Loach verfremdet nichts, hier soll nichts geschönt oder auch nur ästhetisiert werden, sein Film zeigt in beinah dokumentarischem Realismus die nackte hässliche Wahrheit. „Wir haben wie üblich chronologisch gedreht, und die Schauspieler wussten nicht, wie die Geschichten ihrer Charaktere enden“, erklärt Loach seine Vorgehensweise. „Jede einzelne Sequenz war neu für sie, wobei wir bei den Proben die Dynamik in der Familie schon festgelegt hatten. Anschliessend haben wir ziemlich zügig gedreht, in weniger als sechs Wochen.“
Selbständige Sklaven
Und die dabei ausgestellte Wahrheit sieht im angehenden 21. Jahrhundert eben so aus, dass Menschen als „selbständige“ Sklaven gehalten werden, zu Löhnen, mit denen ein auskömmliches Leben nur unter totaler Selbstaufgabe und –ausbeutung gelingen kann. Rick hat schon vor Jahren seine Stelle als Bauarbeiter verloren, sich mit allerlei anderen Jobs durchgeschlagen, ist hoch verschuldet und entscheidet sich schliesslich, als Franchisenehmer Pakete auszufahren. Doch die erhoffte Selbständigkeit erweist sich als Falle, der Franchisegeber entbindet sich durch die juristische Form jeder Verantwortung für seine Mitarbeiter, verhält sich ihnen gegenüber wie ein Sklavenhalter, bestraft und erniedrigt sie, um weiterhin „das profitabelste Depot des Landes“ bleiben zu können. Dass die Fahrer dabei bis zum körperlichen Zusammenbruch schuften müssen, ist Folge der neoliberalen Politik, die derartige Ausbeutungsformen möglich gemacht hat.Flüche gegen den Ausbeuter
Unterdessen muss die eigentliche Hauptfigur des Films, Ricks Frau Abby, die ebenfalls an die 14 Stunden pro Tag als mobile Pflegerin arbeitet, zugleich aber als Managerin der Familienangelegenheiten den frustrierten und erschöpften Rick, den aufmüpfigen 15jährigen Sohn Seb und die kleine Tochter Liza Jane in Schach halten. Die Frau bricht schliesslich wütend zusammen, nachdem Rick von Räubern überfallen und übel zusammengeschlagen worden ist, sie mit ihm stundenlang in der Notaufnahme eines Krankenhauses auf eine Diagnose warten muss, während dessen Chef Rick am Telefon erklärt, wie teuer ihn sein Missgeschick zu stehen kommen würde (1000 Pfund für den kaputt gegangenen Scanner plus Strafe plus Ersatzfahrer). Sie nimmt Ricks Telefon und überzieht mitten im Wartezimmer den Depotführer mit üblen Flüchen, weint und erklärt ihn für einen Unmenschen.Die anderen Wartenden beobachten die Szene mit entsetzten, aber mitfühlenden Blicken: Es geht ihnen genauso, sie sind Leidensgenossen und die Frage, die der Film, der wie eine Stationenrevue spätkapitalistischer Elendsgebiete (Schule, Dienstleisungssektor, Pflege, Gesundheitsnotstand, Altersarmut und –einsamkeit) wirkt, aufwirft, wird hier, in den verstehenden, entsetzten Gesichtern der Geschlagenen, der Erniedrigten, Ausgebeuteten manifest: Warum lassen wir uns das alles gefallen? Warum tun wir uns nicht zusammen und ändern etwas an den Zuständen?
Loach hat auch in Sorry we missed you ein genaues Auge und Ohr für die Arbeiterklasse. Er zeigt sie in all ihren Kämpfen und Frustrationen als fühlende, liebevolle, auch solidarische Wesen, die sich beim Durchschlagen ihre Humanität gerade nicht nehmen lassen, womit Loach die Möglichkeit einer „besseren Welt“ zumindest nicht verwirft. So ist sein eigentlich unendlich deprimierender Film auch ein kleiner Mutmacher. -
Produktion: Rebecca O'Brien