Das rosa geäderte Heft von Marguerite Duras Offenbarungen

Kultur

18. Mai 2020

In Südostasien ist es Brauch, die Geburt eines Kindes mit einem Schwall von Schimpfwörtern zu begrüssen.

Marguerite Duras, Salon du livre de Paris.
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Marguerite Duras, Salon du livre de Paris. Foto: ActuaLitté (CC BY-SA 2.0 cropped)

18. Mai 2020
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Ocean Voung, der 1988 in Saigon geboren wurde, berichtet, dass „ein Kind, meist das kleinste oder schwächste der ganzen Schar wie ich damals, nach den schändlichsten Dingen benannt wird: Teufel, Geisterkind, Schweineschnauze, Affenspross, Büffelkopf, Bastard – kleiner Hund noch einer der liebevolleren Namen darunter. Weil böse Geister, die das Land auf der Jagd nach gesunden, schönen Kindern durchstreiften, einen Bogen um das Haus machten, wenn sie hörten, wie etwas ganz Scheussliches zum Abendessen hereingerufen wurde, und damit das Kind verschonten. Etwas zu lieben heisst so, ihm einen derart schäbigen Namen zu geben, dass es vielleicht unberührt bleibt – und am Leben.“1

Marguerite Donnadieu kam am 4. April 1914 in Gia Dinh zur Welt. Als das jüngste von drei Kindern erhielt sie den Spitznamen la petite; in ihren guten Momenten soll die Mutter gesagt haben: Toi, t'es ma petite misère. „Diese Zärtlichkeitsbeweise, die zeigten, dass meine Mutter mich aus eben den Gründen liebte, die sie so oft gegen mich aufbrachten, waren unendlich wertvoll – umso mehr, als sie höchst selten waren.“ (43)2 Da sie das kleinste und handlichste der Kinder war, schlug es die Mutter am meisten. „Sie wirbelte mich mit Leichtigkeit durch die Luft und schlug mich mit einem Stock.

Die Wut trieb ihr das Blut in den Kopf, und sie sprach davon, an Blutandrang zu sterben. Die Angst, sie zu verlieren, war dann immer stärker als meine Empörung. Ich war immer einverstanden mit den Gründen, aus denen meine Mutter mich schlug, nicht aber mit den Mitteln. Die Benutzung des Stockes fand ich von Grund auf widerwärtig und unästhetisch, die Schläge auf den Kopf gefährlich.“ (42) Als sie vierzehn Jahre alt war, kehrte ihr Bruder Pierre aus Frankreich nach Indochina zurück; ab da wetteiferten Mutter und Bruder darum, sie zu schlagen. „Wenn Maman mich nicht schlug, wie er es sich vorstellte, sagte er: „Warte“, und löste sie ab. Doch sie bedauerte es schnell, denn jedes Mal dachte sie, dass ich nicht mehr aufstehen würde. Sie stiess fürchterliche Schreie aus, aber mein Bruder hörte nicht so leicht wieder auf. Eines Tages änderte er seine Taktik und warf mich gegen das Klavier, meine Schläfe traf auf eine Möbelecke, und ich konnte nur mit Mühe wieder aufstehen.“ (43)

„Jedesmal kam ein Moment, wo ich glaubte, mein Bruder würde mich umbringen, und wo ich keine Wut mehr verspürte, sondern Angst, dass mein Kopf sich von meinem Körper lösen und auf den Boden rollen oder auch, dass ich verrückt werden würde. Als mein Bruder begann, Opium zu rauchen, wurde er noch brutaler, ich konnte ihn nicht mehr anreden, ohne dass er sich auf mich stürzte. Wenn er zu viel geraucht hatte, schlug er kunstvoll – langsam, nach jedem Schlag eine Pause einlegend, um die Wirkung voll auszukosten.“ (45)

Er führte aus Frankreich auch neue Schimpfwörter ein, die gelegen kamen in einem Haus, in dem die Reizbarkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte. „Als mein Bruder mich schlug und sale morpion („dreckige Filzlaus“) nannte, war mir der Sinn dieses Wortes völlig unbekannt, und tatsächlich habe ich erst Jahre später erfahren, was es damit auf sich hat, denn in meiner Jugend hatte ich nie Gelegenheit dazu. Was nicht bedeutet, dass ich das Schimpfwort morpion nicht als solches empfand, und zwar umso heftiger, als ich mehr oder weniger microbe („Mikrob“) und morpion („Filzlaus“) verwechselte, so dass ich es umso empörender fand, wegen meiner Winzigkeit geschlagen zu werden, als ich nichts dafür konnte. Mein Bruder begleitete seine Schläge mit Beschimpfungen.

Seine gewöhnlichen Schimpfworte waren, abgesehen von morpion, espèce de fumier („verdammtes Mistvieh“), tu n'es même pas digne qu'on te crache dessus („du bist es noch nicht einmal wert, dass man auf dich spuckt“), ordure („Miststück“) und sale pute („dreckige Hure“), was mir ebenfalls ein Rätsel blieb, was mich aber, ich weiss nicht, warum (vielleicht wegen des obszönen Klangs des Wortes pute („Hure“)), tief traf. Salope („Schlampe“) schien mir besonders unerträglich – viel schlimmer als „saloperie“ („Drecksstück“), was ich für eine Verkleinerungsform von salope hielt.

Das Schimpfwort pourriture („verdorben“) berührte mein Gewissen und verwirrte mich, vor allem, nachdem ich Léo kennengelernt hatte, denn mein Bruder bedachte mich damit im Zusammenhang mit diesem Verhältnis, ebenso wie serpent qui cache son jeu („falsche Schlange“) und venin du serpent („Giftschlange“), die mir, obgleich intellektueller, perfider erschienen. Merdeuse („Scheissding“), sale cul („Drecksarsch“), sale con („dreckige Fotze“) oder chienne („läufige Hündin“) gingen nicht unbedingt mit Schlägen einher, sie waren in den Sprachgebrauch übergegangen.“ (45)

Der Bruder verbindet eine Semantik des Schmutzes mit dem Bereich der Sexualität und greift damit, wie Agnieszka Komorowska bemerkt, „auf eine Jahrhunderte alte Tradition misogyner Beschreibungen weiblicher Sexualität zurück, die in der Moralvorstellung der Kolonie grosse Wirkkraft besitzt. Indem er seine Schwester als „sale morpion“ beschimpft, legt er ihren Platz im Familiengefüge fest und untermauert zugleich ihre gesellschaftliche Aussenseiterposition, die in der skandalösen Verbindung mit dem chinesischen Liebhaber manifest wird.“3 Von dem Augenblick an, als der chinesische Liebhaber ihr Geld gab, wurden seine Beschimpfungen nuancierter: „Vom Stadium der „Filzlaus“ (morpion) ging ich über zu dem der„Dirne“ (grue), des „ausgehaltenen Mädchens“ (fille entretenue) und der „Hündin, die mit Eingeborenen schläft“ (chienne qui couche avec les indigènes).“ (65f.)4

Überraschend ist, dass Duras für ihren Bruder, der sie im Namen höherer Werte entwertet, nun die „Aufhebung jeglicher Moral“ einfordert. Sie „möchte den Glanz des Ereignisses bewahren, das mein Bruder für mich war. Er war ungerecht und feige, wie es jegliches Los, wie es das Schicksal ist. Seine Grausamkeit gegen mich hatte etwas Vollkommenes und im Grunde Reines. Sein Leben spielte sich so unerbittlich wie ein Verhängnis ab, und er imponierte uns.

Die Schläge und Beschimpfungen, die er mir angedeihen liess, waren der Stoff, aus dem seine Seele gewirkt war, es gibt da keinen Spielraum. Er war immer auf der Seite der grössten Ungerechtigkeit, die niemand mehr überbieten konnte, die am ehesten an die des Schicksals erinnerte und einen so unvorhersehbar traf wie das Verhängnis selbst. Ich möchte um keinen Preis, dass man ihn im Namen einer Moral, sei es einer noch so grosszügigen, verwerflich findet und richtet. Mein Bruder war boshaft, gewiss, aber seine Boshaftigkeit war so gross, dass ich nie ein menschliches Mass dafür gefunden habe, und das ist das Wichtige, darauf berufe ich mich, wenn ich für ihn keine Nachsicht fordere, sondern die Aufhebung jeglicher Moral.“ (67f.)

Warum sie derart misshandelt wurde, erklärt sie sich lediglich damit, dass weder der Bruder noch ihre Mutter sie ertragen konnten. Sie war einfach „hassenswert wie die anderen liebenswert waren“ (46) – auch ihre Mitschüler, Franzosen, mit denen sie vorher nie verkehrt hatte, fanden sie unsympathisch. Sie „war klein und ziemlich schlecht gebaut, mager, mit Sommersprossen übersät, mit zwei rötlichen Zöpfen geschlagen, die bis zur Mitte der Schenkel herunterhingen (ich sage Zöpfe, wo eigentlich Seile das richtige Wort wäre, so sehr zog meine Mutter an meinem Haar und so fest flocht sie es), ich war von der Sonne verbrannt, denn auf der Plantage lebten wir fast immer draussen (und zu dieser Zeit war in Saigon weisse Haut in Mode).

Meine ziemlich regelmässigen Züge hätten vielleicht schön genannt werden können, aber der reizlose, verschlossene und verstockte Ausdruck meines Gesichts entstellte sie vollständig, und man bemerkte sie nicht. Ich hatte einen bösen Blick, den meine Mutter als „giftig“ bezeichnete.“ (51)5 Es gab also, sagt sie, genaue Gründe für diese Antipathie: „Zunächst einmal eine durchaus verständliche Menschenscheu, die ich mit Arroganz und einer gewissen Boshaftigkeit zu kaschieren versuchte. Ich war nie liebenswürdig zu jemandem. Die Liebenswürdigkeit, ein unbekannter Kontinent. Als ich in die weisse Gesellschaft von Saigon kam, entdeckte ich die Liebenswürdigkeit. Ich hielt sie für ein Merkmal der Reichen und Glücklichen. Nie kam es mir in den Sinn zu lächeln.

Vergnügen hatte ich nur mit meiner Mutter und meinen Brüdern empfunden, und zu Hause kannten wir nur den Lachanfall, das Lächeln war aus unserem Umgang verbannt. Wir waren schamhaft und hart miteinander, wir richteten das Wort nur an den anderen, um ihn zu beschimpfen oder über bestimmte, rein materielle Sachverhalte zu informieren.“ (46f.)

„Niemals, nirgendwo“, schreibt sie, „in keinem Milieu, ist mir ein so ausgeprägter Sinn für die Schamlosigkeit der Sprache begegnet. Nie diente sie zu etwas anderem als zur Benennung der anstehenden Handlungen, der Situationen, die in Worte gefasst werden sollten; die Schimpfwörter waren am zwecklosesten, wenn wir uns beschimpften, so in einem dichterischen Geist. Nie dienten mir die Worte dazu, einen inneren Zustand zu beschreiben, eine Klage zu formulieren.

Mit seinem „Du kotzt mich an“ (Tu me fais chier) wollte mein älterer Bruder uns sagen, dass alles ihn ankotzte und dass er sich in einem Zustand befand, für den man in einem anderen Milieu das Wort Verzweiflung gebraucht. Wenn wir es in jenen Momenten vermieden, ihn anzusprechen, so geschah das nicht ohne Respekt und Ernst. Die Schimpfwörter waren unsere Poesie. Sie besassen deren wahrhaftigste, unleugbarste Merkmale. Da war zunächst einmal ihre Zwecklosigkeit, die nichts Zufälliges hatte, sie fielen im rechten Moment, erleuchteten uns mit Wut und überschwemmten uns mit Offenbarungen aller Art.

„Dein Haus ist ein Scheissdreck (Ta maison est une chierie)“, sagte mein Bruder zu meiner Mutter, „richtiger Scheissdreck, und ich scheiss' drauf (une vraie chierie et on s'y emmerde).“ Diese Worte fanden in uns jene „stets hohle“ Form, von der der Heilige Johannes spricht, und erfüllten uns mit einer Klarheit, einer Offenbarung. Ich spürte dann sehr wohl, dass dieses Haus ein Scheissdreck war, dass ich mitten im Scheissdreck schwamm, ich hatte den Verdacht, dass alles Scheissdreck war und es keinen Ausweg gab. Es gab die Worte, es gab den Blick, der sie begleitete, und den Ton, schroff, ohne Effekthascherei, ein Ton, der so passend und aufrichtig war, dass er jeden Zweifel aus dem Gold der Worte verjagte.

So mächtige und vollkommen überzeugende Offenbarungen, wie es manche Beschimpfungen meines älteren Bruder waren, habe ich in meinem Leben nur bei der Lektüre von Rimbaud, von Dostojewski erlebt. Er ist es vielleicht, der in mir als erster jene Neigung geweckt hat, die mir heute noch eigen ist, ein Werk der Eingebung jedem anderen vorzuziehen und die menschliche Intelligenz in Ungnade zu halten.“ (85f.)

In der réécriture wertet Marguerite Duras übelste Beleidigungen, unter denen sie als Fünfzehnjährige litt „wie eine Verdammte“ (45), zur Poesie auf – „eine Umdeutung, die sie rückwirkend rechtfertigt und die in gewissem Sinne eine Rettung darstellt. Aus beschämenden Verletzungen werden Inspirationen, sie stehen am Beginn der literarischen Erinnerungsarbeit und erlauben der Erzählerin eine Einbettung in die Genealogie inspirierten Schreibens.

Der Verweis auf Rimbaud und Dostojewski als Repräsentanten einer Literatur, die auf Inspiration und nicht auf „intelligence“ basiert, dient der Autorin in einem ihrer frühesten Texte zur Legitimation des eigenen Schreibens und zu einer Positionierung im literarischen Feld. Dass es sich bei der Opposition von Inspiration versus „intelligence“ nicht um eine flüchtige Momentaufnahme handelt, davon zeugt Duras' spätere vehemente Ablehnung jeglicher Theorie und intellektueller Deutungen ihres Werkes, sei es im Sinne des Feminismus oder im Sinne des Psychoanalyse.

Bemerkenswert ist, dass sie diese literarische Wahl aus dem Sprachverständnis ihres gehassten, älteren Bruders ableitet. Duras situiert die Wurzel ihres Schreibens in der Kindheit und Jugend und verwebt somit bereits an dieser Stelle autobiographisches und romaneskes Schreiben. Was sie sich in ihrer zeitgenössischen Situation als Intellektuelle und femmes de lettres in Paris an literarischem und theoretischem Wissen aneignen konnte, kann sich demnach nicht mit der Wirkmacht des inspirierten Sprechens ihres Bruders messen.“6

Appendix

Am Mittwoch, den 7. September 1910, kommt um ein Uhr nachts ein Junge in dem Dorf Binh Haoxa, Arondissement Gia Dinh, Kanton Binh Tri Thuang, zur Welt. Die Eltern, Marie und Henri Émile Donnadieu, geben ihm den Namen Pierre.

Pierre heisst auf Französisch „Stein“.

Pierre kennt man nur, weil er eine Schwester hat, die eine berühmte Schriftstellerin wurde.

Pierre ist „die inkarnierte Boshaftigkeit“, wie ebendiese Schwester schreibt.

Er mimt den Herrenmenschen, den weissen Herrenmenschen mit weisser Herrenmoral.

Mit den Einheimischen hat er nie gespielt wie seine Geschwister. Er bleibt „Franzose“.

Er demütig, schlägt: den jüngeren Bruder, die kleine Schwester. An ihren Liebhaber, ein Annamit, richtet er nicht einmal das Wort.

Er weiss um seinen Wert.

Wie die Mutter hasst er jede Schwäche.

Was er liebt, dieser Fascho, ist seinen Weissbüschelaffen.

Seine einzige Freude (neben Opium, Nutten und Glücksspiel): den Weissbüschelaffen mit so vielen Käsch-Münzen zu füttern, dass seine Backen zum Bersten voll sind und er nur noch mit gesenktem Kopf umherlaufen kann. Lachflash.

Nietzsche hätte ihn einen Schlechtweggekommenen genannt.

Er stürzt keine Werte. Er erhält sie.

Er ist das schlechte Böse, nicht das gute, das für jede Veränderung notwendig ist.

Die Schwester hat zwei Brüder: einen guten und einen bösen. Während sie in ihren Werken bei Paul, dem jüngeren Bruder, das Zerbrechliche, das Poetische, das Versponnene und Effeminierte betonte, geriet Pierre „dafür zum Ebenbild ungebrochener Männlichkeit. Ihn setzte sie mit Schönheit, Gewaltbereitschaft und Stärke gleich. Mochte sie auch noch so oft vorgeben, Pierre aus tiefstem Herzen zu hassen, insgeheim bewunderte sie ihn, stets westlich gekleidet und sehr auf sein Äusseres bedacht, als Wiedergänger des Stummfilmstars Rudolph Valentino – und auch dafür, dass er mit seinen geckenhaften Posen bei der sonst so strengen Mutter durchkam, dass er rein gar nichts dabei fand, ihr Geld abzuluchsen und als Schnösel und Nichtstuer in den Tag hinein zu leben.“ (Jens Rosteck)

Das ist offenbar seine innere Überzeugung und vielleicht sein ganzer Stolz: nicht arbeiten zu müssen. Aber nicht im Sinne Rimbauds, dass es Wichtigeres zu tun gäbe, als Geld zu verdienen. Nein, er lässt für sich arbeiten: bestiehlt Mutter und Schwester, seine Freundinnen lässt er in Montparnasse auf den Strich gehen, das Haus an der Loire verpfändet er.

Einmal sagt die Schwester über ihn: „Er hätte seine eigene Mutter verkauft.“

Im Liebhaber von Nordchina wünscht sie ihrem Bruder den Tod; im Liebhaber spricht sie von der „verhexenden Anziehung“, die von ihm ausging.

Die ambivalente Beziehung zu ihrem älteren Bruder ist für Aussenstehende letztlich kaum nachvollziehbar. Vielleicht hätte man dafür dieses absonderliche Leben am anderen Ende der Welt führen müssen, in dieser Armut, dieser Ungerechtigkeit, die sich keiner der Pariser Intellektuellen vorstellen konnte. Man steht vor dieser Ambivalenz wie vor einem unentwirrbaren Rätselknäuel. Andere hätten diesen gordischen Knoten einfach durchgeschlagen. Marguerite aber bleibt auf grausame Weise treu, besessen von ihrer Familie; sie führt keinen Bruch herbei, sie besucht weiterhin ihre Mutter bis zu ihrem Tod, unterschreibt das ungültige Testament, das den Bruder begünstigt, lässt ihn drei Tage bei sich wohnen, um danach festzustellen, dass er ihre Ersparnisse von 50.000 Francs geklaut hat.

Als sie sich das nächste Mal sehen, erwähnt sie es noch nicht einmal.

Was sich daran – allenfalls, bestenfalls – ablesen lässt, ist, wie schwer Loyalitätskonflikte wiegen können.

Als er sich einmal die Syphilis holt, soll er ausgerufen haben: Pourriture de vie, je suis pourri („Scheissleben, ich bin nur Scheisse“).

Manchmal, schreibt sie, komme er ihr wie der Krieg vor: „er breitet sich überall aus, dringt überall ein, stiehlt, nimmt gefangen, ist allgegenwärtig, mit allem vermischt, in alles verwickelt, anwesend im Körper, im Denken, im Wachen, im Schlaf, allzeit, der berauschenden Leidenschaft ausgeliefert, das köstliche Territorium des kindlichen Körpers zu besetzen, den Körper der weniger Starken, der besiegten Völker, weil das Böse da ist, vor den Toren, hautnah.“

Als Kind soll er ganze Tage in den Bäumen verbracht haben.

Aber das, liesse sich einwenden, ist Literatur.

In der Tat hat Duras so oft um ihre Familie herumgeschrieben, dass sie vorgibt, selber nicht mehr zu wissen, was wahr und was unwahr ist. Ihr Leben wird zu einem Jamais-vu-Erlebnis. Indem sie es in Schrift verwandelt, in das, was sie „écriture courante“ nennt, also eine Art Schreibfluss, ist es offenbar irreal geworden. Zum Glück, möchte man fast hinzufügen.

Sie hat es nicht vermocht, Leben und Literatur voneinander zu trennen. Das ist ihr „Wahnsinn“, ihr Absolutheitsanspruch ans Schreiben. Keine privaten Tagebuchaufzeichnungen, nichts. Alles ist in die Bücher eingeflossen. Die Herausgeber der Cahiers de la guerre bemerken dazu: „Ein Werk ohne Reste.“

„Im wirklichen, gelebten Leben ist man ein Niemand. Nur in den Büchern ist man jemand, existiert man überhaupt.“ (Marguerite Duras)

In den Gesprächen mit Laure Adler hat Marguerite Duras die Schläge des Bruders und der Mutter bestätigt, ohne sich dabei aufhalten zu wollen oder sie zu kommentieren.

Gérard Jarlot brüstete sich vor seinen Kameraden mit Marguerites Wunsch nach Schlägen.

„An Duras' Texten kann jedoch eine „Auratisierung von Gewalt“ (Rigendinger) kritisiert werden. Immer wieder findet man bei ihr die Faszination durch Gewalt, speziell: durch gewalttätige Männer.“ (Doris Kolesch/Gertrud Lehnert)

Aus psychoanalytischer Perspektive werden in Anschluss an Paul Schilder drei Aspekte des Abwehrgeschehens der Depersonalisation/Derealisation beschrieben: 1.) als Affektabwehr, 2.) als Ausdruck einer gestörten Selbstwertregulation, und 3.) als Symptom eines (schizoiden) Rückzugs von der Objektwelt.

In dem Roman Un barrage contre le Pacifique, der im Deutschen den originellen Titel Heisse Küste trägt, prügelt die Mutter auf ihre Tochter ein „wie unter einem Zwang, dessen sie nicht Herr werden konnte. Suzanne lag halbnackt in ihrem zerrissenen Kleid zu ihren Füssen und weinte. Als sie aufzustehen versuchte, stiess die Mutter sie mit dem Fuss zurück (...). Sobald Suzanne nur eine Bewegung machte, schlug sie wieder zu. Suzanne hob die Arme über den Kopf und schützte sich geduldig. Sie vergass ganz, dass diese Gewalt von ihrer Mutter kam, und nahm sie hin wie die des Windes, der Wellen, wie sie jede andere unpersönliche Gewalt hingenommen hätte.“

Jens Rosteck macht darauf aufmerksam, dass im Französischen „la mère“ und „la mer“ bis auf das auslautende e im ersten Begriff fast Homofone sind.

Xerxes, der Sohn des Darius, liess das Meer, dem seine Schiffe zum Opfer gefallen sind, mit Ruten auspeitschen. Eine Art Ersatzhandlung. Wie wenn die Vereinten Nationen irgendeine Gewalttat verurteilen: sinnlos, aber poetisch.

War das Schreiben für sie etwa auch so eine Ersatzhandlung? Wieso würde sie sonst behaupten, mit dem Liebhaber die Familienehre gerettet zu haben? Nachdem die Mutter Un barrage gelesen hat, prasselten Beschimpfungen auf die Tochter nieder; sie warf ihr Lüge und Verrat vor.

Die Kindheitserinnerungen aus dem rosa geäderten Heft (Cahiers rose marbré) habe sie allein deswegen aufgeschrieben, sagt sie, um sie nicht zu vergessen: „Man darf sich fragen, warum ich diese Erinnerungen aufschreibe, warum ich Verhaltensweisen unterbreite und gleichzeitig davor warne, über sie zu urteilen, weil mir dies missfallen würde. Wahrscheinlich einfach, um sie ans Licht zu bringen (...). Aus keinem anderen Grund schreibe ich sie auf als aus diesem Ausgrabungsinstinkt heraus. Das ist ganz einfach. Wenn ich sie nicht aufschreibe, vergesse ich sie allmählich. Dieser Gedanke ist mir schrecklich. Wenn ich mir nicht selber treu bin, wem soll ich es je sein?“

Warum vermacht sie diese Aufzeichnungen dann 1995, kurz vor ihrem Tod, dem Institut Mémoires de l'Edition Contemporaine?

On ne le sait pas.

Was man weiss: Dass das rosa geäderte Heft 123 Blätter zählt und vermutlich im Laufe des Jahres 1943 verfasst wurde. Im selben Jahr erscheint ihr erster Roman Les impudents unter dem Pseudonym Marguerite Duras – ein Nom de Plume und zugleich der Landschaft, aus der ihr Vater stammte: das Land des Weissweins, der côte-de-Duras, ganz nahe von Pardaillan, jener Region in der Lot-et-Garonne.

Diese Namensveränderung verschafft ihr nun endlich einen eigenen Namen, der den Bruch mit der Familie besiegelt und den Beginn eines eigenen Schicksals markiert. Im selben Moment, in dem sie sich zu diesem Künstlernamen entschliesst, teilt sie Dionys Mascolo die Gründe dafür mit: „Sie sagte mir, sie habe dieses Pseudonym angenommen, weil sie auf ihren Bruder alles andere als stolz sein konnte, weil sie vor ihrer nicht-literarischen Existenz flüchten wollte. Sie sagte, auf diese Weise könne sie es vermeiden, jenen Rechenschaft abzulegen, die sie als Donnadieu gekannt haben.“

Später wird sie die eigentümliche Gewohnheit annehmen, von sich in der dritten Person als „die Duras“ zu sprechen.

„Der wirkliche Name“, schreibt Laure Adler, „ist derjenige, den man sich gibt. Nicht der, den man empfängt.“

Bei der Duras klingt das so:

JEUNE FEMME. – À l'enfant qui est né on n'a pas donné de nom, je vous l'ai dit ?

MADELEINE. – Elle s'est nommée elle-même le nom de Savannah.

JEUNE FEMME. – Celui du feu.

MADELEINE. – Celui de la mer.


JUNGE FRAU. - Dem Kind, das geboren wurde, hat man keinen Namen gegeben, habe ich Ihnen das gesagt?
MADELEINE. - Sie hat sich selbst den Namen Savannah geben.
JUNGE FRAU. - Den Namen des Feuers.
MADELEINE. - Den des Meeres.

M. A. Sieber

Fussnoten:

1 Auf Erden sind wir kurz grandios. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Hanser: München 2019, 27

2 Marguerite Duras: Hefte aus Kriegszeiten. Hrsg. von Sophie Bogaert und Olivier Corpet. Aus dem Französischen von Anne Weber. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2007.

3 Agnieszka Komorowska: Scham und Schrift. Strategien literarischer Subjektkonstitution bei Duras, Goldschmidt und Ernaux. Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2017, 88.

4 Duras wird diese als tiefe Verunsicherung und Beschämung erlebte Zuschreibung der „sale pute“ in L'Amant (Éditions de Minuit: Paris1984) aufgreifen und ins Positive wenden, wenn sie schreibt, dass die Fünfzehnjährige in der Aufmachung einer Kind-Prostituierten („tenue d'enfant prostituée“ (33)) ausgeht; genauso verwendet sie die Beleidigung von Seiten ihres Lebensgefährtens Yann Andréa als Buchtitel für eine Erzählung: La pute de la Côte Normande (Éditions de Minuit: Paris 1986).

5 Doris Kolesch und Gertrud Lehnert zufolge wiegen familiäre und soziale Strukturen erheblich schwerer für das Verständnis des Durasschen Œuvre als der letztlich nur vordergründige Exotismus einer Kindheit in Asien. Diese sei weniger in thematischer Hinsicht prägend gewesen, als dass sie auf vermittelte Weise in ihre Texte eingeflossen ist – „und zwar als ein scharfer, häufig ungewöhnlicher und gleichsam „schiefer“ Blick, der aus der Erfahrung des Ausgegrenztseins, des „Andersseins“ resultieren könnte: Gehörte die junge Marguerite nur bedingt zu den vietnamesischen Freundinnen und Spielkameraden, da sie ja eine Französin ist, fühlt sich die Französin Duras aufgrund ihrer vietnamesischen Vergangenheit nur bedingt in Frankreich heimisch.“ (Doris Kolesch/Gertrud Lehnert: Marguerite Duras (Schreiben andernorts). Edition text + kritik: München 1996, 51)

6 Komorowska 2017, 99f.