Es war einmal in Amerika Cineastisches Meisterwerk

Kultur

18. November 2018

Dieser phantastische und zugleich doch auch knallhart realistische Film gehört definitiv zu einen der verkannten Meisterstücken der Filmgeschichte.

Robert De Niro an einer Pressekonferenz bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 1998.
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Robert De Niro an einer Pressekonferenz bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 1998. Foto: Agon S. Buchholz (Asb) (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

18. November 2018
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Die Filmgeschichte kennt einige mehr oder weniger grosse epische Erzählungen, Geschichten, die von mehr erzählen als einem Thema, die die Handlung nicht auf einen relativ engen Zeitraum fokussieren, sondern in die Breite gehen, die wirklich etwas zu sagen haben und in denen man – je nach Geschmack, Einfühlungsvermögen, emotionalem Zugang usw. – immer wieder neue Gesichtspunkte zu entdecken vermag, je öfter man sie in sich aufnimmt.

Die Trilogie „Der Pate“ gehört zu diesen Epen, aber auch „kleinere“ Filme wie Scorseses „GoodFellas“ und Leones „Es war einmal in Amerika“, der auf DVD in einer 220-Minuten-Fassung zu erwerben ist – unzerstückelt beispielsweise gegenüber der amerikanischen Kinofassung, die „nur“ zwei Stunden lang war und von allen tatsächlichen oder vermeintlichen „antiamerikanischen“ Szenen befreit gewesen sein soll, und auch kohärenter als die deutsche Kinofassung. Leone soll sein Werk ursprünglich in zwei Teilen auf rund sechs Stunden geplant haben. Doch da machten Produktions- und Verleihfirma nicht mit.

Der Film beruht auf dem autobiografischen Roman „The Hoods“ von Harry Grey, der tagebuchähnlich in Ich-Form die Geschichte eines Gangsters erzählt.

„Es war einmal ...“ – Was sich wie der Anfang eines Märchens anhört, gestaltet sich im Laufe der immerhin 220 Minuten tatsächlich als eine Mixtur aus realistisch und phantastisch erscheinenden Begebenheiten, Erinnerungen eines alten Mannes, der 35 Jahre nach dem Tod eines seiner Jugendfreunde nach New York an die Schauplätze seiner Jugend und seines frühen Erwachsenenlebens zurückkehrt. David Aaronson (Robert De Niro), genannt Noodles, besucht einen seiner vier Freunde, Fat Moe Gelly (Larry Rapp), offenbar der einzige Überlebende neben ihm. Denn Maximilian „Max“ Bercovisz (James Woods), Philip „Cockeye“ Stein (William Forsythe) und Patrick „Patsy“ Goldberg (James Hayden) wurden 1933 bei einem Polizeieinsatz erschossen. Eine Gedenkstätte auf einem New Yorker Friedhof, die Noodles gestiftet hat, erinnert an seine Freunde.

Die vier wachsen Ende der 20er Jahre in der Lower East Side auf. Schon früh nehmen sie sich vor, nicht ihr Leben lang arm zu bleiben und wie ihre Eltern tagein tagaus für nichts zu schuften. Kleine Gaunereien sind die ersten Vergehen der Jugendbande. Als sie mit der Gang von Bugsy (James Russo) zusammenstossen, will der die Konkurrenz aus dem Weg räumen. Er erschiesst den jungen Dominic (Noah Moazezi), der in den Armen von Noodles mit den Worten stirbt „Ich kann nicht mehr“. Noodles ersticht Bugsy und einen der beiden herbeieilenden Polizisten. Zehn Jahre muss er dafür ins Gefängnis.

Als Max Noodles nach dieser Zeit aus dem Gefängnis abholt, zeigt er ihm stolz, wie sich die anderen in der Zwischenzeit eine gut funktionierende Organisation aufgebaut haben: Bar, Restaurant, Spielhölle – das sind die Orte, von denen aus Max und die anderen operieren, auch und vor allem im Alkoholgeschäft während der Prohibition. Als sie von den Minaldi-Brüdern (Joe Pesci, Burt Young) aus Chicago den Auftrag erhalten, Diamanten zu stehlen, nehmen sie nicht nur den Auftrag an; sie beseitigen bei der Übergabe der wertvollen Beute auch gleich ihre Auftraggeber.

In Konkurrenz zu anderen Gangs unterstützen sie streikende Arbeiter unter Leitung von James O'Donnell (Treat Williams) – für eine angemessene Bezahlung durch die Gewerkschaften selbstverständlich. Um den Polizeichef, der auf seiten der Arbeitgeber steht und Streikbrecher gegen die Arbeiter unterstützt, zu neutralisieren, tauschen sie im Krankenhaus das gerade geborene Baby des Polizisten gegen ein anderes aus, versuchen ihn zu erpressen.

Die Geschäfte gehen gut. Für Noodles allerdings bleibt ein Wunsch unerfüllt. Seit seiner Jugend ist er in die Schwester Fat Moes, Deborah (Elizabeth McGovern), verliebt, die seine Gefühle auch jetzt zwar erwidert, sich aber dafür entscheidet, nach Hollywood zu gehen, um Schauspielerin zu werden. Während Noodles mit der Situation im Milieu nicht mehr fertig zu werden scheint, versucht Max, der immer skrupelloser wird, durch den Coup seines Lebens zu Reichtum zu kommen. Gemeinsam mit Max Freundin Carol (Tuesday Weld) versucht Noodles, Max an der Durchführung des halsbrecherischen Einbruchs zu hindern. Er informiert die Polizei, um seinen Freund vor dem Schlimmsten zu bewahren. Die Polizei allerdings erschiesst Max, Cockeye und Patsy. Als Noodles dies erfährt, taucht er unter. Erst 35 Jahre später kehrt er nach New York zurück, findet auf dem Friedhof am Grab seiner Freunde einen Schliessfachschlüssel, der ihn zu einem längst verloren geglaubtem Koffer mit Geld führt, und erhält eine merkwürdige Einladung zu einer Party eines gewissen Senator Bailey, der jetzt mit Deborah zusammenlebt ...

Der amerikanische Filmkritiker Richard Schickel vom Time Magazin meint, Leones „Once Upon a Time ...“ sei kaum als realistischer Rückblick eines alten Mannes auf seine Vergangenheit zu bewerten. Der Film sei eine einzige Phantasie, Noodles Phantasie über sein Leben. Schickel kann sich dabei durchaus auf Momente des Films stützen, etwa, dass er mit Noodles Aufenthalt in einer Opiumhölle in Chinatown beginnt und endet. Ich bin etwas anderer Meinung. Leone lässt den Film in einer Mischung aus Rückblenden und Gegenwartshandlung aus der Erzählperspektive Noodles abspielen.

Eine ganze Reihe von Haupt- und Nebenhandlungen fügt Leone zu einem reichen, intensiven, oft prallen Bild einer Epoche zusammen, ohne dass der Film – wie in der amerikanischen Kinofassung – zerstückelt wirken würde. Der Film erscheint tatsächlich teilweise als Traum, als Phantasie, ist dann aber wiederum etwa bei der Schilderung der Jugend der Gangmitglieder, bei ihren späteren Geschäften in der Zeit der Prohibition und auch während der Besuche Noodles als alter Mann an den Stätten der Vergangenheit durchaus realistisch.

Der Film handelt von Erinnerungen, von der Bedeutung von Erinnerungen für die Subjektivität eines Menschen (Noodles), von der Bewertung des eigenen Lebens, und auch und vor allem von Schuld und Sühne, von Liebe und Gewalt, von Hass und Scheitern, von Erfolg und Enttäuschung, von Menschen, die als Kinder und Jugendliche eng befreundet waren, sich dann nach und nach, erst fast unmerklich, dann deutlich sichtbar auseinander entwickeln. Während für Max Freundschaft z.B. immer mehr zu einem taktischen Instrument verkommt, versucht Noodles – im Bewusstsein der Tragik der Entscheidungen, die Max trifft – seinem Freund das Leben zu retten, indem er ihn an die Polizei verrät. Er und Carol sind sich einig, dass ein paar Jahre Gefängnis nicht so schlimm sind wie der Tod.

Was an Noodles Erinnerungen real und was möglicherweise eher der Phantasie entspringt, kann man kaum ausmachen, ist aber meines Erachtens auch unwichtig. Denn über die „nackten Fakten“ hinaus blickt jeder auf sein Leben durch die „Brille“ der Erinnerung, und das heisst der Bewertung der für ihn oder sie bedeutsamen Ereignisse – im positiven wie negativen Sinn. „Es war einmal ...“ veranschaulicht auf eine erschütternde und zugleich überzeugende Art und Weise, wie sich jeder Mensch „seine Welt“ baut, in bezug auf sich selbst wie auf andere. Insofern ist die Frage nach Phantasie und Realität geradezu eine Fangfrage.

Die Haupthandlung des Films ist die Verbrecherkarriere von fünf Freunden und ihr Scheitern. Aber daneben handelt „Es war einmal ...“ auch von anderem, vor allem von emotionalen Beziehungen. Dazu zählen die unerfüllte Liebe Noodles zu Deborah, die Karriere von Max nach seinem „Tod“ (Noodles irrte nämlich in der Annahme, Max sei bei dem Polizeieinsatz ums Leben gekommen), von der Wandlung eines ethisch einwandfreien Gewerkschaftsführers zu einem Mann, der die Dienste einer Verbrecherbande in Anspruch nimmt, von der Wandlung einer unreifen Frau, Carol, zu einer liebenden und verantwortungsbewussten Person, die Max um alles in der Welt vor dem schlimmsten bewahren will – und so weiter.

Dabei sparte Leone nicht mit einem subtilen Schuss Ironie, aber auch nicht mit Symbolik, etwa wenn minutenlang ein Telefon klingelt, das in gewisser Weise „das Schicksal“ repräsentiert. Durch das Telefon kündigen sich Tragik und Wendungen im Leben an. Ironie – das bedeutet sowohl Ironie des Schicksals (etwa der Irrtum Noodles, Max sei 1933 verbrannt), als auch etwa ein leichter Seitenhieb Leones auf das Genre selbst, wenn er z.B. den Beatles-Song „Yesterday“ als sarkastische Einlage spielen lässt.

„Es war einmal ...“ deutet auch – um auf Richard Schickels Bewertung noch einmal zurückzukommen – auf etwas anderes: auf die Sicht des Kinos in den Augen eines Regisseurs, der vor allem durch sog. „Spaghetti“-Western bekannt wurde. Denn die grossen Erzählungen der Filmgeschichte, die vorgeben, das Leben filmisch zu dramatisieren, unterliegen natürlich wie alles andere auch der Kritik, der Satire und dem selbstironischen Blick eines grossen Regisseurs. Man kann und darf das jedenfalls; und Leones Epos ist eben auch von solch unterschwelligem Zweifel bezüglich des Pathos, das das Kino unweigerlich erzeugt. Hier findet die Erinnerung Noodles noch eine andere Bedeutung, und zwar im Sinne einer sozusagen darüber sich wölbenden Erinnerung eines Regisseurs an das Kino des 20. Jahrhunderts. Man könnte „Es war einmal ...“ lesen sowohl in Parallele zu (eben als Film neben anderen), als auch als cineastischen, leicht ironischen Kommentar (eben von Regisseur zu Regisseur) zu Coppolas Paten-Trilogie oder anderen Epen dieser Art.

Für mich gehört dieser phantastische und zugleich doch auch knallhart realistische Film Leones zu den anfangs, 1984, verkannten Meisterstücken der Filmgeschichte, ein Streifen, der – das ist selten genug – bei jedem erneuten Sehen neue Gesichtspunkte aufwirft, der bewegt, so oft man ihn auch sieht.

Ulrich Behrens

Es war einmal in Amerika

Italien, USA

1984

-

165 min.

Regie: Sergio Leone

Drehbuch: Leonardo Benvenuti, Piero De Bernardi, Enrico Medioli, Franco Arcalli, Franco Ferrini, Sergio Leone

Darsteller: Robert De Niro, James Woods, Elizabeth McGovern

Produktion: Arnon Milchan, Fred Caruso

Musik: Ennio Morricone

Kamera: Tonino Delli Colli

Schnitt: Nino Baragli