte, verstümmelte erstarren zu Masken der längst gewesenen. "4 Obwohl Adorno den Zusammenhang des Jazz mit der Durchsetzung des fordistischen Arbeitssystems nicht explizit darstellt, vermag er doch die Geburt des Jazz aus dem Geiste der Freizeit zu beschreiben: der Jazzmusiker, der "zwischen den markierten Taktteilen, seine abenteuerlichen Sprünge machte, der die Akzente verschob und mit kühnen Glissandi die Töne verschleifte — er jedenfalls doch hätte der Industrialisierung enthoben sein sollen; sein Reich galt als Reich der Freiheit; hier war offenbar die starre Wand zwischen Produktion und Reproduktion gesprengt, die ersehnte Unmittelbarkeit wiederhergestellt (… )". 5

Aber die Züge des Jazz — die Adorno freilich vergröbert, weil er sie in der Synkope aufgehen lässt — "charakterisieren eine Subjektivität, die gegen eine Kollektivmacht aufbegehrt, die sie doch selber , ist'; darum erscheint ihr Aufbegehren lächerlich und wird von der Trommel niedergeschlagen wie die Synkope von der Zählzeit. (… ) Das eigentlich Entscheidende am Jazz-Subjekt ist, dass es sich, trotz seines individuellen Charakters, überhaupt nicht selbst gehört (… ) Das , Zerfetzen der Zeit' durch die Synkope ist ambivalent. Es ist zugleich Ausdruck der opponierenden Scheinsubjektivität, die gegen das Mass der Zeit aufbegehrt, und der von der objektiven Instanz vorgezeichneten Regression. "6

Die Attraktivität des Off-Beat gründet sich allerdings nicht allein auf dem subkutan wirkenden Gegensatz zu den neuen Formen der Arbeit, denen sich das Subjekt, das seine Arbeitskraft unter fordistischen Bedingungen verkaufen muss, ausgeliefert sieht — es artikuliert sich darin zugleich eine Opposition zum Staat, der im Fordismus aufgerüstet wird zu einer weite Teile der Gesellschaft regulierenden Instanz. Diese Aufrüstung nämlich vollzog sich zu den Klängen einer älteren Form von Pop-Musik, die den Beat förmlich einzementierte: der Marschmusik. 7 In früherer Zeit zielte dieser Rhythmus des ewigen Gleichschritts noch auf die Formierung eines Berufsheers (in der Habsburgermonarchie z. B. wurde der Gleichschritt 1740 eingeführt), er wurde von schlanken Kapellen (mit Pauken oder Trommeln, in denen Holzbläser den Klang dominierten) gespielt und prägte den Alltag in Stadt und Land nur peripher. Mit der allgemeinen Wehrpflicht, dem Aufbau von Riesenheeren im 19. Jahrhundert begann er sich in ein blechgepanzertes, tausendfüssiges Monster mit schwerem Schlagzeug zu verwandeln, das nahezu überall zu hören und zu sehen war und sich in Dorf- und Werkskapellen fortpflanzte. Die Individuen wurden vom Marschrhythmus zum Volkskörper und Staatsvolk gleichsam zusammengeschweisst.

In Deutschland und in Österreich, wo sich die Gesellschaft geschlossen wie nirgendwo sonst zum Volksstaat formierte, erreichte auch die Marschmusik die grösste Bedeutung, und die Wirkung des Jazz blieb am geringsten bzw. am längsten verzögert: d. h. in Deutschland und in Deutschösterreich fühlten sich die Individuen auch in der Freizeit vor allem als Staatssubjekt und Teil eines Volkskörpers. Die Märsche hörend, spielend und mitmarschierend übten sie sich ein in die Rolle eines staatstragenden Volks, bannten im Gleichschritt mit den anderen die permanente Angst, die sie im Angesicht des Werts — am Arbeitsmarkt zum Beispiel — immer wieder überfallen konnte: die Angst, minderwertig, ja überflüssig zu sein. Der Marsch mit dem Gleichschritt auf den ersten Taktschlag garantierte ihnen ihren Wert und liess sie die Gleichwertigkeit und Stärke als Staatsbürger und Volksgenossen buchstäblich als Körpergefühl erfahren. 8

Die überkommenen Formen der Tanzmusik (Ländler, Walzer, Polka etc. ), die sich im Umfeld dieser allgemeinen Marschkultur weiterhin der grössten Beliebtheit erfreuten und vom Jazz kaum gefährdet werden konnten, zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie keinen solchen expliziten Gegensatz zur staatlich formierenden Marschmusik kennen, wie ihn der Jazz in Gestalt des Off-Beat artikuliert; vielmehr betonen auch sie den Beat, die regelmässige Schlagzeit, wenn auch — wie vor allem der Walzer — auf etwas charmantere Weise. In seiner sechsten Symphonie hat übrigens Gustav Mahler — ein Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg — die Nähe zwischen Marsch und dieser Art von Tanz auf schockierende Weise kenntlich gemacht, wenn er den Dreiachtel-Takt des Scherzos durch Sforzati wie einen Marsch erklingen lässt: man glaubt hier eine Fortsetzung des Marsches aus dem ersten Satz zu hören, nur dass jetzt — wie in einer surrealen Montage — ein Wesen mit drei Beinen marschiert.

Die Apotheose des Marsches war der Nationalsozialismus. Wenn der Staat hier als "Grosskonsument" (Ulrich Enderwitz) einspringt und die in der Krise erschlaffte Kaufkraft der Massen ersetzt, um das Kapital zu retten, muss er auch die Freizeit der Warensubjekte in Regie nehmen: und das bedeutet Marschmusik total. HJ, SA, SS und Wehrmacht hatten ihre Märsche, Marschlieder und Marschmusikkapellen — neben ihnen beteiligten sich auch DAF, Reichsarbeitsdienst und die vielen anderen Organisationen, mit denen die Nationalsozialisten die Freizeit verstaatlichten, am totalen Platzkonzert des Dritten Reichs, nicht zu vergessen die fortexistierenden , privaten' Volksmusikkapellen — man zählte 1939 weit über zehntausend solcher privater Vereine, davon 10 Prozent Werkskapellen. 9 Kraft durch Freude hiess also Kraft durch Beat — der Marsch führte die Massen von der Freizeit direkt in den Vernichtungskrieg.

Der Off-Beat des Jazz — Inbegriff der privaten Konsumtionsform — wurde folgerichtig verdammt und immer wieder verboten. Wie das Dritte Reich aber den Warenkonsum nicht abschaffte, sondern nur den Grossteil der Kaufkraft verstaatlichte, so existierte auch der Jazz in bescheidenem Umfang und mit verschiedenen Deckblättern fort. 10 Was unter Goebbels als "gute deutsche Tanzmusik" verkauft wurde, griff vielfach notengetreu auf einzelne Nummern des amerikanischen "Swing" zurück (nicht mit swing im allgemeinen zu verwechseln). Diese Bigband-Musik aus den USA der dreissiger Jahre, die man als Swing-Ära bezeichnet, neigte sich allerdings ihrerseits in bisher unbekanntem Mass dem Staat zu: es war die Musik der Roosevelt-Zeit, der Swing begleitete das deficit spending, das hier wie in Deutschland der Staat betrieb, um die Verwertungskrise zu beenden — Glenn Millers "In the mood" könnte fast als Parademusik des New Deal gelten. An die Stelle von kleinen Ensembles in mehr oder weniger verrufenen Etablissements einiger Städte waren Bigband-Orchester in grossen , öffentlichen' Räumen getreten, die den Jazz mittels Schallplatten, Radio und Film zu einer im ganzen Land erklingenden, nationalen Tanzmusik machten. Die Rhythmik wurde sanfter, schmiegsamer; der Klang und die Phrasierung elegant und ausgewogen; Improvisationen wurden eher vermieden, stattdessen wurde des Riff als Stilmittel gepflegt — eine kurze, meist zwei- oder viertaktige Phrase, die in der Art eines ostinato ständig wiederholt wurde und sogar Themencharakter erhalten konnte.

Als Adorno in den dreissiger Jahren den Jazz untersuchte, hat er diese Abschwächung der ursprünglichen Impulse des Jazz in der Swing-Ära wohl registriert, und sie kam seiner Auffassung entgegen, wonach die Gesellschaft auch in den USA zum Totalitären tendiere. Nur so ist zu erklären, was er 1933 über eines der ersten Verbote des Jazz schrieb: "Die Verordnung, die es dem Rundfunk verwehrt„ Negerjazz' zu übertragen, hat vielleicht einen neuen Rechtszustand geschaffen — künstlerisch [! ] aber nur durchs drastische Verdikt bestätigt, was sachlich längst entschieden ist: das Ende der Jazzmusik selber. Denn gleichgültig, was man unter weissem und unter Negerjazz verstehen will, hier gibt es nichts zu retten; der Jazz selber befindet sich längst in Auflösung, auf der Flucht in Militärmärsche und allerlei Folklore. (… ) längst schon lag unter den bunten Schnörkeln des Jazz der Militärmarsch bereit. "11 Weil sich Adorno selbst zu dieser Zeit — in Verkennung der Situation — in das NS-Regime flüchten wollte und wirklich glaubte, hier ein Auskommen zu finden, konnte er nicht erkennen, dass der Jazz mitnichten in den Marsch flüchtet, vielmehr immer schon auf der Flucht vor ihm war, ja dass diese Fluchtbewegung das zentrale Motiv des Jazz ausmacht, das sogar noch im echten Swing lebendig ist.

Jeder Vergleich einer Nummer von Benny Goodman, Duke Ellington, selbst Glenn Miller mit einer irgendeines deutschen Tanzorchesters aus der NS-Zeit liefert hier genügend Anschauungsmaterial: Das Übergewicht des Marsches verdirbt auch noch den ,deutschen Swing' — während der Kontakt der amerikanischen Bigband-Musiker mit einer am Rande fortexistierenden alten Jazz-Tradition, und mit einer gegen den Swing rebellierenden neuen12, erst jenes für den jazzigen Off-Beat unabdingbare (aber nicht mit Noten fixierbare) Feingefühl entstehen und den Swing erst richtig schwingen liess. Adorno konnte solche Feinheiten (falls er sie überhaupt gespürt hat) kategoriell nicht fassen — denn er spricht immer nur von Synkope und nicht von Off-Beat. 13 Solche interpretatorischen Feinheiten betreffen im Falle des Jazz aber das Wesentliche: die Kompatibilität des US-amerikanischen Swing für die deutsche Volksgemeinschaft mag die gemeinsame fordistische Grundlage der beiden Gesellschaftsformen zeigen — die Differenz zwischen dem geglückten amerikanischen Original und der vom deutschen Marsch verdorbenen Imitation verweist jedoch letztlich auf den geänderten Stellenwert des Rassismus im Staat. 14

Exkurs: E-Musik als Selbstkritik der Arbeit

(Durchführung)

"Der Jazz ist Ware im strikten Sinn. "

Theodor W. Adorno, Über Jazz, 1936 15

"Von der Autonomie der Kunstwerke (… ) ist nichts übrig als der Fetischcharakter der Ware (… ). "

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 1970 16

Romantischen wie frühsozialistischen Positionen galt das Komponieren als eine Form, wenn nicht Inbegriff von nicht-entfremdeter Arbeit. Noch in den "Grundrissen" von 1857/58 fällt Marx nur das Komponieren ein, um den Arbeitsbegriff zu retten, "wirklich freie Arbeiten" beim Namen zu nennen — als "travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums". 17 Der romantische Entfremdungsbegriff verdeckte jedoch seinerseits, was in der musikalischen Klassik vor sich ging: nicht um eine von Entfremdung erlöste Arbeit handelte es sich, sondern um die Kritik der Arbeit — als Arbeit.

So kommt der musiktheoretische Terminus von der "thematischen Arbeit" für die durchführungsartigen Teile der Sonaten und Symphonien eben nicht von ungefähr: Komponieren ist eine höhere Form von Arbeit: doch Höhe meint hier nichts anderes als eine Distanz, die Selbstreflexion ermöglicht.

Als eine Kunst, die mehr als jede andere davon lebt, die Zeit zu organisieren, steht die Musik in einem besonderen Verhältnis zur abstrakten Arbeit — zur Abstraktion, die der Wert an den verschiedenen Formen der konkreten Arbeit vornimmt, um sie auf den gemeinsamen Nenner der durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit zu bringen. Die Arbeit bezweckt ein genaues, überprüfbares und wiederholbares Resultat des Arbeitsvorganges (nur dann kann der Mehrwert auch realisiert werden, der in der Ware steckt). Auch der Ausgangspunkt der klassischen Komposition ist die Wiederholung — im Kleinen (die regelmässige Schlagzeit: der Beat; der Tonika-Dreiklang) wie im Grossen (die Form der Reprise). Sie bildet den Rahmen, in dem die Musik ihre Arbeit tut. "Das Wiederholungsmoment im Spiel ist das Nachbild unfreier Arbeit (… ). " (Adorno)18 Die Komponisten, soweit sie Künstler sind und keine Handwerker, entwickeln jedoch ihre ganze Kunst nicht in der Realisierung der Wiederholung, sondern in der Abweichung von ihr.

Im Unterschied zum Off-Beat des Jazz lassen diese Abweichungen sich allerdings auf keinen Nenner bringen, nur auf den Begriff des Kunstwerks: denn jedes ästhetisch geglückte Musikstück beruht auf der Einzigartigkeit der Abweichung vom Formschema; und jede Aufführung desselben auf der Einzigartigkeit der Interpretation. Allerdings schiesst auch die gewöhnliche Arbeit stets über ihr Ziel hinaus — nur will sie es im Unterschied zur Kunst nicht wahrhaben, weil dieser konkrete Überschuss (anders als der abstrakte) eben nicht die Form des Wertes annehmen kann, sondern eher die einer sozialen oder ökologischen Krise. In der ästhetischen Produktion indessen wird dieser Überschuss, das Eintreten des Nicht-Gewollten, nicht als Krise, sondern als Genuss erfahren.

Bei Wagner schon nimmt die Arbeit der Musik — so Adorno — "den Charakter des kreisend Vergeblichen, schlecht Zwanghaften an. Wagner hat damit etwas über das Wesen der Durchführung selber ausgemacht d. h. ihr wohnt objektiv-musikalisch die gleiche Vergeblichkeit schon inne, die er dann explizit gemacht hat. Das hängt aber mit dem gesellschaftlichen Wesen der Arbeit zusammen, die gleichzeitig , produktiv' ist, die Gesellschaft am Leben erhält, und in ihrer Blindheit doch vergeblich bleibt, auf der Stelle sich bewegt (… ) Wenn in der Veränderung des Durchführungsprinzips von Beethoven zu Wagner eine gesamtbürgerliche Entwicklungstendenz sich niederschlägt, so zeigt aber die spätere Phase zugleich etwas über die frühere an, nämlich die immanente Unmöglichkeit der Durchführung, die nur momentan, paradox gelingen kann. "19

Adorno hat es sich — zum Leidwesen Schönbergs — auch nicht nehmen lassen, diese Analogie für die Zwölftontechnik fortzuführen. Und es ist auch dies keine oberflächliche Analogie, denn sie betrifft die "wachsende organische Zusammensetzung des Individuums": "Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital. "20 Diese Erkenntnis aus den Minima Moralia hat Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik für die Zweite Wiener Schule ausbuchstabiert: Es wächst demnach auch die organische Zusammensetzung der Komposition an — das, wodurch sie in sich selber als Kompositionsmittel und nicht als Zweck bestimmt ist — die Logik eines Tonsystems — steigt wie der Anteil der Maschinen gegenüber dem variablen Kapital; die Zwölftontechnik markiert dabei die höchste bis dahin erreichte organische Zusammensetzung der Musik.

"Die Verwandlung der ausdruckstragenden Elemente von Musik in Material, welche Schönberg zufolge durch die ganze Geschichte von Musik hindurch unablässig statthat, ist heute so radikal geworden, dass sie die Möglichkeit von Ausdruck selber in Frage stellt. (… ) Es ist (… ) das unterdrückende Moment der Naturbeherrschung, das umschlagend gegen die subjektive Autonomie selber sich wendet, in deren Namen die Naturbeherrschung vollzogen ward (… ) Stimmigkeit als ein mathematisches Aufgehen setzt sich an die Stelle dessen, was der traditionellen Kunst , Idee' hiess (… ) Die neue Ordnung der Zwölftontechnik löscht virtuell das Subjekt aus. "21 Paradoxerweise gelangte die Zweite Wiener Schule zu dieser , Automation' des Komponierens auf der ständigen Flucht vor der Wiederholung — vor jenem musikalischen Prinzip, das die Musik mit der Arbeit eigentlich teilt und das bereits für die Wiener Klassik der Stachel war.

Je offener und konsequenter die Musik die allgemeine Entwicklung in sich austrug, desto mehr konnte sie — in Adornos Auffassung — als Einspruch gegen sie verstanden werden. Als Indiz für den Widerstandscharakter der neuen Musik gilt gerade deren elitärer Charakter — das Ausbleiben des Publikums. Damit die Musik die allgemeine Entwicklung nicht einfach widerspiegelt und verdoppelt, muss Adorno die Kunstautonomie ins Extrem treiben und mit geradezu religiöser Bedeutung aufladen. Die neue Musik allein "entwirft das Bild der totalen Repression und nicht deren Ideologie. Als unversöhntes Bild der Realität wird sie dieser inkommensurabel (… ) Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen. "22 Tatsächlich leeren sich die Konzertsäle — nicht unähnlich den Kirchen — wenn die Vertreter der Zweiten Wiener Schule ihre Arbeiten vorführen, die den Tanz- und Unterhaltungscharakter, den die Klassik stets noch mit dem der Arbeit auf angenehme Weise zu verbinden wusste, völlig abgestreift haben. Das Publikum flüchtet in die Freizeit: zu Jazz und Pop, wo wiederum zugunsten des Tanz- und Unterhaltungscharakters auf thematische Arbeit so gut wie vollständig verzichtet wurde.

Im Vergleich zur Zweiten Wiener Schule mag die Selbstkritik der Arbeit in der postseriellen , Avantgarde'-Musik durchwegs als Trivialisierung erscheinen, doch wird sie gerade auf diese Weise konsequent zu Ende geführt. Und am Ende steht die vollkommene Aushöhlung der Kunstautonomie, wie sie in einem Musikstück von John Cage, einem Schüler Schönbergs, unnachahmlich zum Ausdruck kommt. Es trägt seine Zeitdauer als Titel — 4'33 —, und besitzt auch sonst alles, was zu einem Werk gehört: ein veröffentlichter , Notentext', Besetzungs- und Vortragsangaben und die Aufgliederung in drei Sätze — nur dass in diesen Sätzen der Interpret nichts tut: Das Werk besteht aus drei Generalpausen. Es ist wie ein Witz, den sich die Musik über ihre eigene Geschichte erzählt.

Neben dieser wirklichen Vollendung der Musikgeschichte zeigt sich auch bei anderen Komponisten und Werken der Avantgarde, dass sich der Klang insofern von Tonsystemen emanzipiert hat, als er das Geräusch — das bei Cages 4'33 wie unabsichtlich erklingt (Strassenlärm, Geräusche aus dem Publikum) — in den Konzertsaal oder ins Studio einspielt, so dass jeder Zuhörer — und sei er noch so banausisch, ja gerade dann — begreifen kann, was auch dem Museumsbesucher bei einem Artefakt von Joseph Beuys schlagartig klar werden muss: hier wird ein Ding präsentiert, das ganz ohne Arbeit entstanden ist, also keinen Wert hat und doch den höchsten Preis erzielt. "Bewusstsein durchschaut das Beschränkte des schrankenlos sich selbst genügenden Fortgangs als Illusion des absoluten Subjekts", schrieb Adorno in der Fragment gebliebenen Ästhetischen Theorie: "gesellschaftliche Arbeit spottet ästhetisch des bürgerlichen Pathos, nachdem die Überflüssigkeit der Arbeit real in Reichweite kam. Einhalt gebietet der Dynamik der Kunstwerke sowohl die Hoffnung auf die Abschaffung von Arbeit wie die Drohung des Kältetods; beides meldet objektiv in ihr sich an; von sich aus kann sie nicht wählen. "23

Beat und Off-Beat II: Rock

(Reprise)

Als die amerikanische Autoproduktion in den fünfziger Jahren mit neuen, stromlinienförmigen Modellen einen beachtlichen Wachstumsschub initiierte (die Zahl der registrierten Fahrzeuge etwa stieg in den USA zwischen 1950 und 1960 um mehr als 20 Millionen auf 61,5 Millionen, also um die Hälfte, an), eroberte auch die Schallplattenproduktion mit der Erfindung der Kunststoff- (1948) und Stereoschallplatte (1958), vor allem aber mit der neuen Musikform des Rock'n'Roll, Märkte von ungeahnter und für den Jazz unerreichbarer Grösse. Denn der Rock'n'Roll gewann eine neue Käufergeneration, und es gelang mit ihm, das Bedürfnis nach Musik ganz mit dem nach der Schallplatte zu verschweissen — die Juke-Box, die Sänger und Kapellen in den Tanzlokalen ablöste, bildete gleichsam diese Schweissnaht. Getragen von der expandierenden Schallplatten-Industrie entwickelte sich die neue, aus Elementen des Jazz abgeleitete Musikform mit unglaublichem Tempo zu einem weltweiten Idiom der Jugend, schneller hatte bis dahin noch keine Musik die Welt erobert.

Mit dem Jazz teilt der Rock den Off-Beat und den Synkopenreichtum, mehr noch als der Swing drängt er die freie Improvisation zurück und verlässt sich auf festgelegte Arrangements (mit riffartiger Melodiebildung) — besonders deutlich bei den ersten Heroen des Rock'n'Roll, Bill Haley, Elvis Presley, Little Richard etc. (Eigentlich war der Anstoss mit Rhythm & Blues wiederum vom städtischen Milieu der schwarzen amerikanischen Bevölkerung ausgegangen — unter dem Markenzeichen Rock'n'Roll wurden diese Spuren dann beseitigt. ) An die Stelle von Chromatik, modalen Skalen und rhythmischer Vielfalt, die der Jazz im Spannungsfeld zwischen Beat und Off-beat mitunter entwickeln konnte, regrediert die Rockmusik auf das Mass des herkömmlichen Strophenlieds mit der harmonischen Basis einfacher Grundakkorde und manchen Anklängen an Pentatonik. Während der Jazz mit seinen Improvisationen und Chorussen vorwiegend variativ verfuhr (Thema mit Verarbeitung als vorherrschender Ablauf), zieht sich die Rockmusik weitgehend auf Repetition (Strophenform) zurück.

Nun nach dem Ende des Nationalsozialismus konnte die poppige Synkope auch in Österreich und Deutschland wirklich boomen. Für die von der Marschmusik offenbar bis ans Lebensende geprägten Angehörigen der älteren Generation blieb mit gutem Grund alles was nach Off-Beat roch, sei es nun Mick Jagger oder Pink Floyd "Jazzmusik", worin man selbstverständlich den Untergang jenes Abendlandes erblickte, das man einst mit Marschmusik zu verteidigen dachte. Für jene Übergangs-Generation, die sich gleichsam am Scheitelpunkt von Marsch- und Rockmusik befand, hat Johannes Hodek rückblickend die Subjektivität treffend charakterisiert: "Unsterblich haben sich diese [Nazi-Marsch-]Lieder in die Herzen der Nachkriegsgeneration gegraben. Obwohl ich die Schlager- und Rock'n'Roll-Kultur der fünfziger Jahre in Tanzkapellen singend und spielend miterlebt habe (… ) — nie vergesse ich ein Lied wie dieses: , Wer nur den lieben Tag, ohne Plag ohne Arbeit vertändelt, wer das mag, der gehört nicht zu uns.

Wir steh'n des Morgens zeitig auf, hurtig mit der Sonne Lauf sind wir, wenn der Abend naht, nach getaner Tat eine muntere, fürwahr, eine fröhliche Schar. '"24 Den jungen Arbeitern des Wirtschaftswunders und den neuen Soldaten von freedom and democracy vermittelten indes Bill Haley und Elvis Presley, später die Beatles und die Rolling Stones„ nach getaner Tat' einen nicht weniger munteren Freizeit-Körper, der besonders in deutschsprachigen Landen von einer geradezu atemberaubenden Neuheit war und in den man etwa schlüpfen konnte, um den Konflikt mit dem marschsüchtigen Vater auszutragen.

Es war die Revolte als Freizeit, oder die Freizeit als Revolte. Wie die Freizeit nur die andere Seite der Arbeit ist, so ist auch das Freiheitsgefühl, das die Synkope vermittelt, an das permanente Bewusstsein der regelmässigen Schlagzeit geknüpft: wer sich am Abend und am Wochenende in der Band oder auf der Tanzfläche austobt, hat ständig im Hinterkopf, dass er am nächsten Tag wieder am Fliessband steht oder in der Kaserne exerziert — und dieses Wissen ist in der Musik selbst anwesend in Gestalt des niemals fallengelassenen Beat. Worin die Rockmusik sich zuallererst vom Jazz unterscheidet, ist nun gerade die stärkere Akzentuierung des Beat — man sprach darum Mitte der sechziger Jahre ganz richtig von Beatmusik, und die berühmteste Rockgruppe dieser Jahre hiess nicht umsonst Beatles.

Der Beat ist im Rock vordergründig vorhanden und spürbar, ja aufdringlich einhämmernd (der Hardrock der siebziger Jahre und später der Punk spezialisieren sich geradezu darauf). Die Betonung des Beat macht das spezifisch Rockige aus, während der Reiz des Jazz — und darin vielleicht doch noch eine gewisse Nähe zu afrikanischen Musikformen? — darin bestand, den Beat zu überspielen oder eher diskret anzudeuten. Durch die Betonung des Beat kam jedoch eine neue Spannung in die Musik, eine rhythmische Steigerung, da doch nun der Off-Beat ebenfalls verstärkt werden musste. Die Musik wurde aggressiver, wozu nicht zuletzt auch die elektronischen Möglichkeiten der Verstärkung beitragen konnten; sie verlor den Grundcharakter der Entspannung, der federnden Elastizität, des Relaxing. In unbewusster Weise hat die Rockmusik sich damit den Marschrhythmus einverleibt — und im Unterschied zum Jazz die direkte Konfrontation mit ihm gesucht.

Selten erreicht diese Konfrontation eine gewisse Bewusstheit wie bei Bob Dylan oder Jimi Hendrix. Dylans "Hurricane" von 1975 — die Rock-Ballade über den schwarzen Boxer Rubin Carter, "The man the authorities came to blame / For somethin' that he never done" — akzentuiert den Beat mit derselben Aggressivität, mit dem sie den Staat zur Sprache bringt. 25 Die Illusionen über die rassistischen Grundlagen des Staats — die Hoffnung gleichsam auf Urlaub vom Staat —, die im Text in der Forderung nach Rehabilitation zum Ausdruck kommen, werden vom Beat und von der Strophenstruktur mit ihrer permanenten Wiederholung Lügen gestraft — doch diese Lüge selbst wird nicht bewusst.

Es sei denn in der Ironie, die Bob Dylan in seine Stimme legt — oder in dem Hass, mit dem er "all the criminals in their coats and their ties" besingt — verdoppelt noch durch die geradezu kontrapunktisch geführte Violine von Scarlet Rivera. In anderen Songs hat Dylan gerade umgekehrt das Relaxing des Jazz, das im Rock weitgehend verloren ging, in seiner Stimme aufbewahrt. Bei "Tangled up in blue", wo dies der Fall ist, wird jedoch der Beat mit den in jeder Strophe wiederkehrenden Worten des Titels — die ungefähr mit "In Trübsal verwickelt" übersetzt werden können — förmlich synchronisiert. Und mit diesem Beat am Ende jeder Strophe wird die Freiheit, die das Subjekt sich in den einzelnen Strophen als Vagabund in den Nischen der fordistischen Arbeitsgesellschaft erringt, jedesmal aufs Neue niedergeschlagen. 26

Auch dies unterscheidet die Pop-Musik vom Jazz: sie legt Wert auf diskursiven Inhalt und mehr noch auf dessen Ausdruck durch die menschliche Stimme, während der Jazz überwiegend instrumental bestimmt blieb und seine Freizeit-Botschaft gleichsam verschlüsselt oder heimlich transportierte. Tatsächlich eröffnet die Verstärker-Technik hier Möglichkeiten, die dem klassischen Gesang eigentlich immer verschlossen geblieben waren.

Was Bob Dylan einst mit seiner vielgestaltigen Stimme erreichte (inzwischen singt er vorm Papst, dieser heilige Beat dürfte seine Stimme endgültig erschlagen haben), gelang Jimi Hendrix (der an einer anderen Droge zugrundegegangen ist) mit virtuosen Improvisationen auf der E-Gitarre: das repetitive Schema der Rockmusik aufzusprengen und ihr damit zu ganz neuen Ausdrucksqualitäten zu verhelfen. Verglichen mit Dylan, der durch seine Anlehnung an den Country- und Talking-Blues im Musikalischen beinahe Anachronismen produzierte, war Jimi Hendrix — wie Lothar Trampert festhält — "in bezug auf seine musikalischen Mittel und deren künstlerische Ergebnisse ungleich konsequenter. Er spielte eine wesentlich freiere, härtere und elektrisierendere Variante des Blues als alle Musiker vor ihm. "27 Auch Hendrix suchte die bewusste Konfrontation mit dem Staat, als er sich — etwa in Woodstock — die amerikanische Bundeshymne vornahm — um schliesslich ebenfalls mit Tangled up in blue zu enden: er zerfetzt — so Achim Sonderhoff — "die Nationalhymne in elektronische Splitter, macht aus ihr einen apokalyptischen Abgesang auf den American way of life, um dann in eine unglaublich traurige Melodie zu gleiten, einen Abgesang auf die sechziger Jahre, die zwar Ansätze gebracht haben, die aber niedergeknüppelt wurden". 28 Im Studio spielte Hendrix eine wesentlich ironischer getönte Fassung ein: "Allein mit klanglichen Mitteln entlarvt Hendrix hier, indem er sowohl Erinnerungen an schottische Dudelsackmusik als auch — mit Hilfe seiner Anschlagtechnik — an ein Mandolinenorchester weckt, das aufdringliche Pathos der Melodie und reduziert diese auf eine zuckersüsse Nationalhymne für Disneyland. "29

Rap

(Coda)

In der Pop-Musik wuchs die organische Zusammensetzung des Individuums bedeutend rascher. Der Pop wiederholt gleichsam im Zeitraffer die Entwicklung der bürgerlichen Kultur: Eröffnete die Technik zunächst neue Möglichkeiten der Individualisierung, so werden sie im Rap wieder kassiert. Das freie Singen, das sich in der Spannung zwischen Beat und Off-Beat entfalten konnte, wird auf ein monotones, schnelles und abgehacktes Beat-Sprechen reduziert, das so etwas wie einen Off-Beat nur noch in rhythmischen Betonungen erkennen lässt; das parodistische Moment, das der Rock mitunter vom Jazz übernommen hatte, wird auf blosses Recycling heruntergeschraubt (dem Sampling fehlt die Ironie). Der monotone Sprechgesang (Rap heisst schwätzen) resultiert in gewisser Weise aus dem Prinzip der Beschleunigung und Vervielfachung: es gilt, möglichst viel Textmasse in den Song einzuspeichern. 30 Allein diese Aufblähung mit Text schwächt die Beat-Off-Beat-Spannung beträchtlich und macht das Aussingen einer Melodie unmöglich. Diese erscheint zusammen mit der althergebrachten synkopetisierten Musik im Hintergrund oder zwischen den gerappten Passagen. Dabei zeigt sich oftmals eine neue musikalische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern (die sich übrigens auch in der Kleidermode niedergeschlagen hat): die Männer rappen im Vordergrund, die Frauen singen im Hintergrund. 31 (Der Rock der sechziger und siebziger Jahre hatte die Geschlechter in Ausdruck und Kleidung eher einander angenähert — Mick Jagger suchte Mann und Frau in einer Person zu vereinigen. Freilich ist es kein Zufall, dass die meisten Stars dennoch Männer waren. )

Wieder ging der Impuls von der schwarzen Bevölkerung Amerikas aus. Mit den afrikanischen Ursprüngen, die vom Rap im Sinne des "Nation of Islam" mitunter beschworen werden, hat die Eigenart dieser neuen Musikform noch weniger zu tun als der Jazz oder der Rhythm & Blues. Wenn die hier entwickelte Theorie des Off-Beat stimmt, dann deutet sich in der Abschwächung der Off-Beat-Spannung vielmehr ein insgesamt verändertes Verhältnis von Arbeit und Freizeit, Staat und Individuum an — dann läutet der Rap das Ende des Fordismus ein. Die Zeit ist nicht mehr zerrissen in Freizeit und Arbeit — sie ist flexibilisiert. Die einen arbeiten immer, auch wenn sie sich vergnügen, die andern sind für immer arbeitslos, auch wenn sie von Job zu Job hetzen. Während in der "Disziplinargesellschaft" des Fordismus Arbeit und Erholung strikt getrennt waren, sieht Arbeit — so Tom Holert und Mark Terkessidis — "heute aus wie Freizeit und Freizeit wie Arbeit. Im Unternehmen schuften die Mitarbeiter, als ginge es um ihr persönliches Vergnügen, und in der Freizeit vergnügen sie sich, als ginge es ums Schuften. "32

Die Tanzbewegung gewinnt im Hip-Hop eine neue selbständige Bedeutung — zusammen mit der für diese Musik zentralen Videotechnik. Auch hier scheint die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu schwinden: "Der Körper wird zur Sportmaschine und erzeugt das Produkt Tanz (… ) Die permanente Körperkontrolle wird jedoch nicht mehr als Disziplinierung erfahren. Die Arbeit am Körper — die erhöhte gesellschaftliche Anpassungsleistung und freiwillige Leistungssteigerung — ist nicht als Tribut an eine veränderte, dynamischere, flexiblere Kontrollgesellschaft erkennbar. Das Lustprinzip wird nicht mehr von einem Realitätsprinzip begrenzt, das Lustprinzip bringt die Kontrolle selbst hervor. "33 (Annette Weber) Damit vermag sich auch der Staat auf neue Weise im Individuum festzusetzen — nicht als autoritäre Disziplin, sondern als individuelle Motiviertheit, wie der nationale Wettbewerbsstaat es erfordert: eine flexibilisierte Volksgemeinschaft. Die Ästhetik der Hip-Hop-Videoclips auf MTV erinnert eben nicht allein an Aerobic-Kurse, sie suggeriert Fitness-Training für den Banden- und Bürgerkrieg. 34 Und nicht wenige rassistische Textstellen deuten an, dass dieser Krieg im Stil der jüngsten Auseinandersetzungen in Jugoslawien ausgetragen werden könnte.

Doch dieser Essay soll nicht kulturpessimistisch schliessen; dann schon lieber mit der Banalität, dass niemand weiss, wie die Zukunft wirklich aussehen wird. Das Ende der Pop-Musik jedenfalls, das der Rap ausplaudert, lässt sich wie jenes der ernsten Musik, über das schon John Cage schmunzelte, nicht rückgängig machen, so lange es sich auch hinziehen mag. Eine wirklich neue Musik kann es nur noch jenseits des Fetisch-Systems von U- und E-Musik, Beat und Off-Beat, geben. Und solange diese Schwelle nicht überschritten ist, bleibt jenes Spannungsverhältnis in Kraft, in dem sich Adorno immerzu bewegte: "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen", heisst es 1944 in den Minima Moralia, die sich aber bereits ein Jahr später — mit dem Wissen über den Nationalsozialismus — das Motto gegeben haben: "Where everything is bad / it must be good / to know the worst. "35

Gerhard Scheit
streifzuege.org

Dr. Gerhard Scheit hat Musik- und Theaterwissenschaft sowie Philosophie studiert. Er arbeitet als wissenschaftlicher Autor und Essayist.



Fussnoten:

1 Eckhard Henscheid: Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Zürich 1983, S. 68.

2 Gerhard Kubik: Einige Grundbegriffe und -konzepte der afrikanischen Musikforschung. In: Jahrbuch für musikalische Volks- und Völkerkunde 11 (1984), S. 75.

3 Es ist andererseits gewiss kein Zufall, dass ein Musikforscher namens Karl Bücher aus dem vom Jazz noch unberührten protestantischen Deutschland etwa zur selben Zeit, da diese Musik in Amerika ihre ersten Erfolge feierte, auf die Idee kam, den musikalischen Rhythmus aus der Arbeit abzuleiten (Karl Bücher: Arbeit und Rhythmus. Leipzig 1897) — und es erstaunt des n wenig, dass ein vom Arbeitsbegriff besoffener marxistischer Philosoph wie der späte Georg Lukács Büchers protestantisches Musikethos in seine Ästhetik übernahm (Die Eigenart des Ästhetischen. Bd. 1. Berlin, Weimar 1981, S. 236ff. ).

4 Theodor W. Adorno: Über Jazz. Gesammelte Schriften Bd. 17. Frankfurt am Main 1982, S. 84 [zuerst in: Zeitschrift für Sozialforschung 1937/5 (1937)].

5 Adorno, Abschied vom Jazz, S. 797-799.

6 Adorno, Über Jazz, S. 77f.

7 Von manchen Musikforschern wird die Entstehung des Jazzrhythmus im Süden der Vereinigten Staaten sogar unmittelbar als Verschmelzung der dort herrschenden Musiktradition, die vom europäischen Marschrhythmus geprägt war, mit den durch die Sklaven , eingewanderten' afrikanischen Trommelrhythmen begriffen. Eine Episode aus der Frühgeschichte des Jazz erscheint für das ambivalente Verhältnis zu Staat und Militär von geradezu symbolischer Bedeutung: Als im Jahre 1917 die amerikanische Kriegsmarine in New Orleans stationiert war, nahm der Vergnügungsbetrieb an diesem Ort derartige Formen an, dass das Marineministerium die Schliessung des gesamten Vergnügungsviertels anordnete. Am Morgen des 10. Oktober verliessen die Betroffenen die Stadt. Alle Jazzmusiker zogen in einer Kolonne durch die Strassen. Ihnen folgten die Prostituierten mit geschulterten Matratzen. Auf dem Marktplatz wurde ein Abschiedschoral gespielt.

8 Über die Bedeutung der Marschmusik in Preussen bzw. in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heisst es in der Enzyklopädie "Die Musik in Geschichte und Gegenwart" geradezu enthusiastisch: "Sehr beliebt bei der Bevölkerung waren das tägliche Aufziehen der Wache und der Strassenmarsch mit klingendem Spiel, und auch bei Platz-, Garten- und Saalkonzerten bewies der Marsch eine magische Anziehungskraft. Nach den Erweiterungen des preussischen bzw. deutschen Heeres in den 1860er und 1890er Jahren erlebte die Militärmusik hinsichtlich ihrer Verbreitung eine zweite Blütezeit; in Berlin fanden an Sommerabenden zwanzig bis dreissig Militärkonzerte statt. Die Marschproduktion erlebte eine Hochkonjunktur. Jahr für Jahr erschienen neue , Schlager', jedoch auch manche , Perlen', die sich bis in die Gegenwart erhalten haben (… ) Ständig vergrösserte sich die Zahl der Marsch-Liebhaber. Gelegentlich wurden Preiskonkurrenzen für Marschkompositionen ausgeschrieben (so 1857 und 1912, später 1934 [also immer überpünktlich vor den Kriegen! G. S. ]), und gute Kompositionen wurden (… ) nachträglich , zum Armeemarsch' ernannt. " (Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Friedrich Blume. Bd. 9. Kassel usw. 1961, S. 321).

9 So lässt sich etwa in einer Volksmusik-Zeitschrift der gekränkte Stolz eines alten Volksblaspioniers heraushören: "Es sollte einmal deutlich gemacht werden, dass die deutschen Volksmusikkapellen nicht erst seit heute und nicht nur musikalisch ihre Schuldigkeit tun, und dass die Güte des nationalsozialistischen Einsatzes unabhängig ist von der äusseren Art der Bindung, in der er erfolgt. Alle diese Volksmusikkapellen waren und sind gute nationalsozialistische Gemeinschaften (… ) Sie sind Kultursoldaten des Führers. " (Theo Jung: Einsatz der Volksmusikkapellen während der Kampfzeit. In: Die Volksmusik III/12 (1938), S. 532). — Ob wirklicher Soldat oder nur Kultursoldat — wichtig schien die Verinnerlichung des Staates — und dazu war die Musik beauftragt: "Überall, wo eine innere Geschlossenheit herrscht, ist die Musik fest in das Staatswesen eingegliedert und wird als Ausdruck der volksgebundenen Seele als geistiger Träger des Staates und der Volksgemeinschaft gewertet. Deshalb wird sie gefördert, gepflegt und als Volksgut von fremden Einflüssen geschützt. " (Karl Gustav Fellerer: Musik und Politik. “Deutsche Tonkünstler-Zeitung” 30/7 (1933), S. 103).

10 Besonders die Angehörigen der deutschen Luftwaffe — eine etwas privilegierte Schicht der Wehrmacht — erwiesen sich als Jazzfans; und es gab sogar eine wirkliche Jazz-Band von Goebbels Gnaden, die für spezielle Zwecke eingesetzt wurde. Vgl. hierzu Fred K. Prieberg: Musik im NS-Staat. Frankfurt am Main 1982, S. 293.

11 Theodor W. Adorno: Abschied vom Jazz. Gesammelte Schriften Bd. 18. Frankfurt am Main 1984, S. 795 u. S. 798. [Zuerst erschienen in: Europäische Revue 9 (1933), S. 313-316. ]

12 Bebop genannt (Dizzy Gillespie, Charlie Parker etc. ). Sein Rhythmus ist wieder komplexer und legt Wert auf polymetrische Strukturen, der Beat wird weniger streng markiert, die Improvisation erhält wieder grossen Raum. Der Zauber der Bigbands verflog allmählich, die New-Deal-Harmonie erwies sich als scheinhaft. "Bepop ist die Musik einer durch bessere Lebensbedingungen und bessere Ausbildung zu Beginn der vierziger Jahre rasch anwachsenden schwarzen Intelligenz, die nachdrücklich auf Einlösung der Ideale der amerikanischen Demokratie drängt und sich angesichts der fortgesetzten rassistischen Praxis der weissen Bourgeoisie bewusst von deren sozialem und ästhetischem Normensystem ab- und ebenso bewusst der Entwicklung bzw. ntwicklung eines schwarzen Normensystems zuwendet. Nicht zufällig beginnt der Aufstieg der Black Muslims in den vierziger Jahren, und nicht zufällig traten viele der jungen Bop-Musiker zum mohammedanischen Glauben über. " Klaus Kuhnke, Manfred Miller, Peter Schulze: Geschichte der Pop-Musik. Bd. 1. Lilienthal/Bremen 1977, S. 408.

13 Auch Kuhnke, Miller und Schulze identifizieren in ihrer Geschichte der Pop-Musik den amerikanischen Swing mit der deutschen Tanzmusik — offenbar um die "Klassenherrschaft" in den USA mit der in Deutschland gleichsetzen zu können; vgl. Kuhnke, Miller, Schulze, Geschichte der Pop-Musik, S. 373-379.

14 Die Homogenität des Swing war auch kein blosser Schein: Benny Goodman begann als erster Bandleader, schwarze Musiker in sein Orchester aufzunehmen. Die Schwarzen konnten insbesondere während des Kriegs aufgrund des gestiegenen Bedarfs an Arbeitskräften ihre soziale Lage verbessern: die Zahl der gelernten Arbeiter verdoppelte sich zwischen 1940 und 1944, die Zahl der in der Industrie tätigen schwarzen Frauen vervierfachte sich, der Prozentsatz der schwarzen High-School-Absolventen verdoppelte sich zwischen 1933 und 1943; die Zahl der schwarzen Offiziere stieg gegenüber dem Ersten Weltkrieg um das siebenfache.

15 Adorno, Über Jazz, S. 77.

16 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1977, S. 33.

17 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1974, S. 505.

18 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 471.

19 Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 1993, S. 62f. u. 65f.

20 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Frankfurt am Main 1980, S. 307.

21 Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt, Berlin, Wien 1974, S. 24, 62f. , 66.

22 Ebd. , S. 103, 119.

23 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 333.

24 Johannes Hodek: , Sie wissen wenn man Heroin nimmt… '. Von Sangeslust und Gewalt in Naziliedern. In: Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland. Hg. v. Hanns-Werner Heister u. Hans-Günter Klein. Frankfurt am Main 1984, S. 24.

25 "Now all the criminals in their coats and their ties / Are free to drink martinis and watch the sun rise / While Rubin sits like Buddha in a ten-foot cell / An innocent man in a living hell. That's the story of Hurricane, / But it won't be over till they clear his name / And give him back the time he's done. Put in a prison cell, but one time he could-a been / The champion of the world. "

26 "All the people we used to know / they're an illusion to me now. / Some are mathematicians / Some are carpenters's wives. / Don't know how it all got started, / I don't know what they're doin' with their lives. / But me, I'm still on the road / Headin' for another joint / We always did feel the same, / We just saw it from a different point of view, / Tangled up in blue. " In etwas plumperer Weise stiessen die Rolling Stones immer wieder an die Grenzen des von der Popmusik eröffneten Reichs der Freiheit: "I can get no satisfaction" ertönt in einer Welt, in der alle freie Zeit auf den Konsum von Waren hin ausgerichtet werden soll.

27 Lothar Trampert: Elektrisch! Jimi Hendrix. München 1994, S. 194.

28 Achim Sonderhoff: Jimi Hendrix. 1981. Zit. n. Trampert, Elektrisch! , S. 220.

29 Trampert, Elektrisch! , S. 220.

30 In Jamaika, wo eine der Wurzeln des Rap liegt, kam der neue Stil der DJs von fliegenden Händlern, die neue Reggaeplatten anpriesen und ihre Sprechweise der Musik der verkauften Platten anpassten. Andererseits wurde immer wieder die Nähe des Rap zum Fernsehen und insbesondere zum Werbefernsehen hervorgehoben. So sind die zahlreichen Markennamen bezeichnend, die sich in Rap-Texten ebenso wie auf den Kleidern der Rapper finden. Vgl. hierzu: David Dufresne: Rap Revolution. Geschichte, Gruppen, Bewegung. Zürich-Mainz 1997, S. 19.

31 Günter Jacob registriert seit 1996 die Tendenz, dass Männer noch dominanter geworden sind: "Die populären Rapperinnen lassen sich mittlerweile fast an einer Hand abzählen. Junge Künstlerinnen sind längst zum Soul, Swing und R&B abgewandert, weil sie dort vielfältigere Selbstdarstellungsmöglichkeiten haben. In den heute tonangebenden Teilen des Hip-Hop wird, jedenfalls wenn man sich an den Verkaufszahlen orientiert, vor allem der Konkurrenzkampf auf Kosten noch Schwächerer propagiert. " (G. J. : Retrospektive. In: Dufresne, Rap Revolution, S. 364.

32 Tom Holert, Mark Terkessidis: Einführung. In: Dies. (Hg. ) Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin-Amsterdam 1996, S. 15.

33 Annette Weber: Miniaturstaat Rave-Nation. In: Mainstream der Minderheiten, S. 53.

34 Auch der Jargon verweist darauf: Burn heisst, einen Rivalen bei Tanz und Musik auszustechen; Gangsterism die möglichst glaubwürdige Darstellung von Gangster-Attitüden; auffällig die vielen Bezeichnungen für eine Gruppe: Posse z. B. leitet sich ab von einer Gruppe im amerikanischen , Wilden Westen', die sich zur Selbstjustiz formiert.

35 Das Zitat stammt von F. H. Bradley. Adorno, Minima Moralia, S. 42 u. 103.