Magnolia „... aber die Vergangenheit nicht mit uns“

Kultur

31. Dezember 2020

Ein kurzes, Bruchteile von Sekunden dauerndes Lächeln, ein leichtes, vorsichtiges, fast zärtliches Lächeln, wie ein hauchdünner Hoffnungsstrahl beendet „Magnolia“.

Julianne Moore spielt im Film die Rolle von Linda Partridge.
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Julianne Moore spielt im Film die Rolle von Linda Partridge. Foto: Alain Zirah (CC BY 2.0 cropped)

31. Dezember 2020
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Claudia, die nie gelächelt zu haben scheint, die keine Freude in ihrem Leben hat, Claudia, die derart verletzt wurde, wie man einen Menschen nur verletzen kann, Claudia lächelt einen winzigen Moment nur, aber genau dieser Augenblick verschafft eine unbeschreibliche Erleichterung. Die Tränen können fliessen, die Seele wird frei und vielleicht wird sie es auch bleiben – für Claudia.

Paul Thomas Anderson erzählt in „Magnolia“ – Name eines Boulevards im San Fernando Valley – die Geschichte einiger Menschen, die mehr miteinander zu tun haben, als sie glauben; im Grunde genommen erzählt er: Geschichte, nicht im Sinne der Rekonstruktion eines historischen Ereignisses, sondern in bezug auf unsere kulturelle Eigenart, unsere Befangenheit innerhalb der eigenen Kultur, wir erfahren etwas über Verletzung und Verzeihung, über Schmerz, Trugbilder und die falschen Schlüsse, die wir aus Ereignissen unseres Leben ziehen. über den Satz: „Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.“

„Magnolia“ bietet keine Handlung im üblichen Sinn. Anderson verknüpft die Lebensgeschichten seiner Figuren in einer Art zirkulären Erzählung, die keinen sichtbaren Anfang und kein sichtbares Ende hat, aber winzige Chancen, dem Kreislauf von Geburt und Tod und dem, was dazwischen geschieht, eine andere Bedeutung zu geben. Reinigung und Erlösung sind die unmittelbaren Ziele, das Eingeständnis der eigenen Schuld die unbedingte Voraussetzung, um diese Ziele zu erreichen.

Wir treffen auf den todkranken, an Krebs leidenden TV-Produzenten Earl Partridge (Jason Robards), der von Phil Pharma (Philip Seymor Hoffman) gepflegt wird und ihm seine Sünden beichtet. Er liebte seine Frau, aber er betrog sie. Seine Frau heisst Linda (Julianne Moore) und ist angesichts des bevorstehenden Todes von Earl völlig verzweifelt und selbstmordgefährdet; sie steht unter Drogen. Erst jetzt, als Earl dem Tode nahe ist, wird ihr bewusst, dass sie ihn geliebt hat, sie, die ihn jahrelang mit anderen Männern betrogen und ihn nur wegen seines Geldes geheiratet hatte. Earl bittet Phil, seinen Sohn zu suchen, den er vor seinem Tod noch einmal sehen will.

Wir treffen auf Earls Sohn Frank Mackey (Tom Cruise, in einer seiner besten Rollen), der eine Macho-TV-Show unter dem Motto „Alle Macht den Schwänzen“ mit grossem Erfolg (unter Männern) leitet. Frank will von Earl nichts wissen, er hasst Earl, weil der Franks Mutter verlassen und auch in der Zeit, als sie todkrank war, nicht einmal angerufen hatte. Als die Fernsehreporterin Gwenovier (April Grace) ihn interviewt, kommen allerlei Lügen über sein Leben ans Tageslicht, die Frank sich zurechtgelegt hatte, um seinem Leben eine Art positive (fast über-männliche) Logik zu geben.

Wir treffen weiter auf den Showmaster Jimmy Gator (Philip Baker Hall), ebenfalls krebskrank, der nur noch zwei Monate zu leben hat. Er leitet Earls beste Show „What did kids know?“, in der drei Kinder gegen drei Erwachsene in einem Quiz antreten. Gator versucht angesichts seines bevorstehenden Todes, sich mit seiner Tochter Claudia (Melora Walters, mit einer phantastischen Leistung) auszusprechen. Er gesteht seiner Frau Rose (Melinda Dillon), dass er sie betrogen habe. Anderes kann er dagegen nicht aussprechen. Claudia, die ständig Drogen nimmt, flüchtige Männerbekanntschaften hat und völlig am Ende scheint, schmeisst ihren Vater wütend hinaus. Claudia ist ein missbrauchtes Kind, missbraucht durch ihren eigenen Vater. Eines Tages klopft Officer Jim Kurring (John C. Reilly) wegen einer Beschwerde an ihre Tür. Kurring ist von Claudia begeistert, sucht sie ein zweites Mal, ein drittes Mal auf, bis sich beide nach Jims Dienstschluss verabreden.

An Gators Show nimmt Stanley Spector (Jeremy Blackman) teil, ein Superkind, das alles zu wissen scheint, angetrieben von einem ehrgeizigen Vater (Michael Bowen). Doch in einer Quizsendung weigert sich Stanley plötzlich, die Fragen Gators zu beantworten. Er will nicht mehr.

Und dann ist da noch Donnie Smith (William H. Macy), früher „Quiz Kid Donnie Smith“, wie Stanley war er als Kind gefeierter Showstar. Jetzt ist Donnie am Ende, entlassen von seinem Chef Solomon Solomon (Alfred Molina), unglücklich verliebt in einen Barkeeper, verzweifelt ...

„Magnolia“ ist ein klassisches Drama, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so erscheint. Zu Anfang stellt Anderson alle Figuren vor, zeigt ihre innere Verbundenheit, sei es über familiäre Strukturen, sei es über die Medien. Sodann erzählt er von ihrem Schmerz, ihren Fehlern, ihrer Tragik. Zum Schluss erfolgt die Reinigung, die Entlastung des Gewissens, es entsteht ein Moment der Hoffnung in all der Tragik.

Phil und Officer Jim – der Pfleger und der Polizist – sind diejenigen, die versuchen, soweit es möglich ist, Ordnung zu schaffen. Jim ist für Claudia ein „Notbehelf“, eine Krücke, aber da Jim Claudia liebt und Claudia instinktiv spürt, dass sie für Jim mehr empfindet, als in ihrem endlosen Hilferuf zum Ausdruck kommt, entwickelt sich zwischen beiden mehr als eine karitative Beziehung. Phil hält die Tragik der Familie Partridge / Mackay kaum aus. Oft stehen ihm die Tränen in den Augen. Er tut, was er kann, um Earl den Tod so erträglich zu machen wie nur möglich.

Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr die einzelnen Protagonisten auf Gedeih und Verderb gezwungen sind, sich selbst an den eigenen Haaren aus ihrem Sumpf zu ziehen. Earl zwingt der nahe Tod, sein betrügerisches Leben vor Phil einzugestehen. Linda zwingt der Tod ihres Mannes in eine fast aussichtslose Situation. Erst jetzt erkennt sie, dass sie ihren Mann geliebt hat, jetzt im Angesicht seines Todes. Sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Aber in „Magnolia“ existieren eben auch Glücksengel – und Kröten, die vom Himmel fallen und einiges verhindern, um den Handelnden keine Flucht vor sich selbst zu ermöglichen. Ein kleiner Junge, der Rap-Texte aufsagt, rettet Linda das Leben. Eine ins Haus von Jimmy stürzende Kröte verhindert, dass sich Gator erschiesst. Eine andere Kröte zwingt Donnie, seine Fehler gegenüber Jim Kurring einzugestehen, der ihn trotz des Diebstahls, den Donnie begangen hat, nicht einbuchtet. Der nahende Tod Earls bringt Frank dazu, sich seinem Vater zu stellen. Die Liebe Jim Kurrings zwingt Claudia, sich ein Leben unabhängig vom Missbrauch vorstellen zu können.

Andersons Inszenierung ist eigentlich nicht das, was man einen Episodenfilm nennen könnte, Es existiert eine unterschwellige, teilweise ganz vordergründige Abhängigkeit aller Figuren voneinander. Als Stanley während der Quizshow dringend auf die Toilette muss, verweigert ihm die TV-Angestellte dies, weil in zwei Minuten die Show weitergehe. Für Stanley ist dies der Auslöser, um gegen die Position, in die ihn sein Vater und die Fernsehleute gebracht haben, die des Superkindes mit dem Superwissen, heftig und vor laufender Kamera zu protestieren. Er sei nicht der niedliche kleine Junge, der alles weiss und mit dem alle machen könnten, was sie wollten. Stanley – das ist die Figur in „Magnolia“, die Charakter zeigt, die der Verzweiflung, dem Betrug, der Ausnutzung, dem Missbrauch und all den Folgen, die dies hat, die Stirn bietet – öffentlich und offen. Stanleys Protest löst Gators Zusammenbruch aus. Der Einschnitt in die Logik der Show, in der alles nach Plan zu laufen hat und jetzt nicht mehr läuft, zwingt Gator in die Knie. Das Scheitern der Personen – Gator und Stanleys Vater – verknüpft sich auf eine kaum zufällige Art und Weise.

„Magnolia“ handelt von Missbrauch, nicht nur von sexuellem Missbrauch wie bei Claudia. Da steht eine „verkorkste“ Elterngeneration gegen eine „verkorkste“ Kindergeneration, hinter Masken (wie bei Frank mit seiner Macho-Show), Fassaden (wie bei Jimmy Gator als scheinbarer Saubermann des Fernsehens), hinter Lebenslügen (wie bei Earl und Linda, die ein glückliches Paar spielten und sich erst im Angesicht des Todes ihrer Liebe bewusst werden), hinter Ehrgeiz (wie Stanleys Vater, der in seinem Kind nur eine gewinnträchtige Investition sieht). Im Visier stehen die Väter – Gator, Partridge, Spector, letztlich auch Donnie Smiths Vater, der zwar im Film nicht auftaucht, aber in Donnies Verhalten präsent ist –, die Väter, die missbraucht haben – so oder so.

Dagegen steht Phil, der Helfer, der sensible Retter in der Not, der Schmerzen lindert, der tut, was er kann, der vermittelt. Dagegen steht Jim, der berufsmässige Retter in der Not, der überbesorgte Polizist, der alles ins Lot bringen will, der Ordnung schaffen will. Beide haben Erfolg und scheitern doch zugleich. Sie, die Beobachter des Geschehens, diese beiden Engel auf Erden, bedürfen der Hilfe des Himmels. Kröten regnen vom Himmel, und sie vermitteln eindeutig, unumwunden, unbestreitbar, dass jetzt Schluss ist mit dem Weglaufen vor sich selbst (Gator will Selbstmord verüben, Donnie will in Selbstmitleid ertrinken usw.), mit den Lügen und den zurecht gebogenen Wahrheiten. Die unglaubliche Tragik und die ebenso überwältigende Erleichterung, die dieser Regen mit sich bringt, sind derart unerträglich, dass sie einem die Tränen in die Augen treiben – vor Wut, Enttäuschung, Freude, Entlastung und Glück zugleich.

Doch „Magnolia“ handelt eben nicht nur von Missbrauch, sondern auch vom Verzeihen. Beides steht in diesem Film so eng beieinander, ist derart verwurzelt miteinander, dass die Frage von Schuld, Sühne, Vergebung und Verzeihen aus dem üblichen Rahmen gerissen und in einen ganz anderen Kontext verschoben wird, einen Kontext, der das Weiter-Leben unabdingbar verknüpft mit dem ebenso unzertrenntlichen Zusammenhang von Schuld und Vergebung. „What did kids know?“ Manchmal mehr als die Erwachsenen, wie es Stanley exemplarisch vormacht. Oder das Lied von Aimee Mann, das plötzlich zeitgleich alle vor sich her singen.

Anderson demonstriert, wie trotz aller Aufklärung und trotz allen Glaubens an die Macht der Vernunft und des Verstandes, an die Planbarkeit unseres Lebens emotionale Verstrickungen unser Leben beherrschen. Wir müssen planen, kalkulieren, aber oft sind wir uns nicht darüber bewusst, wie sehr unsere Pläne scheitern können und welche Folgen dies für uns und andere haben oder haben kann. Anderson demonstriert im Zeitalter der Rationalität die Irrationalität des menschlichens Lebens.

„Magnolia“ ist vollgestopft mit Geschichten, Hauptlinien und Nebenlinien, die zu Hauptlinien werden, Geschichten und Geschichte, Kultur und Mentalität, Stoff, sehr viel Stoff. Ich habe den Film innerhalb kürzester Zeit dreimal gesehen, und jedesmal neue Seiten, Aspekte, Gefühle, Katastrophen, Möglichkeiten entdeckt. „Magnolia“ gehört zu der Sorte Film, die mich nicht los lassen, und das ist gut so, das beste, was ein Film leisten kann.

Ulrich Behrens

Magnolia

USA

1999

-

188 min.

Regie: Paul Thomas Anderson

Drehbuch: Paul Thomas Anderson

Darsteller: Julianne Moore, Jason Robards, Philip Seymour Hoffman

Produktion: Joanne Sellar, Paul Thomas Anderson

Musik: Jon Brion, Aimee Mann

Kamera: Robert Elswit

Schnitt: Dylan Tichenor