Liebe ist kälter als der Tod Man hat, was man liebt ...

Kultur

20. Juni 2019

Weisse Wände, kahl, doch das Licht bringt ein bisschen Wärme in den Raum, in dem sich vier Personen aufhalten, gefangen, schweigend, wartend.

Rainer Werner Fassbinder.
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Rainer Werner Fassbinder. Foto: Reckon (CC BY-SA 2.0 cropped)

20. Juni 2019
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„Das Syndikat wünscht, dass Sie für uns arbeiten.” Vor einem mehr oder weniger modernen Ölgemälde, das so gar nicht in den Verhörraum passt, befragt ein Angestellter des Syndikats (Peter Moland), flankiert von zwei dunklen Gestalten mit ebenso dunklen Sonnenbrillen, Georges (Les Olvides) und Raoul (Howard Gaines), Franz the Pimp (Rainer Werner Fassbinder). Franz ist ein kleiner, erbärmlicher Zuhälter, der seine Freundin Joanna (Hanna Schygulla) auf den Strich schickt. Er liebt Joanna. Er will frei sein und daher nicht für das Syndikat arbeiten. Prügel durch Raoul sind die Folgen dieser Weigerung.

Vier Männer warten. Einer kommt dazu, ein junger smarter Bursche mit klaren Augen, ein Gangster wie aus dem Buch, mit Mantel und Hut und Sonnenbrille. Bruno gesellt sich zu Franz und Peter (Hans Hirschmüller). Bruno scheint dem amerikanischen Gangsterfilm der 30er und 40er Jahre entsprungen. Er hat sich einer Geschmacksrichtung verschrieben, einer Mentalität und dem entsprechenden Outfit. Bruno lacht kaum. Niemand lacht hier eigentlich. Bruno geht auf Franz zu, fragt ihn aus. Bruno ist ein Lockvogel, einer, den das Syndikat auf Franz ansetzt, um ihn zu ködern, zu zwingen, mit denen, die Franz nicht kennt, die unsichtbar bleiben, zu kooperieren. Fünf Männer legen sich schlafen, auf Decken, die sie in dem karg eingerichteten Raum, den niemand verlassen darf, ausgebreitet haben. Zum Schein haben sie Bruno verprügelt. Das schafft Nähe zu Franz, und Franz mag Bruno, lädt ihn nach München ein, in sein Milieu, sein merkwürdiges Zuhause zwischen Strich und kleinen Verbrechen.

„Mir geht es darum, dass das
Publikum, das diesen Film sieht,
die eigenen, ganz privaten Gefühle
überprüft [...] Das finde ich politischer
oder politisch aggressiver und
aktiver, als wenn ich jemandem
die Polizei als die grossen
Unterdrücker zeige.“
(Rainer Werner Fassbinder)

Bruno sitzt im Zug nach München. Ihm gegenüber sitzt eine schöne Frau (Katrin Schaake), eine blonde, die ihn ständig ansieht, ihm einen Apfel gibt, die ihre linke Schulter frei macht, mit der Hand an ihrem Hals entlang fährt. Wieder so eine Frau, die Zärtlichkeit will, Liebe, Zuneigung? Bruno antwortet. Schon als Jugendlicher habe er einen Jungen tot geprügelt. Er nimmt aus der Handtasche der Dame, die diese auf die Ablage am Fenster gelegt hat, Geld. Bruno wird bezahlt, aber nicht für Zuneigung.

Bruno sucht Franz. Drei Prostituierte (Gisela Otto, Ingrid Caven, Ursula Strätz) weisen ihm den Weg. Alle wollten etwas anderes von Bruno, aber der will nur zu Franz. Ferne, kaum merkbare Sehnsüchte machen sich in den Gesichtern der drei Frauen breit. Sie müssten bezahlt werden, die drei Frauen, aber sie wollen auch anderes. „Wieso Joanna, wieso nicht mich?” Prostitution ist bei Fassbinder nie nur Geschäft. Es ist die letzte Station von Sehnsucht und Hoffnung.

„Wie war's?” fragt Franz seine Joanna. Sie legt ihm die Tageseinnahmen hin. Ihren Anteil steckt sie ein.

Franz zu Bruno:
„Bin aus München. Ich hab' 'nen
Mädchen da. Die hab' ich lieb.“
Joanna zu Franz:
„Wir sollten eine Wohnung
haben, wo wir bleiben können –
und ein Kind – und Ruhe.“

Franz schweigt. Auch Franz hat sich einen Habitus zugelegt. Er nennt sich frei. Er macht, was er will, meint er. „Man hat, was man liebt, weil man liebt, was man hat” (Pierre Bourdieu). Franz hat seinen miesen Gangsterhabitus und er hat Joanna, die Prostituierte. Er liebt beides, weil er es hat. Warum hat er es?

Bruno kommt. Franz mag Bruno, weil er Bruno „hat”. Er erzählt Bruno, man beschuldige ihn zu Unrecht, einen Türken getötet zu haben, und nun seien dessen Freunde hinter ihm her. Bruno verführt Franz. Aber eigentlich ist das keine Verführung. Denn dass Franz nun Bruno folgt, ergibt sich logisch aus seinem Habitus. Man kauft eine Waffe bei einem Schumacher (Peter Berling). Bruno tötet ihn. Er tötet den Freund des Türken, auch ein Türke (Anastassios Karalas), und auch die Zeugin im Lokal des Türken (Monika Nüchtern). Später schlägt Franz noch einen Kunden (Hannes Gromball) von Joanna zusammen, den Bruno auf eine Müllkippe bringt und erschiesst. Immer enger zieht Bruno Franz in seine Nähe durch Mord.

Bruno erschiesst einen Polizisten (Rudolf Waldemar Brem) während eines Spaziergangs, weil der nach den Papieren von Franz, Bruno und Joanna fragt. Die gemeinsame Gewalt ist für Bruno Mittel zum Zweck, für Franz Ausdruck einer Gangsterfreundschaft. Er bietet Joanna Bruno an. Er merkt nicht, dass er sie ihm zum Frass vorwirft. Joanna mag Bruno nicht. Sie lacht ihn aus, als er vor Franz Augen ihre Bluse öffnet. Franz haut ihr eine runter. „Warum hast Du das getan?” „Weil Du Bruno ausgelacht hast. Und Bruno ist mein Freund.” „Und ich?” „Du? Du liebst mich sowieso.”

Die Polizei vernimmt Franz wegen der Morde an dem Türken und der Kellnerin, aber am nächsten Tag müssen sie ihn wieder freilassen. Nur Joanna erkennt, wie weit sie und Franz sich in die Abhängigkeit von Bruno begeben haben. Als Franz durch den Kommissar (Yaak Karsunke) vernommen wird, schläft sie mit Bruno, geht mit ihm einkaufen. Wie ein Ehepaar gehen sie durch den Supermarkt – begleitet von einer verfremdet gespielten Arie aus Strauss' „Rosenkavalier”.

Eine Scheinehe, ein Schein-Ehepaar, ein Schein von Ehepaar, denn sie sind keines und werden nie eines sein. Bruno schleicht sich in das Vertrauen von Joanna, aber er begreift nicht, dass Joanna ihn längst durchschaut hat und durch ihre scheinbare Nähe zu ihm Bruno austricksen will. Sie verrät den von Franz und Bruno geplanten Bankraub an den Kommissar.

Was bleibt? Bruno wird erschossen. Der Killer, den Bruno auf Joanna angesetzt hatte, sucht das Weite, als er die Polizei bemerkt. Franz und Joanna flüchten im Auto mit dem toten Bruno, den sie irgendwo unterwegs den Verfolgern, der Polizei, vor das Auto werfen. „Ich habe die Polizei angerufen”, gesteht Joanna. Franz Antwort: „Nutte.” Beide fahren durch die triste Landschaft, die sich langsam in einem blendenden Weiss auflöst – ins Ungewisse? Oder ins Gewisse?

„Was übrig bleibt, wenn man
diesen Film gesehen hat, das ist
nicht, dass hier jemand sechs Leute
ermordet hat, dass es hier ein paar
Tote gegeben hat, sondern dass hier
arme Leute waren, die nichts mit
sich anfangen konnten, die einfach
so hingesetzt wurden wie sie sind,
und denen keine Möglichkeit gegeben
wurde – so weit wollen wir da gar
nicht gehen – die einfach keine haben,
die schlichtweg keine Möglichkeit haben.
Das ist meiner Ansicht nach das,
was übrig bleibt. Denn die anderen,
die Szenen ohne Gewalttätigkeit, sind
ungeheuer viel länger. Das sind etwa
70 Minuten gegen nur 10 Minuten Totschlag.“
(Rainer Werner Fassbinder)

„Liebe ist kälter als der Tod”, sein erster Spielfilm, gehört zu einer Reihe von Gangsterfilmen (u.a. „Götter der Pest”, 1970, und „Der amerikanische Soldat”, 1970), in denen Fassbinder aus seiner Sympathie für den alten amerikanischen Gangsterfilm, aber vor allem für Godard und Melville („Der eiskalte Engel”, 1967) kein Hehl macht. Der Film ist Chabrol, Rohmer, Straub und zwei Gangsterfiguren in einem Western von Damiani („Töte Amigo”) von 1966 gewidmet. Aber Fassbinder lässt schon hier spüren, dass es ihm nicht um Selbstverliebtheit in das Kino geht. Das Zitieren des Genres ist bei ihm kein Selbstzweck. Er schildert diejenigen, die ihm am Herzen liegen, die er arme Leute nennt, die keine Wahl haben, weil sie sich anscheinend freiwillig eine Attitüde zugelegt haben, in der sie voll aufgehen, hier der Gangstermentalität, im Innern wie im Äusseren.

Obwohl die Inszenierung manchmal etwas unbeholfen und steif wirkt, tut dies der Wirkung des Films keinen Abbruch. Fassbinder stellt die Frage nach Freiheit und Notwendigkeit, nach Selbstbestimmung und Zwang nicht als Frage der individuellen Wahl, denn dann würde er sie als Frage der Freiheit stellen und die Frage selbst ad absurdum führen. Schon dieser Erstlingsfilm vermittelt die in späteren Filmen noch präziser visualisierte Frage nach unserer Kultur und dem individuellen Empfinden dieser Kultur, auch in bezug auf das Publikum. Freiheit und Zwang sind bei Fassbinder eher Ausdruck einer kulturell tradierten und vermittelten Verbundenheit, denn „Gegenpositionen”, zwei Seiten einer Medaille.

Der Habitus des Gangsters, noch dazu des (durch das Kino) inszenierten Gangsters „verkommt” in den Gestalten des Franz und des Bruno zu einer Attitüde aus „zweiter Hand” (Hans Günther Pflaum). Was man wählt, ist schon vorhanden und täuscht Freiheit vor. Das kulturelle „Angebot” ist schon da und die Alternativen sind kein Ausdruck von Freiheit, sondern von Freiheit als Zwang.

Die Kommunikationsdefizite der Personen, ihre Sprachlosigkeit angesichts dessen, was sie an Emotion und Bedürfnis formulieren „müssten”, aber nicht können, deutet auf den Zwang einer Kultur, die in ihrer grenzenlos liberalen oder auch libertinären Ausrichtung nur einen Schein produziert, an dem so einige zugrunde gehen. „Man hat, was man liebt, weil man liebt, was man hat.” Das, was man „hat”, simuliert den Schein von Besitz. Das, was man liebt, erzeugt den Schein von Freiheit. Wenn Franz am Schluss auf den Verrat von Joanna, der nur Ausdruck des Bedürfnisses nach Liebe war, antwortet: „Nutte”, so zeugt dies davon, dass Franz nichts wirklich erkannt hat. Schon in diesem ersten Film Fassbinders sind es die Frauen, Joanna, aber auch die drei Prostituierten, die für die Sehnsucht und die Liebe jenseits kultureller Schranken stehen. In der Figur der Joanna drückt sich aus, was nicht nur in „Lili Marleen” wieder aufgenommen wird.

Ulrich Behrens

(1) Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main, 1982, S. 195

Liebe ist kälter als der Tod

Deutschland

1969

-

88 min.

Regie: Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder, Katrin Schaake

Darsteller: Ulli Lommel, Hanna Schygulla, Rainer Werner Fassbinder

Produktion: Peer Raben und Thomas Schamoni

Musik: Peer Raben, Holger Münzer

Kamera: Dietrich Lohmann

Schnitt: Franz Walsch alias Rainer Werner Fassbinder