Fessle mich! Die Unsicherheit der Liebe

Kultur

8. September 2020

Almodóvars Meisterstück aus dem Jahr 1989 könnte auch heissen: »Ich bin von Dir gefesselt. Bist Du es auch von mir?

Pedro Almodovar mit der Schauspielerin Victoria Abril (im Film in der Rolle von Marina Osorio) an der César-Verleihung 1993.
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Pedro Almodovar mit der Schauspielerin Victoria Abril (im Film in der Rolle von Marina Osorio) an der César-Verleihung 1993. Foto: Georges Biard (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

8. September 2020
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Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Du von mir ebenso gefesselt bist!« Wie viele seiner Filme ist auch »¡Átame!« als Bekenntnis zum Sadomasochismus oder als Verherrlichung von Gewalt gegen Frauen gründlich missverstanden worden. In den USA erhielt der Film sogar die Kategorie »nicht jugendfrei«. Andererseits gelang Antonio Banderas mit diesem Streifen der Durchbruch auf dem Weg nach Hollywood.

Inhalt

Der 23jährige Ricky (Antonio Banderas) wird aufgrund einer richterlichen Entscheidung aus der Psychiatrie entlassen, wo es ihm nicht gerade schlecht ging. Vor allem die Leiterin der Anstalt (Lola Cardona) will ihn eigentlich nicht entlassen, weil sie seine sexuellen Dienste sehr gern in Anspruch genommen hat.

Mit drei Jahren wurde Ricky Vollwaise, war immer allein und durchlief eine Sozial-Reparatur-Anstalt nach der anderen. Nun hat er nur noch ein Ziel: er will eine Frau, Kinder und Arbeit. Die Frau ist auch schon ausgesucht: die ehemalige Pornodarstellerin Marina (Victoria Abril), die derzeit für den an den Rollstuhl gefesselten Regisseur Máximo (Francisco Rabal) einen Horrorfilm unter dem Titel »Mitternachtsgespenst« dreht. Vor Jahren hatte Ricky für Geld mit Marina geschlafen und sich in den Kopf gesetzt: Sie muss seine Frau werden.

Ricky geht systematisch vor: Er stiehlt in der Garderobe Geld, Marinas Hausschlüssel und einige andere nützliche Gegenstände und verschafft sich nach den Dreharbeiten gewaltsam Zutritt zu ihrer Wohnung. Als sich Marina wehrt, schlägt Ricky zu. Als sie nicht aufhört zu versuchen, ihm zu entkommen, fesselt er Marina ans Bett und erklärt ihr: »Ich habe dich entführt, um dir die Möglichkeit zu geben mich gut kennen zu lernen, weil ich sicher bin, dass du dich in mich verlieben wirst, genauso wie ich mich in dich verliebt habe. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und bin ganz allein auf der Welt. Ich wäre gerne ein guter Ehemann für dich und ein guter Vater für deine Kinder.« Marina ist entsetzt und sucht weiterhin nach einer Möglichkeit zu entkommen.

Ricky besorgt Marina starke Schmerzmittel, später sogar Drogen gegen ihre Zahnschmerzen, lässt sich von einer Dealerin (Rossy de Palma) und ihren Freunden brutal zusammenschlagen, nachdem er ihr Drogen gestohlen hat, sorgt sich um einen tropfenden Wasserhahn, bettet Marina in die nebenan liegende Wohnung eines verreisten Nachbarn um, als man nach Marina sucht. Marinas Schwester Lola (Loles León), die als Produktionsleiterin für Máximo arbeitet, soll in dieser Wohnung ab und zu nach dem rechten sehen. Kurz: Ricky verhält sich, als ob er der treusorgende Ehemann von Marina wäre.

Obwohl Marina sich von den Fesseln befreien kann, kann sie aus der Wohnung nicht rechtzeitig entkommen. Ricky kommt – brutal zusammengeschlagen – zurück, Marina versorgt ihm seine Wunden und schläft mit ihm.

Erst als er nach einem Auto sucht, das er stehlen will, um mit Marina in sein Heimatdorf zu fahren, kann Lola ihre Schwester befreien und beide können fliehen. Ricky fährt allein in das Dorf. Doch Marina vermisst ihn und fährt ihm mit Lola nach ...

Inszenierung

Man mag es kaum glauben, aber »¡Átame!« ist ein durchweg optimistischer Film mit einem ebenso optimistischen Ausgang. Das Geheimnis dieses Films besteht darin, das Thema – natürlich wieder Ehe, Familie, Liebe, Beziehung – in eine Situation einzubetten, in die es nicht hineingehört. Nicht nur die Sehnsucht nach einer liebenden Frau, auch die kleinen Dinge – Wasserhahn reparieren, Arznei besorgen, möglichst weiche Fesseln und hautverträgliches Klebeband benutzen – werden aus einem »normalen« Kontext in einen völlig anderen, diametral entgegengesetzten Zusammenhang gestellt: die Situation einer Entführung mit Gewalt, Fesseln und Knebel.

Auch die Personen sind in gewisser Weise extrem angelegt, also keine Durchschnittsmenschen mit einer Durchschnittsbiografie. Marina war Pornodarstellerin, rauschgiftabhängig, Ricky hat sein Leben lang keine Eltern gehabt und durchlief eine Sozialstation nach der anderen. Wenn er jetzt seinen Wunsch nach Familie und Liebe gewaltsam erzwingen will, so kontrastiert dies lediglich die extreme emotionale Situation.

»Ich verstehe sein Hauptproblem sehr gut: die Schwierigkeit des Liebenden, dem anderen zu beweisen, dass er ihn liebt, seine Unsicherheit gegenüber dem anderen, von dem er nie weiss, ob er seine Gefühle richtig versteht, eine Unsicherheit, die es in der Liebe immer gibt. Ich muss jeden Tag hören, dass ich geliebt werde, und jeder Tag ist etwas Neues, nie sicher. Die Liebe kann von einem Tag zum anderen verschwinden, sie ist wie ein Wunder, und Wunder bedürfen beständig der Bestätigung.« (1)

»¡Átame!« zeugt von dem starken Zweifel, ja der Ablehnung der klassischen Vorstellung von Familie, und dieser Zweifel ist natürlich noch stark genährt von der Franco-Zeit. Auch in diesem Streifen nähert sich Almodóvar einem anderen Bild von Familie. Da ist die selbstbewusste Lola, die ihre Schwester liebt und sich deshalb ständig um sie sorgt, weil sie befürchtet, Marina könne wieder den Drogen verfallen; dann Ricky, der auf der Suche nach einer Frau zunächst das Stadium der Suche nach einer Mutter durchlebt, die er nie gehabt hat; und Marina, deren Beziehungen zu Männern immer oberflächlich und flüchtig waren. Ihre Geschichte im Film ist so etwas wie die Geschichte der Bildung einer anderen Art von Familie.

Máximo, der durch einen Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselte Regisseur, der nicht mehr lange zu leben hat, ist der Kontrast zu dieser neuen Familie. Er ist noch verhaftet in der alten Mentalität, verwirft einzelne Szenen seines Horrorfilms immer wieder, kommt nicht zum Ende, eine gescheiterte Existenz, für den der Traum von der Liebe sich im Betrachten von alten Pornovideos mit Marina erschöpft. Er ist von der Sehnsucht getrieben, Marina zu besitzen, weil sie gut aussieht.

Als Lola nach Abschluss der Dreharbeiten auf einer Feier des Filmteams singt und tanzt, sagt er zu ihr, sie habe einen schönen Arsch, wenn nur nicht ihr Gesicht wäre. Máximo ist der Prototyp des Mannes, der von jeder Frau ihr tatsächlich oder vermeintlich Bestes will, der das für sich allein als sein Besitz herausschneiden will. Er ist der eigentlich Gefesselte. Und er wird seine Fesseln nie wieder ablegen können.

Fazit

Victoria Abril, Antonio Banderas und Loles León gehen – wie in Almodóvars Filmen unvermeidlich – in ihren Rollen auf. Sie passen. In gewisser Weise ist »Fessle mich!« eine Vorstufe zu »Alles über meine Mutter«. Beide Filme sind sich nicht nur in ihrer Thematik sehr ähnlich. Auch in »¡Átame!« gibt es diese Kraft der Frauen – bis hin zur Kraft des Verzeihens. In »Alles über meine Mutter« sind Manuela und der kleine Esteban das Produkt und Vehikel der Hoffnung, in »¡Átame!« die Familie Marina, Ricky und Lola.

Ulrich Behrens

Fussnoten:

(1) Pedro Almodóvar, Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein Gespräch mit Frédéric Strauss, Frankfurt am Main 1998, S.118

Fessle mich!

Spanien

1990

-

111 min.

Regie: Pedro Almodóvar

Drehbuch: Pedro Almodóvar, Yuyi Beringola

Darsteller: Victoria Abril, Antonio Banderas, Loles León

Produktion: Pedro Almodóvar, Enrique Posner

Musik: Ennio Morricone

Kamera: José Luis Alcaine

Schnitt: José Salcedo