Baran Liebe in schweren Zeiten

Kultur

19. April 2021

Iranische Filmemacher - die meisten davon sind Männer - haben es nie besonders leicht gehabt.

Der iranische Regisseur Majid Majidi an einer Pressekonferenz am Fajr Film Festival, Februar 2020.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Der iranische Regisseur Majid Majidi an einer Pressekonferenz am Fajr Film Festival, Februar 2020. Foto: Mohsen Abolghasem - MojNews (CC BY 4.0 cropped)

19. April 2021
3
0
6 min.
Drucken
Korrektur
Die „iranische Revolution“ brachte ihnen statt Befreiung von der Diktatur des Schahs eine vierstufige Zensur. Das Drehbuch muss genehmigt, eine Liste der Darsteller und des Filmstabs und der fertige Film müssen der Zensurbehörde vorgelegt werden und, soweit eine Genehmigung dann erteilt wird, müssen die Produzenten eines freigegebenen Films eine Vorführgenehmigung beantragen. Die Freigabe erfolgt zudem in drei Kategorien, die eine zusätzliche Zensur darstellen, da die Einordnung über die Frage entscheidet, wo für den Film geworben werden darf. Filme, in denen Frauen vorkommen oder Beziehungen zwischen Männern und Frauen dargestellt werden, dürfen keine Szenen enthalten, in denen sich Frauen und Männer auch nur die Hände halten.

Umso erstaunlicher ist, wie viele qualitativ hochwertige Filme Regisseure wie Makhmalbaf oder Rakhstan Bani-Etemad, Brahman Ghobadi oder Marzieh Meshkini produziert haben, die auch international wichtige Preise erringen konnten. Majid Majidi gehört ebenfalls zu dieser Reihe von Regisseuren. Mit „Kinder des Himmels“ und „Die Farben des Paradieses“ erzielte er internationales Ansehen und Auszeichnungen u.a. auf dem Filmfestival in Montreal. Sein Film „Baran“ wurde in Montreal und Teheran ausgezeichnet und beim New York Film Festival hoch gelobt.

„Baran“ erzählt eine Liebesgeschichte und zugleich vom Schicksal afghanischer Flüchtlinge im Iran, Millionen an der Zahl.

Lateef (Hossein Abendini), ein im Grunde arbeitsscheuer, manchmal missmutiger und scheinbar nicht sehr kluger junger Mann, arbeitet auf einer Baustelle. Arbeiter ziehen eines der vielen schmucklosen Hochhäuser in den Himmel. Und der Vorarbeiter Memar (Mohammad Amir Naji) beschäftigt etliche afghanische Flüchtlinge, darunter auch Soltan (Abbas Rahimi) und Rahmat (Zahra Bahrami), eigentlich Baran, ein junges schönes Mädchen, das Soltan als Jungen ausgibt, damit Baran für den Unterhalt ihres Vaters Najaf (Gholam Ali Bakhshi) aufkommen kann. Der hatte auf der Baustelle einen Unfall und wurde arbeitsunfähig. Weil afghanische Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen, ist Memar immer auf der Hut, wenn der Inspektor der Aufsichtsbehörde (Jafar Tawakoli) auf der Baustelle erscheint. Zudem ist er gezwungen, seine Arbeiter immer wieder mit der Lohnzahlung zu vertrösten, da die Baugesellschaft das Geld zurückhält, bis ein weiterer Bauabschnitt fertiggestellt ist.

Rahmat, klein und zierlich, erweist sich bald als unfähig, schwere Säcke zu schleppen oder andere körperlich anstrengende Arbeiten zu verrichten. So erhält er (sie, Baran) eines Tages den Job von Lateef, der die Bauarbeiter mit Essen und Tee versorgt – mehr schlecht als recht. Lateef muss dafür schwere Arbeiten auf der Baustelle ausführen. Er ist sauer, wütend auf Rahmat, verwüstet die kleine Küche. Doch Rahmat lässt sich nicht so leicht unterkriegen, kocht viel besser als Lateef – und selbst der Tee schmeckt den Arbeitern besser als der von Lateef.

Zufällig hört Lateef, der jeden Geldschein, den er von Memar erhält, in einem Versteck auf der Baustelle spart, eines Tages Gesang aus der Küche. Er sieht, wie sich Rahmat die Haare kämmt und nach oben bindet, weiss nun, dass Rahmat ein Mädchen ist: Baran. Das verändert Lateefs Leben mit einem Schlag. Er verrät Baran nicht, schützt sie, als zwei Regierungsbeamte das Mädchen verfolgen. Allerdings kann er auch nicht verhindern, dass Memar gezwungen wird, sämtliche afghanischen Arbeiter zu entlassen. Auch Soltan und Baran sind von einem Tag auf den anderen verschwunden. Lateef hat nur noch eines im Sinn: Er muss Baran finden, die ihn verzaubert zu haben scheint. Und er findet sie ...

Für europäische Augen scheint diese Geschichte nicht besonders aussergewöhnlich. Der Schein trügt. Der iranischen Gesellschaft, in der die staatlichen Stellen und religiösen Führer derart viel Gewicht legen auf die säuberliche Trennung von Mann und Frau, stellt Majidi mit „Baran“ eine Geschichte, eine leise, aber lebhafte Geschichte einer Liebe entgegen, in der Baran und Lateef nicht ein Wort miteinander wechseln, Baran im ganzen Film nicht einmal ein Wort spricht, und trotzdem zwischen beiden eine tiefe Zuneigung wächst, die zwar vor allem aus der Sicht Lateefs erzählt wird, nichtsdestoweniger aber so intensiv in Szene gesetzt wurde, dass das, was die Zensur verbietet – irgendeine Berührung zwischen Liebenden – nicht notwendig ist, um diese Geschichte glaubhaft werden zu lassen. Kein Mensch ausser Lateef und Baran weiss von dieser Beziehung zwischen den beiden.

Majidi kontrastiert die rauen Arbeits- und kargen Lebensverhältnisse der iranischen und noch mehr der afghanischen Arbeiter mit den beginnenden, von Lateef zunächst negativen Emotionen gegenüber Rahmat / Baran. Die Entdeckung, dass Rahmat Baran ist, wirkt auf Lateef wie eine Erleuchtung, ein Schicksalsschlag. Plötzlich ist für ihn alles andere unwichtig geworden, die Arbeit, der oft missmutige, etwas cholerische, aber mit viel Herz ausgestattete Memar, die Kollegen. Für ihn zählt nur noch: Baran, fast wie eine Figur aus Tausendundeiner Nacht.

Er sucht sie, findet sie, beobachtet sie, wie sie schwere Steine aus einem Flussbett schleppt, bekommt mit, welche Leiden sie, ihr Vater und Soltan hinter sich haben, wie sie um das Leben ihrer Verwandten in der Heimat Afghanistan zittern müssen, wie äusserst bescheiden sie leben und so weiter. Lateef lügt Memar an, um seinen restlichen Lohn zu bekommen, gibt das ganze Geld Soltan, kauft Krücken für Najaf.

Der Weg, den Lateef geht, ist dem offiziellen Verständnis der Geschlechterbeziehungen und entsprechenden Verboten entgegengesetzt, jedoch von Majidi nicht in einer plakativen, frontalen Art und Weise, sondern leise, behutsam und intensiv inszeniert. Die schönste Szene des Films: Baran muss zurück nach Afghanistan. Als sie eine Tasche mit Lebensmitteln und anderem auf ein Auto bringen will, fällt ihr die Tasche herunter. Lateef und Baran sammeln die Sachen vom Boden auf. Die Kamera zeigt ihre Hände, wie sie die Dinge aufheben, eine behutsame Annäherung. Man spürt die Nähe zwischen beiden – wiederum ohne Berührung –, eine Szene, die mehr ausdrückt als jede Liebesszene. Baran fährt nach Hause. Lateef bleibt zurück. Ihm bleibt nur der Abdruck von Barans Schuh im Matsch, der vom prasselnden Regen nach und nach verschwinden wird. Aus seinem Herzen wird Baran nie verschwinden.

„Baran“ zeigt, wie zwei Menschen in einer starren, durch ideologische und religiöse, lebensferne Vorschriften reglementierten Gesellschaft in einer Art wunderbarer Fabel zueinander finden und sich doch wieder trennen müssen. Das Gefühl füreinander aber bleibt, eine Erfahrung, die sie sicherlich beide nicht mehr missen werden.

Ulrich Behrens

Baran

Iran

2001

-

95 min.

Regie: Majid Majidi

Drehbuch: Majid Majidi

Darsteller: Hossein Abendini, Zahra Bahrami, Mohammad Amir Naji

Musik: Ahmad Pezhman

Kamera: Mohammad Davudi

Schnitt: Hassan Hassandoost