Short Cuts Menschen ...

Kultur

6. Februar 2020

Short Cut bedeutet Abkürzung – ohne Umweg gelangt man schnell zum Ziel. Der Titel von Altmans Meisterwerk aus dem Jahre 1993 kann aber auch anderes bedeuten.

Der US-amerikanische Regisseur Robert Altman in Venedig, 1982.
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Der US-amerikanische Regisseur Robert Altman in Venedig, 1982. Foto: Gorup de Besanez (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

6. Februar 2020
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Kurze Schnitte etwa, die den Film auszeichnen, der sich mit nicht weniger als neun Paaren (wenn ich richtig gezählt habe) befasst, acht zusammen oder getrennt lebenden Paaren samt eventuell vorhandenen Kindern und einer Mutter-Tochter-Beziehung irgendwo in Los Angeles. Short Cuts, das könnte in einem übertragenen Sinn aber auch heissen: kurze, heftige Schnitte, die der eine dem anderen verpasst, seien sie psychisch oder körperlich. Umwege gehen sie alle und meinen doch, sie gingen keine. Denn Altman seziert die Beziehungen zwischen den Paaren und deren mehr oder weniger zufällige Verbindungen zueinander messerscharf als Geflecht von aus allen sozialen Schichten stammenden Menschen, die überwiegend Verantwortung, Zuneigung, Zuhören usw. aus dem Wege gehen, den Weg des geringsten Widerstand eingeschlagen haben und den ihnen am nächsten stehenden Menschen nicht wahrnehmen (können). Sie befinden sich also in gewisser Hinsicht doch auf langen Umwegen, Irrwegen – vor allem zu sich selbst, wenn sie sich denn je erreichen.

Dabei scheint es nur so, als ob Altman keine Sympathie für seine Figuren habe; es handelt sich eben um eine kritische Sympathie. Und so lässt er seinen Flug durch die Niederungen des Lebens mit einem Einsatz von Hubschraubern beginnen, deren Piloten über Los Angeles aufgebrochen sind, den Krieg gegen eine Invasion von Fliegen mit Schädlingsbekämpfungsmitteln aufzunehmen. Und es ist Krieg da unten. Die Gefahren allerdings gehen kaum von den Insekten aus.

Anfangs ist „Short Cuts“ verwirrend, eine Art Puzzle mit tausend Einzelteilen, die erst zusammengefügt werden müssen. Endlos scheinende Szenenwechsel von einem Schauplatz zum nächsten vermitteln den Eindruck von Chaos. Am Ende wird bewusst, wie geschickt Altman die verästelten Einzelepisoden zu einem Ganzen geschmiedet hat. Je deutlicher die Entwirrung, desto klarer die Beziehungen und Personen in ihrer Entwicklung.

Wir treffen auf Ann und Howard Finnigan (Andie MacDowell, Bruce Davison), deren Sohn auf dem Weg zur Schule von Doreen Piggot (Lily Tomlin) angefahren wird. Der Junge kehrt nach Hause zurück, weil seine Eltern ihm eingebläut haben, nicht mit Fremden zu sprechen oder gar in ihr Auto zu steigen. Doreens Angebot, ihn zu seinen Eltern zu bringen, lehnt er ab. Und als Ann ihren Sohn findet, liegt er bewusstlos im Sessel vor dem Fernseher. Sie müssen um sein Leben fürchten. Überraschend taucht Howards Vater Paul (Jack Lemmon) auf, der seine Frau und Howard vor langer, langer Zeit verlassen hat, weil ihn seine Schwägerin verführt und seine Frau die beiden dabei überrascht hatte. Nun hat er angesichts des kritischen Zustands seines Enkels nichts besseres zu tun, als sich für sein Verhalten bei Howard zu entschuldigen. Bei Paul dreht sich fast alles nur um sich selbst.

Doreen bedient in einem dieser Schnellrestaurants und lebt mit Earl (Tom Waits) zusammen, der ständig streitet und im Verdacht steht, sich vor einiger Zeit an Doreens Tochter Honey Bush (Lili Taylor) vergangen zu haben. Honey hasst ihren Stiefvater. Sie weiss wenig darüber, dass ihr eigener Mann Bill (Robert Downey Jr.) mit seinem Freund, dem Pool-Reiniger Jerry Kaiser (Chris Penn), Frauen nachsteigt. Jerry ist mit Lois (Jennifer Jason-Leigh) verheiratet, die mit Telefon-Sex mehr verdient als er mit Pool-Reinigen. Uninteressiert an dieser Arbeit, die aber viel Geld bringt, und abgebrüht gegenüber den anrufenden Kunden denkt sie sich allerlei Worte aus, um die zu befriedigen – ob sie gerade Baby füttert, sich die Nägel lackiert oder was auch immer. Jerry, anstatt mit Lois liebevoll zu sein und ebenso liebevollen Sex zu haben, beneidet statt dessen die anrufenden Männer bezüglich der Phantasien, die seine Frau beim Job benutzt. „Warum sagst du so etwas nicht auch zu mir?“ fragt er.

Jerry reinigt den Pool bei den Finnigans und deren Nachbarin, der Barsängerin Tess Trainer (Annie Ross), die nichts weiter zu interessieren scheint als ihre Arbeit mit einer Jazzband (Annie Ross & The Low Note Quintett), während sie den katastrophalen Zustand ihrer eigenen Tochter, der Cellistin Zoe Trainer (Lori Singer), nicht wahrnimmt oder wahrnehmen will. Als Jerry dies bei seiner Arbeit am Pool beobachtet, ist er entsetzt, wohingegen er sein eigenes katastrophales Verhältnis zu Lois nicht als solches begreift.

Der durch den Unfall verletzte Sohn der Finnigans wird von Dr. Wyman (Matthew Modine) im Krankenhaus behandelt, der eifersüchtig über seine Frau, die Malerin Marian (Julianne Moore) wacht, von der er vermutet, dass sie drei Jahre zuvor bei einer Party mit einem anderen Mann geschlafen hat. Die Ehe der Wymans ist zu einem banalen Einerlei verkommen.

Bei einer Theateraufführung hatten die Wymans Claire und Stuart Kane (Anne Archer, Fred Ward) kennen gelernt und die beiden zum Essen eingeladen. Stuart versprach, von seinem geplanten Angler-Ausflug Fisch zur Party mitzubringen. Während Claire als Berufs-Clown arbeitet, ist Stuart arbeitslos und zieht mit seinen Freunden Gordon (Buck Henry) und Vern (Huey Lewis) los zu einem entfernt liegenden Angelplatz. Dort entdecken sie im Wasser eine nackte Frauenleiche, entscheiden sich jedoch, nicht sofort wieder zurückzukehren, um die Polizei zu verständigen, sondern ihren Angler-Kurzurlaub zu geniessen. Schliesslich ist die Frau ja tot und daher scheint es den drei Männern egal, wann sie den Fund melden. Immerhin mussten sie ganze vier Stunden zu Fuss gehen, um ihre Angelfreuden geniessen zu können. Und dann angeln sie, Scherze machend, dort, wo sie die Leiche festgemacht haben.

Marians Schwester Sherri (Madeleine Stowe) ist mit dem Angeber Gene (Tim Robbins), einem Polizisten, verheiratet. Während Sherri mit den drei Kindern der beiden mehr als die Hände voll zu tun hat, flüchtet Gene vor der Familie und dem ewig ihn ankläffenden Hund in Affären mit verheirateten Frauen. Gerade hat es ihm Betty Weathers (Frances McDormand) angetan, die mit ihrem Sohn Chad (Jarrett Lennon) zusammenlebt und von ihrem getrennt lebenden Mann, dem Hubschrauberpiloten Stormy (Tom Waits) ständig belästigt wird. In – ja, rasender kann man nicht sagen, sondern fast schon skrupellos ruhiger Eifersucht greift der eines Tages zur Motorsäge und zerstört das gesamte Mobiliar der Wohnung Bettys. Nur der Fernseher bleibt heil.

Und die Finnigans? Die werden zu allem Unglück von dem Konditor Andy Bitkower (Lyle Lovett) telefonisch belästigt. Bei ihm hatte Ann eine Torte zu Caseys Geburtstag bestellt, aber nicht gesagt, wie die Torte aussehen soll. Aus Verärgerung hierüber terrorisiert Andy Ann anonym über das Telefon.

Diese munteren Frauen und Männer, deren Pläne so gut wie sämtlich scheitern, sind abhängiger voneinander, als jeder von ihnen denkt. Vier Tote sind ein Ergebnis ihres Handelns. All ihr Leben ist mehr oder weniger von Katastrophen bestimmt, die sie selbst für sich oder andere herbeigeführt haben. Doreen lässt sich von dem kleine Casey davon abbringen, ihn ins Krankenhaus zu fahren, nur weil der Widerstand leistet. Der Pool-Reiniger Jerry greift zum Schluss, als ein Erdbeben Los Angeles und die Umgebung erschüttert, zur Gewalt gegen eine junge Frau, die Opfer seiner Frustrationen wird. Die Wymans spielen bei der Party mit den Kanes heile Welt und alle vier ergehen sich in mehr oder weniger kindischen Spielchen. Claire ist entsetzt über das Verhaltens ihres Mannes, die tote Frau nicht sofort gemeldet zu haben. Paul Finnigan verschwindet aus dem Krankenhaus, als klar ist, dass Casey den Autounfall nicht überleben wird. Nur Gene scheint zu spüren, dass sein Leben bislang mies war; er bringt seinen drei Kindern den verschwundenen Hund wieder. Ob er sich künftig um sie und seine Frau kümmern wird, bleibt fraglich, ist aber nicht ausgeschlossen. Doreen und Earl scheinen am Ende guten Mutes, aber vielleicht macht Earl sich und ihr auch nur leere Versprechungen, wenn er ihr sagt, er wolle mit ihr weg. Irgendwann? Und die Sängerin Tess steht nach ihrer letzten Nacht in der Bar vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens, als sie nach Hause kommt.

Einzig der verkorkste Konditor Andy scheint sein Fehlverhalten einzusehen. Als Ann und Howard ihn zur Rede stellen, zeigt er Mitgefühl und Scham.

„Short Cuts“ ist eingerahmt vom Krieg gegen die Fliegen und vom Erdbeben am Schluss des Films. Man könnte meinen, dass hier eine schon fast religiöse Beschwörung stattfindet. Das Erdbeben erscheint wie eine Drohung Gottes – und doch muss dieser Gott wissen, dass sich da unten am Kleinkrieg nicht viel ändern wird. Die Vernetzung fast aller Figuren in ein Konglomerat von Verantwortungslosigkeit und Gefühlskälte, Belanglosigkeit und Beliebigkeit, Gedankenlosigkeit und Egoismus, fehlender Scham und ebenso fehlender Intimität erscheint in der Summe wie eine besonders bedrohliche, unheimliche Art von Geschichts- und Gesichtslosigkeit. Wie Attrappen, Aushängeschilder, einer Gesellschaft, in der nur der medial vermittelte und verinnerlichte Konsum, gleich welcher Art, das Verhalten zu steuern scheint, funktionieren sie, die doch selbst diese Art des Zusammenlebens mit geschaffen haben und reproduzieren. Scheinbar ohne Vergangenheit, die eigenen Kinder als Nebensache oder funktionales Anhängsel, wandern sie durch ein Tal der Ernüchterung.

Sicher, für Ann und Howard ist der Verlust von Casey eine Katastrophe. Aber auch sie verlieren sich direkt nach dem Tod ihres Sohnes darin, einen anonymen Anrufer ausfindig zu machen, statt sich ihrer Trauer hinzugeben. Alles, was mit Zuneigung, Liebe usw. zu tun hat, verkommt bei den meisten zum Kick (wie bei Gene) oder zu einer seltsamen Selbst-Gefangennahme in die Abhängigkeit zu einem anderen (wie bei Doreen). Am konsequentesten in dieser Hinsicht mag noch Stormy Weathers sein, der immerhin den gewählten Lebensweg zu Ende geht und alles zertrümmert, was seiner Egozentrik schaden könnte. Dass er einzig den Fernseher heil lässt, symbolisiert in gewisser Weise unbewusst den fatalen Respekt vor der medialen Vergesellschaftung, die bei vielen längst an die Stelle von Hautnähe getreten ist.

Wenn man genau hinschaut allerdings, gibt es auch „fühlende Nischen“ in diesem Chaos, beispielsweise Claire, die völlig entsetzt ist, es nicht fassen kann, dass der Mann, den sie liebt, Stuart, die nackte Leiche der Frau wegen des Angelspasses einfach liegen gelassen hat, die noch weniger versteht, dass Stuart überhaupt nicht nachempfinden kann, was an seinem Verhalten so kalt und unnahbar ist. Der Tod löscht für Stuart und die beiden anderen Angler die Individualität eines Menschen endgültig, weil Individualität für die drei nur einen instrumentellen Wert besitzt. Sie sprechen darüber, dass die Tote doch gut aussehe, ihre Brüste usw.

„Short Cuts“ führt keine Personen à la Hollywood vor, weiss Gott nicht. Niemand in diesem menschlichen Konglomerat hat sein Leben wirklich einigermassen im Griff. Sicher, man müht sich ab, manche strampeln sich ab, aber die meisten schauen weg, wenn es gilt hinzusehen. Dem Emotionsmangel entspricht, dass vor allem auch Sexualität nicht Ausdruck sich liebender Menschen ist, sondern ein Instrument, auf dem jeder sein Ego „spielt“. Der Kick beherrscht die Szenerie, kein „freier Wille“, und auch kein ideologisch verbrämter Individualismus à la Hollywood mit den sattsam bekannten Zutaten. Die stattliche und grösstenteils berühmte Schauspielergarde sorgt zudem für eine überzeugende Inszenierung dieses grossartigen Films, über den Andreas Thomas in seiner Besprechung zu Recht schrieb, dass er nie langweilig werde. „Im Gegenteil, je länger 'Short Cuts' dauert, desto süchtiger macht er nach diesem ungeheuerlichen, deprimierenden, aberwitzigen, nach Menschen riechenden, nach Wahrheit schmeckenden Film.“

Dem muss man abschliessend nichts hinzufügen.

Ulrich Behrens

Short Cuts

USA

1993

-

187 min.

Regie: Robert Altman

Drehbuch: Robert Altman, Frank Barhydt

Darsteller: Andie MacDowell, Bruce Davison, Zane Cassidy

Produktion: Cary Brokaw

Musik: Gavin Friday, Mark Isham

Kamera: Walt Lloyd

Schnitt: Suzy Elmiger, Geraldine Peroni