Mystery Train Heimat ?!

Kultur

16. April 2019

Durch das Fenster eines Zuges öffnet sich der Blick auf ein Memphis der Artefakte: verfallene Kleinfabriken, Häuser, die Abfälle der Zivilisation, auf scheinbar unbewohnte Häuschen, die blau und rot gestrichen sind.

Jim Jarmusch in Berlin bei der Premiere des Films «Only Lovers Left Alive».
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Jim Jarmusch in Berlin bei der Premiere des Films «Only Lovers Left Alive». Foto: LutzBruno (CC BY-SA 3.0 unported)

16. April 2019
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Memphis, Tennessee, ein verlassener Ort, ein Ort der Vergangenheit. Melancholisch, fast romantisch wirkt der Blick Jarmuschs auf ein Amerika der Gegenwart, das er in der Vergangenheit verortet. Robby Müllers Kamera schwenkt langsam durch die verlassenen Strassen von Memphis, dem Ort des Blues und dem Ort einer Legende: Elvis Presley.

Ein junges japanisches Pärchen, Jun und Mitsuko kommen mit dem Zug an, einen grossen roten Koffer tragen sie zusammen mit einem Stock. Die junge Frau wirkt agil, gespannt, ihr Freund hingegen macht ein ernstes Gesicht, ist ruhig, redet nur, wenn Mitsuko ihn etwas fragt, Jun scheint aber nur depressiv. Mitsuko will nach Graceland, um Elvis wieder zu begegnen – in Bildern und anderen Erinnerungsstücken.

Jun steht nicht auf Elvis. Er hält Carl Perkins für den grossen Star von Memphis. Beide besuchen das Sun Studio, in dem die Grössen des Blues ihre berühmten Songs aufnahmen. Doch die Führerin prasselt ihren eingeübten Text herunter, so dass die beiden nur wenig mitbekommen. Im Radio ertönen die Lieder des Blues (angekündigt übrigens von Tom Waits). Das Verfallene der Stadt korrespondiert mit den Erinnerungen an die Stars, vor allem Elvis. Jun und Mitsuko streiten, aber leise. Sie küssen sich. Sie sind glücklich, „Weit weg von Yokohama” (wie diese erste Episode des Films heisst), ihrer Heimatstadt.

Sie streifen durch die Strassen, bis es dunkel wird und beide in einem verfallen Hotel für 22 Dollar die Nacht eine Bleibe finden. An der Rezeption sitzen der ganz in rot gekleidete alte Nachtportier (Screamin' Jay Hawkins) und der junge Hotelboy (Cinqué Lee), der zumeist vor Müdigkeit einnickt. Mitsuko versucht, durch Grimmassen Jun zum Lachen zu bringen - vergeblich, doch Jun behauptet, er sei glücklich. Die beiden schlafen miteinander - und mitten in der Nacht, irgendwann nach 2 Uhr ertönt Elvis „Blue Moon” aus dem Radio.

Am Morgen, als sie das Zimmer gerade verlassen wollen, ertönt ein Schuss.

„Train train, comin' 'round,
'round the bend
Train train, comin' 'round the bend
Well it took my baby,
but it never will again (no, not again).” (1)

Auch die zweite der drei Episoden („Ein Geist”) des Films kreist um das Hotel, den Elvis-Song und den Schuss am Morgen. Die Italienerin Luisa (Nicoletta Braschi) will ihren verstorbenen Mann nach Rom bringen. Doch das Flugzeug kann nicht starten, so dass sie eine Nacht in Memphis verbringen muss. Ein Zeitungsverkäufer (Sy Richardson) dreht ihr ein halbes Dutzend Zeitschriften an, in einem Restaurant erzählt ihr ein Mann (Tom Noonan), er habe vor genau einem Jahr den Kamm von Elvis bekommen, den er nun – wie von Elvis vorausgesagt – einer Italienerin verkaufen würde. Luisa gibt ihm 20 Dollar für den Kamm und, um ihn los zu werden. Auch sie verbringt die Nacht in dem besagten Hotel und teilt sich das Zimmer mit Dee Dee (Elizabeth Bracco), einer redseligen jungen Frau, die sich gerade von ihrem Freund Johnny (Joe Strummer) getrennt hat und nach Natchez zu einer Freundin fahren will, um alles hinter sich zu lassen. Dee Dee kann nur schlafen, wenn es nicht still ist, und so ertönt aus dem Radio Elvis „Blue Moon”, während Luisa der Geist von Elvis erscheint.

Als die beiden morgens das Zimmer verlassen, hören auch sie den Schuss.

Johnny hat seine Arbeit verloren und eine Pistole in der Tasche, mit der er herum fuchtelt. Sein Kollege Ed ruft den Bruder von Dee Dee, den Friseur Charly (Steve Buscemi) an, damit der und ein Freund namens Will (Rick Aviles) Johnny zur Vernunft bringen. Gemeinsam fahren sie durch Memphis, gehen in einen Schnapsladen – da schiesst Johnny auf den Mann hinter dem Tresen. Die drei flüchten, fahren die halbe Nacht durch Memphis, bis sie ebenfalls im besagten Hotel untertauchen. Die Polizei sucht bereits nach ihnen. Sie saufen die zwei Literflaschen fast leer, die sie im Schnapsladen haben mitgehen lassen. Am Morgen kann Charlie Johnny gerade noch daran hindern, sich in den Kopf zu schiessen. Beim Handgemenge löst sich ein Schuss, der Charlie im Bein trifft.

Jun und Mitsuko reisen mit dem Zug weiter.

Luisa besteigt in letzter Minute das Flugzeug nach Rom.

Charlie, Will und Johnny verlassen mit dem Auto Memphis, um in einem anderen Bundesstaat einen Arzt für Charlie zu suchen – „Verloren im All” (so der Titel der dritten Episode).

„Train train, comin' down,
down the line
Train train, comin' down the line
Well it's bringin' my baby,
'cause she's mine all, all mine
(She's mine, all, all mine).” (1)

Und obwohl damit die Geschichte des Films erzählt ist, ist sie dennoch nur in ihrem äusseren Gerüst wiedergegeben. Denn „Mystery Train” ist einer jener Filme, von denen es richtig ist zu behaupten, dass eigentlich nur die Bilder sprechen. Selbst wenn man sich die (teilweise spärlichen) Dialoge nicht anhören würde, verdeutlichen die Bilder der Stadt und der wenigen Menschen, auf die wir treffen, doch ausschliesslich - unterstützt von der Musik - die Atmosphäre eines fast nostalgischen Blicks Jarmuschs auf ein Amerika der Vergangenheit, dass doch umso aktueller und gegenwärtiger ist.

Jarmusch zeigt – das mag paradox klingen – die Menschen, die dieses Amerika wirklich ausmachen. Es ist nicht das Amerika der Politiker, der Wirtschaft, der Medien, Hollywoods usw. Andererseits, und obwohl nichts davon zu sehen ist, scheint dieses Mächtige Amerikas durch alles hindurch: durch den Verfall und die Menschen, die wir sehen, durch das Hotel, das irgendeinem Weissen gehört, der in jedem Zimmer Elvis-Portraits aufhängen liess, durch die einsamen Strassen usw. Der Geist Elvis und damit der nostalgische Blick auf einen jener hoch geputschten medialen Stars ist allgegenwärtig für alle, die durch den Film geistern – selbst für Johnny, den alle Elvis nennen, was er nicht mag.

Für Jarmusch scheinen all diese Ausgestossenen, Randfiguren und Ausländer, wie die beiden jungen Japaner und die italienische Witwe, die Hotelangestellten, der Zeitungsverkäufer die wirklich Handelnden in diesem Amerika zu sein. Aber dieser Schein trügt auch. Die Verlorenen in diesem Universum, denen der Geist von Elvis erscheint oder nachgeht, weit weg von ihrer inneren oder äusseren Heimat, sind fremdbestimmt und eigenbestimmt in einer widersprüchlichen Weise. Überhaupt scheint Jarmuschs Heimatverständnis, wenn man denn davon sprechen kann, ein zutiefst gespaltenes zu sein.

Alle – Jun, Mitsuko, Luisa, Dee Dee, Johnny usw. – sind auf einer mysteriösen Suche nach ihrer inneren Heimat, obwohl sie doch scheinbar in Memphis heimatlich verortet zu sein scheinen – selbst zum Teil das junge japanische Paar, etwa wenn Jun behauptet, Yokohama sei wie Memphis, man müsse sich in der japanischen Stadt nur einige Häuser wegdenken, wenn er dann später genau dieses Gefühl wieder verneint, während Mitsuko jetzt genau dies empfindet. Das erinnert an Jarmuschs „Night on Earth”, in dessen einer Episode Helmut, der deutsche Taxifahrer aus der DDR verzweifelt, aber auch unbeirrbar versucht, in New York als Taxifahrer zurecht zu kommen – und eine kurze Freundschaft mit einem Kunden schliesst.

Auch in „Mystery Train” ist das notwendig gebrochene Heimatgefühl durchströmt von Liebe (bei den beiden jungen Japanern in einer der wunderbarsten Szenen des Films), Solidarität (zwischen Johnny, Charlie und Will) und Zuversicht (Luisa und Dee Dee). Jarmusch löst das Mysteriöse der Geschichte in Schicksalhaftes, Verwobenes, die drei Episoden Verbindendes auf. Aber das Mysteriöse bleibt trotzdem stets in Spuren vorhanden. Man könnte auch sagen, dass das Geheimnisvolle durch die invisible hand der gesellschaftlichen Konstruktion, der alle unterliegen, erzeugt wurde bzw. wird.

Aber auch das erklärt nicht alles. Warum auch? Es geht ja gerade nicht um eine restlose Erklärung des Geschehens, sondern um einen eigenen Blick auf das Amerika der Gegenwart und seine Geschichte. Oder anders formuliert: um das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden im Verhalten der Beteiligten. Was an ihrem Verhalten ist genuin eigen, also Ausdruck von Eigensinn und Eigenhaben, um mit Alexander Kluge und Oskar Negt zu sprechen, was fremdbestimmt. Wenn Johnny aus Verzweiflung über den Verlust seiner Arbeit in einer ungerichteten Art zur Waffe greift, die er zuletzt gegen sich selbst wenden will, so scheint der Ausgangspunkt so klar wie das Ende unbestimmt. Er und die beiden anderen verlassen Memphis.

Was aus ihnen wird, ist wiederum doppelt bestimmt oder müsste jedenfalls doppelt bestimmbar sein. Jun und Mitsuko sind ihren nostalgischen und damit identitätsstiftenden Mysterien (Elvis und Perkins) nachgegangen. Sie verlassen Memphis in einem anderen Bewusstsein, auch wenn dessen genauere Bestimmung offen bleibt. Luisa hat den Geist Elvis gesehen, einen, der selbst nicht weiss, warum er ihr erschienen ist.

In uns allen lebt Elvis (oder welches medial zurecht geschneidertes Mysterium auch immer), aber wie: wer bestimmt darüber? Das Mysterium, die postmoderne Legende selbst scheinen ein jedenfalls nicht nur von mächtigen Institutionen definierbares Etwas. Und so verhält es sich ganz offenbar auch mit der Geschichte, mit Amerika – und hier findet sich das Substrat des Films und auch die tiefe Sympathie Jarmuschs für seine Protagonisten. -

Darsteller: Masatoshi Nagase, Youki Kudoh, Screamin' Jay Hawkins

Ulrich Behrens

(1) „Mystery Train” (Text und Musik: Doc Pomus, Mort Shuman)

Mystery Traint

USA, Japan

1989

-

113 min.

Regie: Jim Jarmusch

Drehbuch: Jim Jarmusch

Darsteller: Masatoshi Nagase, Youki Kudoh, Screamin' Jay Hawkins

Produktion: Jim Stark

Musik: John Lurie

Kamera: Robby Müller

Schnitt: Melody London