Sozial-psychologische Hinweise zu Sigmund Freuds „Unbehagen in der Kultur” und einigen seiner praktischen Konsequenzen Leidverhütung und Leidensschutz

Kultur

27. Mai 2019

„Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben”, so Sigmund Freud zusammenfassend, „liegt mir ... sehr ferne.” Soweit die allgemeine Schlusspassage aus Sigmund Freuds psychoanalytischer Deutung des „Unbehagens in der Kultur" (1930).

Sigmund Freud, ca. 1921.
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Sigmund Freud, ca. 1921. Foto: Max Halberstadt (PD)

27. Mai 2019
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Anstatt eines Vorwortes und einer Zusammenfassung:

„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist." (Johann Strauss, Sohn, Die Fledermaus, 1874)

„Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei! Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai!" (Wallner/Feltz, 1942)

„Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, lieber Schatz. Um im Glück dich einzuwiegen, hast du auf der Erde Platz." (Heinrich Bolten-Baeckers, Frau Luna, 1899)

„Beim erstenmal, da tut's noch weh, da glaubt man noch, dass man es nie verwinden kann. Dann geht die Zeit, und peu ä peu gewöhnt man sich daran.' (Helmut Käutner, 1944)

„Eine Wertung der menschlichen Kultur zu geben", so Sigmund Freud zusammenfassend, „liegt mir ... sehr ferne. Ich habe mich bemüht, das enthusiastische Vorurteil von mir abzuhalten, unsere Kultur sei das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können, und ihr Weg müsse uns notwendigerweise zu Höhen ungeahnter Vollkommenheit fuhren. Ich kann wenigstens ohne Entrüstung den Kritiker anhören, der meint ..., man müsse zu dem Schlüsse kommen, die ganze Anstrengung sei nicht der Mühe wert und das Ergebnis könne nur ein Zustand sein, den der einzelne unerträglich finden muss. Meine Unparteilichkeit wird mir dadurch leicht, dass ich über all diese Dinge sehr wenig weiss, mit Sicherheit nur das eine, dass die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen. Ich verstünde es sehr wohl, wenn jemand den zwangsläufigen Charakter der menschlichen Kultur hervorheben und z. B. sagen würde, die Neigung zur Einschränkung des Sexuallebens oder zur Durchsetzung des Humanitätsideals auf Kosten der natürlichen Auslese seien Entwicklungsrichtungen, die sich nicht abwenden und nicht ablenken lassen und denen man sich am besten beugt, wie wenn es Naturnotwendigkeiten wären. Ich kenne auch die Einwendung dagegen, dass solche Strebungen, die man für unüberwindbar hielt, oft im Laufe der Menschheitsgeschichte beiseite geworfen und durch andere ersetzt worden sind. So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, dass ich ihnen keinen Trost zu bringen weiss, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen."1

Soweit die allgemeine Schlusspassage aus Sigmund Freuds psychoanalytischer Deutung des „Unbehagens in der Kultur" (1930). Recht erstaunlich, dass diese Hinweise gerade so wenig von jenen Psycho- und Kulturwissenschaftlern beachtet und produktiv aufgearbeitet wurden, die Freud erweislich so viel verdanken: Alfred Lorenzer etwa bezieht sich gar nicht auf dieses „Unbehagen" bei der Begründung seines tiefenhermeneutischen Programms einer Kulturanalyse.2

Es blieb Klaus Ottomeyer aus Klagenfurt vorbehalten, in einer zweiteiligen Text-Aussagen-Montage „Freud und Marx" an Freuds so skeptische wie demütige Grundhaltung als Kulturtheoretiker zu erinnern.3

Sieht man von Ottomeyers „anderer Sozialpsychologie" ab, so scheint aktuell Freuds „Unbehagen in der Kultur" ein Anathema und der gleichnamige Freud-Essay derzeit wissenschaftlich non receptable. Dies verwundert mich in doppelter Weise: Einmal und wie hier exemplarisch aufzuzeigen sein wird vom generellen Inhalt und weiten kulturalen Ansatz her. Denn, so lautet meine Kernthese: Freuds Essaytext spricht zentrale Fragen unserer conditio humana im globalen Prozess von Enttraditionalisierung und Entbindung, von Rationalisierung und Verweltlichung (Säkularisierung), schliesslich von „Entzauberung" der Welt (im Sinne des Soziologen Max Weber) und der schon 1930 erkennbar drohenden Tendenz zum Homicide, zur Selbstvernichtung der menschlichen Gattung an.

Zum anderen halte ich formal/publizistisch gerade den „Kultur"-Essay des Autors Sigmund Freud, immerhin 1929/31 ein Mittsiebziger, dem 1930 der Frankfurter Goethepreis zugesprochen wurde, für den von der wirkungsstrategischen Anlage her gerade in seiner Altersabgeklärtheit und selbstbewussten Toleranz wohl lesbarsten Essay Freuds, der auch einen guten Zugang zum Gesamtwerk dieses Mentors der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts bieten kann, auch im Vergleich mit früheren Abhandlungen des Autors zur „Psychopathologie des Alltagslebens" (1898), „Traumdeutung" (1901) und „Sexualtheorie" (1905). Verglichen mit dem gefälligeren Material (nebst zahlreichen erzählten Beispielen) im Essay „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten" (1905) ist der viel sprödere späte Essay „Das Unbehagen in der Kultur" (1929/31) auch wegen der vielen literarischen Anspielungen und gelegentlichen Zitate flüssiger geschrieben und leichter lesbar als die anderen genannten wissenschaftlichen Abhandlungen.

Nun will ich hier dieses doppelte Paradox, die Aufnahme und Wirksamkeit von Freuds spätem Kultur-Essay betreffend, nicht selbst tiefenhermeneutisch ausdeuten. So bleibt nur staunend anzumerken, dass und wie locker der Gelehrte Sigmund Freud seinen Grundgedanken des (auch zeitlich begrenzten) Charakters des Lustprinzips bei Goethe wiederfindet und in einer Fussnote notiert: „Goethe mahnt sogar: 'Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.' Das mag immerhin eine Übertreibung sein" (S. 43).

Ganz ähnlich, wenn Freud nicht nur abstrakt-allgemein auf einen speziellen Sorgenbrecher, den Alkohol genannten flüssig-oralen, eingeht und ironisch an Wilhelm Buschs Aphorismus aus der „Frommen Helene" erinnert, der bekanntlich die Sorgen dialektisch angeht: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör" (S. 41).

II

Dass der Gelehrte Sigmund Freud nicht nur theoretisch um die Vernichtungskraft leidenschaftlichen Hasses wusste, sondern den Destruktionstrieb auch bei Heinrich Heine literarisiert wiederfand, veranschaulicht seine eigene kulturale Spannbreite und Gelassenheit, wenn er in einer weiteren Fussnote schreibt: „Ein grosser Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen.

So gesteht H. Heine: 'Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, lässt er mich die Freude erleben, dass an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja, man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.' (Heine, Gedanken und Einfälle)" (S. 75).4

Aus der langen Schlusspassage des Freud-Essay dürfte, wie eingangs zitiert, vielleicht deutlich werden, dass Sigmund Freud zum einen jenen der Position des Ethnologen vergleichbaren „professional stranger" im Blick auf die westliche Zivilisation und ihre emotional-affektiven Grundlagen im 20. Jahrhundert zwischen den beiden Weltkriegen einnimmt und zum anderen sich nicht scheut, Tabus an- und ihre kulturale Unterfütterung etwa bei Fremdtötungswünschen auszusprechen. Dafür mag eine makabre Passage aus einem offensichtlich Freud nicht bekannten Poem des US-amerikanischen Lyrikers Robert Frost (1874 bis 1963) stehen. Dort geht es nämlich um die (doppelte) Möglichkeit des Homicides:

“Some say the world will end in fire, /Some say in ice. /From what I 've tasted of desire/ I hold with those who favor fire. / But if it had to perish twice, / I think I know enough of hate / To say that for destruction ice / Is also great / And would suffice."5

III

„Die Technologie", so Karl Marx in einer Anmerkung im Abschnitt zur Produktion des relativen Mehrwerts infolge der Herausbildung von Maschinerie und Industrie,"enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozess seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen ... Alle Religionsgeschichte, die von dieser materiellen Basis abstrahiert, ist - unkritisch. Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode."6

So wie sich der 'frühe' Karl Marx (1818 bis 1883) und der 'späte' Sigmund Freud (1856 bis 1939) sowohl im Ausgangspunkt Religionskritik als auch in der Methode der Entwicklung „religiöser Nebelbildungen" aus den „jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen" annähern (insofern lässt sich Freud auch als materialistischer Sozialwissenschaftler lesen, der Religion(en) nicht denunzieren, sondern funktional beschreiben und subjektwissenschaftlich erklären will), so bleiben doch wesentliche Unterschiede als differentia specifica: Marx etwa betont die (in seiner Kritik der politischen Ökonomie der sich entwickelnden kapitalistischen Warenwelt) entfaltete „materielle Basis", Freud das menschliche Glücksstreben in der jeweiligen Bedeutsamkeit. Freud nähert sich subjektiven und Sinnstrukturen, Marx bezieht sich primär auf objektive ökonomische Prozesse und deutet subjektive Folgen wie Entfremdungsprozesse nur gelegentlich an. Schliesslich bestehen wesentliche Unterschiede in beider Menschenbilder.

Während Karl Marx über die empirischen Fesselungen durch historische Gesellschaftsformationen (wie zum Beispiel die damals entwickeltste warenökonomisch-kapitalistische) hinaus wirtschaftliche Produktivkräfte und kreative menschliche Gattungspotenzen freigesetzt wissen will und dazu politische Handlungserfordernisse durch produktive soziale Klassen sieht, bleibt Sigmund Freud gegenüber diesem historischen Optimismus skeptisch, sieht die Doppelnatur menschlicher Triebe und Strebungen - nämlich: Produktion und Destruktion, Liebe und Hass, Geburt und Tod, Aufbau und Vernichtung; von daher betont er die Erfordernis der (auch institutionellen Bändigung) beider polarer Grundformen elementarer menschlicher Handlungsantriebe fast so, als befände sich der nachgeborene Freud gegenüber Marx in einer Pose, die den Hexenmeisterlehrling verzweifeln lässt, kann er doch die einmal freigesetzten Kräfte nicht mehr bändigen, so dass er sie nur noch hilflos wie Geister magisch zu beschwören versucht: „Besen, Besen, seid's gewesen / In die Ecke, Besen, Besen".

IV

Ohne dass ich die für mich nach wie vor problematische Begründung oder Setzung aus anthropologischer Sicht hier vorstellen oder diskutieren will, soll doch erwähnt werden, dass der deutsche Soziologe Arnold Gehlen später einen wesentlichen Funktionsaspekt dieses Skeptizismus gegenüber dem Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts unter den Stichworten Handlungsdruck und Entlastungstendenz angesprochen hat. Aus der Grundthese nämlich, „dass der Mensch infolge seines Mangels an spezialisierten Organen und Instinkten in keine artbesondere, natürliche Umwelt eingepasst und infolgedessen darauf angewiesen ist, beliebige vorgefundene Naturumstände intelligent zu verändern", schlussfolgert Gehlen zum einen: „Sinnesarm, waffenlos, nackt, in seinem gesamten Habitus embryonisch, in seinen Instinkten verunsichert" ist der Mensch entsprechend seiner Gattungsspezifik „existentiell auf die Handlung angewiesen". Dieses meint vor allem die „Veränderung der Aussen-Welttatsachen".

Für Gehlen ergibt sich aber auch aus der (dynamischen) Handlungserfordernis die Notwendigkeit (stabilisierend wirkender und insofern auch statischer) gesellschaftlicher Regelungen und Einrichtungsformen, eben von Institutionen.7 Hier wirkt bei Gehlen zum zweiten das anthropologisch allgemein gültige Prinzip der Entlastungstendenz als „weitere fundamentale menschliche Gesetzlichkeit".8 So verwandeln sich denn auch offensiv-unrealisierbare humane Glückswünsche in wirksame Formen menschlicher Leidverhütung. Diese Metamorphose ist das Generalthema von Sigmund Freuds Essay zum „Unbehagen in der Kultur":

„Es fragt sich [...], wie das grösste Hindernis der Kultur, die konstitutionelle Neigung der Menschen zur Aggression gegeneinander, wegzuräumen ist, und gerade darum wird uns das wahrscheinlich jüngste der kulturellen Überich-Gebote besonders interessant, das Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ... (Es) ist die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs. Das Gebot ist undurchführbar: eine so grossartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen, nicht die Not beseitigen."

Soweit Sigmund Freuds funktionale Argumentation (S. 105 f.), die einerseits empirische Religionskritik und andererseits Veranschaulichung der Alltagseinsicht, dass gut gemeint typischerweise wie das Gegenteil von gut wirkt, ist.

V

Wer freilich nicht nur resultathaft in Freuds „Unbehagen in der Kultur" schaut und über Ausgangs- und Schlusspunkt aller (berechtigten) Religionskritik hinaus studieren will, wie Freuds Essay komponiert ist und der Autor argumentiert, wird feststellen: Der Gelehrte Sigmund Freud 'vergass' in seinen acht Essaykapiteln jede leserorientierende Vermittlung zum Beispiel in Form von Zwischenüberschriften für die jeweiligen Einzelkapitel. Diese könnten, an Freuds Essay angelehnt formuliert, etwa so lauten und mit genauen Leitzitaten des Autors begründet werden:

I. Religionskritik zum ersten, ozeanisches Lebensgefühl vieler Menschen oder aller Anfang ist schwer (S. 31-40), genauer: „Für die religiösen Bedürfnisse scheint mir die Ableitung von der infantilen Hilflosigkeit und der durch sie geweckten Vatersehnsucht unabweisbar, zumal da sich dies Gefühl ... durch die Angst vor der Übermacht des Schicksals dauernd erhalten wird" (S. 39).

II. Glückserwerb und Leidensschutz oder über Methoden zur Leidverhütung (S. 40-51), genauer: „Die roheste, aber auch wirksamste Methode solcher Beeinflussung ist die chemische, die Intoxikation ... Die Leistung der Rauschmittel im Kampf um das Glück und zur Fernhaltung des Elends wird so sehr als Wohltat geschätzt, dass Individuen wie Völker ihnen eine feste Stellung in ihrer Libidoökonomie eingeräumt haben. Man dankt ihnen nicht nur den unmittelbaren Lustgewinn, sondern auch ein heissersehntes Stück Unabhängigkeit von der Aussenwelt. Man weiss doch, dass man mit Hilfe des 'Sorgenbrechers' sich jederzeit dem Druck der Realität entziehen und in einer eigenen Welt mit besseren Empfindungsbedingungen Zuflucht finden kann. Es ist bekannt, dass gerade diese Eigenschaft der Rauschmittel auch ihre Gefahr und Schädlichkeit bedingt" (S. 44/45). Und: „Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben, niemals hilflos unglücklicher, als wenn wir das geliebte Objekt oder seine Liebe verloren haben" (S. 49).

III. Der Mensch als 'eine Art Prothesengott' oder über Triebsublimierung und Kulturentwicklung (S. 52-64), genauer: „Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, dass höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen ... Es ist unmöglich, zu übersehen, in welchem Ausmass die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat" (S. 63).

IV. Liebe - Freundschaft - Sexualität oder über Grundlagen unserer westeuropäischen Kultur (S. 64-71), genauer: „Die genitale Liebe führt zu neuen Familienbildungen, die zielgehemmte zu 'Freundschaften', welche kulturell wichtig werden, weil sie manchen Beschränkungen der genitalen Liebe, z. B. deren Ausschliesslichkeit, entgehen ... Frauen vertreten die Interessen der Familie und des Sexuallebens; die Kulturarbeit ist immer mehr Sache der Männer geworden, stellt ihnen immer schwierigere Aufgaben, nötigt sie zu Triebsublimierungen, denen die Frauen wenig gewachsen sind. Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfugt, muss er seine Aufgaben durch zweckmässige Verteilung der Libido erledigen. Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er grossenteils den Frauen und dem Sexualleben ... So sieht sich die Frau durch die Ansprüche der Kultur in den Hintergrund gedrängt und tritt zu ihr in ein feindliches Verhältnis" (S. 68/69).

V. Liebe deine Feinde oder Religionskritik konkret: Homo homini lupus (S. 72-80)9, genauer: „Die Existenz der Aggressionsneigung, die wir bei uns selbst verspüren können (und) beim anderen mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand nötigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht... Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihren Äusserungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Daher also das Aufgebot von Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen, daher die Einschränkung des Sexuallebens und daher auch das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, dass nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft. Durch allen ihre Mühen hat diese Kulturbestrebung bisher nicht sehr viel erreicht" (S. 76 f.).

VI. Eros und/oder Todestrieb oder über den Lebenskampf der Menschenart (S. 80-86), genauer: „Eros (und) Todestrieb; aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken dieser beiden liessen sich die Phänomene des Lebens erklären" (S. 82). Und: „Ich verstehe nicht mehr, dass wir die Ubiquität der nicht erotischen Aggression und Destruktion übersehen und versäumen konnten, die ihr gebührende Stellung in der Deutung des Lebens einzuräumen" (S. 83). Schliesslich: „Für alles Weitere stelle ich mich also auf den Standpunkt, dass die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist, und komme darauf zurück, dass die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet... Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb der Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen. Dieser Aggressionstrieb ist der Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm in die Weltherrschaft teilt. Und nun, meine ich, ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muss uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht. Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt, und darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschenart" (S. 85 f.).

VII. Triebverzicht und Gewissen, Schuldgefühle und Reue oder über den inneren erotischen Antrieb von Kulturentwicklung (S. 86-96), genauer: „Wenn man ein Schuldgefühl hat, nachdem und weil man etwas verbrochen hat, so sollte man dies Gefühl eher Reue nennen. Es bezieht sich nur auf eine Tat, setzt natürlich voraus, dass ein Gewissen, die Bereitschaft, sich schuldig zu fühlen, bereits vor der Tat bestand" (S. 94). Und: „Diese Reue war das Ergebnis der uranfänglichen Gefühlsambivalenz gegen den Vater, die Söhne hassten ihn, aber sie liebten ihn auch; nachdem der Hass durch die Aggression befriedigt war, kam in der Reue über die Tat die Liebe zum Vorschein ... Das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonfliktes, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb. Dieser Konflikt wird angefacht, sobald den Menschen die Aufgabe des Zusammenlebens gestellt wird; solange diese Gemeinschaft nur die Form der Familie kennt, muss er sich im Ödipuskomplex äussern, das Gewissen einsetzen, das erste Schuldgefühl schaffen ... Da die Kultur einem inneren erotischen Antrieb gehorcht, der sie die Menschen zu einer innig verbundenen Masse vereinigen heisst, kann sie dies Ziel nur auf dem Wege einer immer wachsenden Verstärkung des Schuldgefühls erreichen" (S. 95 f.).

VIII. Kampf zweier Strebungen oder wer seinen Nächsten liebt wie sich selbst ist ganz verloren, genauer: „Der Kulturprozess (ist) jene Modifikation des Lebensprozesses, die er unter dem Einfluss einer vom Eros gestellten, von der Ananke, der realen Not angeregten Aufgabe erfährt, und diese Aufgabe ist die Vereinigung vereinzelter Menschen zu einer unter sich libidinös verbundenen Gemeinschaft. Fassen wir aber die Beziehung zwischen dem Kulturprozess der Menschheit und dem Entwicklungs- oder Erziehungsprozess des einzelnen Menschen ins Auge, so werden wir uns ohne viel Schwanken dafür entscheiden, dass die beiden sehr ähnlicher Natur sind, wenn nicht überhaupt derselbe Vorgang an andersartigen Objekten. Der Kulturprozess der Menschenart ist natürlich eine Abstraktion von höherer Ordnung als die Entwicklung des einzelnen, darum schwerer anschaulich zu erfassen ... Im Entwicklungsprozess des Einzelmenschen wird das Programm des Lustprinzips, Glücksbefriedigung zu finden, als Hauptziel festgehalten, die Einreihung in oder Anpassung an eine menschliche Gemeinschaft erscheint als eine kaum zu vermeidende Bedingung, die auf dem Wege zur Erreichung dieses Glücksziels erfüllt werden soll" (S. 102). Und: „So haben auch die beiden Strebungen, die nach individuellem Glück und die nach menschlichem Anschluss, bei jedem Individuum miteinander zu kämpfen, so müssen die beiden Prozesse der individuellen und der Kulturentwicklung einander feindlich begegnen und sich gegenseitig den Boden bestreiten. Aber dieser Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft ist nicht ein Abkömmling des wahrscheinlich unversöhnlichen Gegensatzes der Urtriebe, Eros und Tod, er bedeutet einen Zwist im Haushalt der Libido ..., und er lässt einen endlichen Ausgleich zu beim Individuum, wie hoffentlich auch in der Zukunft der Kultur, mag er gegenwärtig das Leben des einzelnen noch so sehr beschweren" (S. 103 f.).

VI

Natürlich, und auch wenn es zunächst auf den ersten Blick so scheinen mag: Die Haeckel'schen Welträtsel hat auch der altersreife Psychoanalytiker Sigmund Freud nicht gelöst, auch wenn er uns durch seine Kulturtheorie an zumindest zwei Lebenstatbestände erinnert: einmal, dass alle menschliche Potenz begrenzt ist, und zum anderen und über diese humanökologische Grundeinsicht hinaus an die 'soziale Tatsache', dass jeder ganzjährige Karneval ein (auch contradictio in adjecto genannter) Widerspruch in sich sein muss.

Insofern ist auch vielleicht gerade heute bei zunehmendem medienvermittelten Leben 'aus zweiter Hand' und mit Sigmund Freud daran zu erinnern, dass sowohl Glück immer Ausnahme bleiben muss als auch Leid die Regel. Es wäre, mit Sigmund Freud, angesichts noch immer zunehmender Medialkultur10 mit ihren wenn nicht in jedem Fall falschen so doch immer schon schiefen Lust- und Glücksversprechen an dieses Grundverhältnis zu erinnern: Denn nach wie vor verhalten sich menschliches Glück und menschliches Leid wie das Verhältnis von Ausnahme und Regel, nicht umgekehrt. Wer immer glaubt, zu dieser Regel gäbe es eine Ausnahme, verkennt die Grundbedingung menschlicher Existenz und scheitert, in welchen Formen auch immer.

„Die Religion", resümiert Sigmund Freud im zweiten Abschnitt zu „Glückserwerb und Leidensschutz", „drängt allen in gleicher Weise ihren Weg zum Glückserwerb und Leidensschutz auf. Ihre Technik besteht darin, den Wert des Lebens herabzudrücken und das Bild der realen Welt wahnhaft zu entstellen, was die Einschüchterung der Intelligenz zur Voraussetzung hat. Um diesen Preis, durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn gelingt es der Religion, vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen. Aber kaum mehr...

Auch die Religion kann ihr Versprechen nicht halten." Wenn der Analytiker Freud in dieser Passage (S. 51) jede Religion sowohl als ideologisches Glaubenssystem als auch als kollektive Neurose bewertet, so gibt ihm seine analytische Religionskritik zugleich die Möglichkeit, nach (medizinisch gesprochen) Substituten oder (sozialwissenschaftlich ausgedrückt) funktionalen Handlungsäquivalenten zu suchen. Denn was Freud als Intellektuellen interessiert, „ist die Möglichkeit, die Methode der Psychoanalyse aufprägen von allgemeinem Interesse anzuwenden: auf die Sozialwissenschaften und auf kulturelle Probleme.11

Über die inhaltliche Seite hinaus (dazu gleich mehr) finde ich Sigmund Freuds methodisches Verfahren richtungsweisend. Wie in der praktischen Therapie des einzelnen dieser aus der Vereinzelung herausgenommen werden soll, um Voraussetzungen für neue Vergemeinschaftungsformen zu eröffnen, so löst Freud auch theoretisch angemessen das Verhältnis vom Besonderen zum Allgemeinen, indem er seine religionskritischen Hinweise generalisiert: Wenn denn Säkularisierung und Rationalisierung, Entbindung und Enttraditionalisierung, kurz der sogenannte Prozess der Modernisierung12, sozialen Differenzierung und Individualisierung empirisch wirksam wird, dann bietet als kontinualer Endpunkt im Möglichkeitsspektrum13 in der Tat jede „Flucht in die neurotische Krankheit ... wenigstens Ersatzbefriedigungen" (S. 51).

Hier argumentiert denn auch der Psychologe Sigmund Freud am Beispiel „Neurose" ähnlich wie sein französischer Generationsgenosse Emile Durkheim (1858-1917) als Soziologe am Beispiel des Suizids; beide verweisen auf das „emotionelle Vakuum" (Kurt Hiller) und differenzierte individuelle Möglichkeiten, diesen „Hohlraum der Gefühle" (Anna Seghers) handelnd und/oder duldend oder/und unterlassend zu besetzen, was sich hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse (Werte und Normen) unterschiedlich darstellt und, je nach Lage und Form, auch zu anomischen Zuständen, also solchen mangelnder institutioneller Regelungen, führen kann.14

VII

Wie schon angesprochen, verhandelt Sigmund Freud im II. Abschnitt (S. 40-51) den ihm als „anspruchslosere Frage" erscheinenden Komplex „Methoden zur Leidverhütung" (S. 44 ff.). Weil „alles Leid endlich nur Empfindung (ist), es nur besteht, insofern wir es verspüren", kann es ihm um nichts anderes gehen als um mentale oder psychische Formen von Leidverhütung und Leidverminderung. Von der rohesten und wirksamsten Methode, Freud spricht von stofflicher Intoxikation und Chemismus, also von wenn man so will giftigen chemischen Keulen stoffgebundener Rauschmittel (wie z.B. legalen Drogen Alkohol und Nikotin, illegalen Drogen wie Haschisch und Marihuana), war hier schon die Rede. Es sind die volkstümlichen 'Sorgenbrecher', die auch noch im Zeitalter des HIV-Positivismus, sowohl fürs Überleben der menschlichen Spezies als auch für die Vernichtung ihrer Teilelemente sorgen: „Man weiss doch", so Freud, „dass man mit Hilfe des 'Sorgenbrechers' sich jederzeit dem Druck der Realität entziehen und in einer eigenen Welt mit besseren Empfindungen Zuflucht finden kann. Es ist bekannt, dass gerade diese Eigenschaft der Rauschmittel auch ihre Gefahr und Schädlichkeit bedingt" (S. 45).

Neben dieser mehrheitlichen Form stofflicher Benebelung gestattet „der komplizierte Bau unseres seelischen Apparates aber auch eine ganze Reihe anderer Beeinflussungen" (S. 45).

Eine dieser Techniken von „Leidabwehr" ist nach Freud Libidoverschiebung in vielfältigen Formen, „welche unser seelischen Apparat gestattet (und) durch dies eine Funktion so viel an Geschmeidigkeit gewinnt" (S. 46). Auch in diesem spezifischen Feld unterscheidet Freud wieder zwischen besonderem und allgemeinem Leidens schütz. Beim Allgemeinen erwähnt er zum Ausgleich der Libidoökonomie „die gemeine, jedermann zugängliche Berufsarbeit" als einzigartige „Technik der Lebensführung", die den Einzelnen „so fest an die Realität (bindet) als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gesellschaft sicher einfügt" (S. 46).

Diese natürlich angesichts der historischen Weltwirtschaftskrise nach jenem Black Friday des Jahres 1929 unerlässliche Bemerkung ergänzt Freud durch einen weiteren Hinweis zur besonderen Libidoökonomisierung beziehungsweise menschlicher Befriedigung: „Besondere Befriedigung vermittelt die Berufstätigkeit, wenn sie eine frei gewählte ist, also bestehende Neigungen, fortgeführte oder konstitutionell verstärkte Triebregungen durch Sublimierung nutzbar zu machen gestattet" (S. 46).15

Diese Tätigkeiten sind, vor allem und unter anderem, künstlerische und wissenschaftliche Arbeiten an Bild und Begriff. Auch in dieser Hinsicht sieht Freud dialektisch Chancen und Risiken, Möglichkeiten und Grenzen: „Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben. Die Befriedigung solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Verkörperung seiner Phantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität ...

Die Schwäche dieser Methode liegt aber darin, dass sie nicht allgemein verwendbar, nur wenigen Menschen zugänglich ist. Sie setzt besondere, im wirksamen Ausmass nicht gerade häufige Anlagen und Begabungen voraus. Auch diesen wenigen kann (diese Methode) nicht vollkommenen Leidensschutz gewähren, sie schafft ... keinen für die Pfeile des Schicksals undurchdringlichen Panzer, und sie pflegt zu versagen, wenn der eigne Leib die Quelle des Leidens wird" (S. 46). Gleichwohl handelt es sich um den für Freud „interessanten Fall" ästhetischer Lebensführung der menschlichen Existenz fürs Schöne. Hier wird „das Lebensglück vorwiegend im Genüsse der Schönheit gesucht, wo immer sie sich unseren Sinnen und unserem Urteil zeigt, der Schönheit menschlicher Formen und Gesten, von Naturobjekten und Landschaften, künstlerischen und selbst wissenschaftlichen Schöpfungen. Diese ästhetische Einstellung zum Lebensziel", so wertet Freud selbst abschliessend, „bietet wenig Schutz gegen drohende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen" (S. 49).

Als jemand, der beruflich mit dem Theater zu tun hat(te) und der doch kein Schau-Spieler ist, möchte ich hier abbrechen, freilich nicht ohne abschliessend auf die Ambivalenz auch dieses Freudschen Gedankens hinzuweisen. Zum einen halte ich Freuds Hinweis auf die Bedeutsamkeit etwa von kreativer künstlerischer Arbeit, und Kunst hat mit Können zu tun und nicht mit Wollen, weshalb der Anti-Künstler-Typ auch der Wollstler“16 ist, gerade im gegenwärtigen (Medien- und Event-) Deutschland,17 für wichtig.

Zum anderen weiss ich auch um die noch im Freudschen Plädoyer aufscheinenden Reste deutsch-österreichischen Geniekultes, etwa in Hinsicht auf die soziokulturellen funktionalen Begabungen „genialer Menschen" (Ernst Kretschmer)18 wie beispielsweise in der deutschen „Klassik“-Literatur überragend Johann Wolfgang Goethe und im letzten Jahrhundert Stefan George. Aber dies ist schon ein anderes Thema für einen künftig möglichen sozialpsychologischen Essay. Hier ging es mir zunächst allein um Sigmund Freuds historisch und aktuell wichtigen Text; um nicht mehr, aber auch um nicht weniger.

Richard Albrecht

1 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer; Bernhard Görlich. Frankfurt am Main 1996; alle Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe, S. 31-108

2 König, Heinz-Dieter; Lorenzer, Alfred u.a. (Hrsg.): Kulturanalysen, Frankfurt am Main 1986; 1988², S. 11-98

3 Ottomeyer, Klaus: Prinzip Neugier. Einführung in eine andere Sozialpsychologie; unter Mitarbeit von M. Wieser, Heidelberg 1992, S. 25-55

4 So entgeht Sigmund Freud der gerade unter Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftlern immer gegenwärtigen Gefahr des Plagiierens. Was möglicherweise bei diesen 'soft sciences' bisher noch die Ausnahme war, dürfte inzwischen in der neuen deutschen grossen Medienszene die Regel und damit die vorherrschende Arbeitsweise zehntausender Apparatschicks westlichen Typs sein. Im erstgenanten Feld weiss auch ein so hochgebildeter wie geschätzter Soziologe wie René König nicht, dass selbst seine zutreffende Kommentierung des Sachverhalts nicht originell, sondern Franz Kafka nachgeredet ist: „Sociology is by no means always the pioneer in opening up new fields of knowledge, but most often it seeks to follow up and systematize the insights gained by poets and novelists" (Sketches by a Cosmopolitan German Sociologist, in: International Social Science Journal, vol. 25, 1973, no. l, p. 57). „Viele sogenannte Wissenschaftler transponieren die Welt des Dichters auf eine andere, wissenschaftliche Ebene und gelangen so zu Ruhm und Bedeutung" (Janouch, Gustav: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt am Main 1968², S. 109)

5 Meine Eindeutschung lautet: „Die Welt wird enden durch das Feuer / Es heisst auch: durch das Eis. / Und mein Geschmack, nicht Euer / Der hält´s bevorzugt mit dem Feuer. / Doch wenn die Welt zwei Mal verschwinden müsste, / Hätt´ ich noch immer so viel Hass, / Dass ich ganz sicher wüsste: Es tat auch Eis. Das / Reichte mir für meine Lüste“

6 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie, Bd. I: Der Produktionsprozess des Kapitals, Berlin 1963, S. 393

7 Die angesonnene Funktion solcher Institutionen wäre nach dem Grundmuster von Beichte und Absolution Entlastung der Handlungssubjekte, freilich auch von zurechenbarer personaler Verantwortung (vgl. Montada, Leo: Verantwortlichkeit und das Menschenbild in der Psychologie; hrsg. von B. Jüttemann, Weinheim 1983, S. 162-188). Dieses Grundproblem ist auch noch in der entwickelten (spät-) bürgerlichen Gesellschaft wichtig, etwa wenn wirklich Suizide von Versicherungen entschädigt werden (sollen). Hier lautet die Grundfrage dann: Zwangshandlung oder freier Willensentscheid. In der geronnenen Alltagssprache wird aus Selbsttötung dann der meistens benutzte Ausdruck Selbstmord oder die weniger gebräuchliche Bezeichnung Freitod. Gegenüber dem katholischen Entlastungsmotiv betont der eher rational orientierte Protestantismus lutherischer Prägung das individuell zurechenbare Stellvertretungs- und Pflichtmotiv: „Die tun nicht recht", so Martin Luther in seiner Vorlesung über Mose I von 1535-1545, Kap. 47, „die ihr Amt, wozu sie eigentlich berufen sind, verlassen. Es ist zwar verdriesslich genug, ein Prediger, ein guter Familienvater zu sein, oder irgendein anderes Amt treu und fromm zu verwalten. Aber man darf vor dieser Aufgabe nicht fliehen, sondern soll mutig hinzutreten und sie bewältigen ... Denn Gott hat seine Ämter nicht dazu eingesetzt, dass sie ohne Mühe sind" (Lutherlexikon, hrgg. von Aland, 1989, S. 18/19). Hier sind auch die später soziologisch ausgearbeiteten Konzepte von „protestantischer Ethik" als Motiv von Verzicht und Pflicht zur subjektiven Seite der Herausbildung des Kapitalismus und über Erwartungsanforderungen konstituierte soziale Rollen angelegt

8 Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1957, S. 8, 17, 18

9 Der (eine) Mensch ist des (anderen) Menschen Wolf

10 Goldmann, Lucien: Kultur in der Mediengesellschaft (zuerst frz.: La creation culturelle dans la societe moderne, 1971), Frankfurt am Main 1973

11 Mannoni, Octave: Sigmund Freud, Reinbek bei Hamburg 1971, hier 1996, S. 145. Um exemplarisch zu veranschaulichen, was historisch-materialistische Religionskritik als Ausgangspunkt für kulturwissenschaftliche Forschung, ob nun vom Objekt wie Marx oder vom Subjekt wie Sigmund Freud ausgehend ausmacht, verweise ich auf den in der ländlich-katholischen Eifel bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitverbreiteten Veitstanz: Was auf den ersten Blick als religiöse Verblendung erscheint, erweist sich jedoch als handlungsfunktionale Bewegungstherapie in Gruppen (vgl. Manteuffel-Döring, Sabine: Die Eifel. Geschichte einer Landschaft, Frankfurt am Main-New York 1995, S. 110 ff.). Dies meint Karl Marx, wenn er darauf hinweist, dass sich aus „den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen entwickeln"; Friedrich Engels hat dies als empirischer Kulturwissenschaftler in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen" (1845) produktiv vorgestellt

12 Genaueres bei Albrecht, Richard: Der unbewältigte Wandel. Über Risiken und Chancen der modernen Moderne, in: Zbl. f. Soz.-Vers., Soz.-Hilfe u. Versorgung, 48 (1994) 1, S. 3-14

13 Genaueres bei Albrecht, Richard: The Utopian Paradigm: A Futurist Perspective, in: Communications. European Journal of Communication, vol. 16 (1991) 3, pp. 283-318

14 Aus psychologischer Sicht zusammenfassend dargestellt von Thomas, Alexander: Grundriss der Sozialpsychologie, Bd. II: Individuum - Gruppe - Gesellschaft, Göttingen u.a. 1992, S. 297-320

15 Und weiter bei Sigmund Freud: „Und dennoch wird Arbeit als Weg zum Glück von den Menschen wenig geschätzMan drängt sich nicht zu ihr wie zu anderen Möglichkeiten der Befriedigung. Die grosse Mehrzahl der Menschen arbeitet nur notgedrungen, und aus dieser natürlichen Arbeitsscheu leiten sich die schwierigsten sozialen Probleme ab" (S. 47)

16 Kunst kunstet & Macht machtet oder: Kunst hat nach wie vor, immer noch, noch immer und schon wieder mit Können zu tun, Wollst mit Wollen und Wollen mit Willen & Macht. So gesehen ist der Wollstler der Anti-Typ zum Künstler, genauer: „Wollstler Profi Preise / Laien Theater / Gegentyp Künstler" (Albrecht, Richard: end würfe. Neue Post Karten Texte, Verlagskontor für akustisch angewandte Texte, 1997)

17 Um den Liedermacher Hannes Wader zu variieren: In Deutschland, der Kulturnation / Da gilt der Künstler immer schon / Nimmt man es einmal recht genau / Viel weniger als eine Sau... Um mal was aus dem wissenschaftlichen Zettelkasten zu holen und aus dem medialen Nähkästchen zu plaudern: Eine Mitte der 90er Jahre spitzenverdienende weibliche Medienmaske wie Margerete Schreinemakers zahlte 1995 857.000 DM vor Steuern auf ihre SAT-I-Sendungen als Moderatorin, woraus entsprechend damaligem Spitzensteuersatz folgt: Sie versteuerte etwa 1,617 Mio. DM an Moderatorin-Honoraren (brutto), was heisst: Sie erhielt 1995 bei 41 jährlichen Sendungen als Moderatorin pro Sendung knapp 40.000 DM, was etwa dem Jahres(brutto)lohn eines vollerwerbsbeschäftigten sog. „Facharbeiters“ entsprochen haben könnte

18 So etwa beim deutsch-italienischen Soziologen Michels, Robert[o]: Bedeutende Männer. Charakterologische Studien, Leipzig 1927