Bertolt Brecht: Die Seeräuberjenny No future for Jenny

Kultur

22. Februar 2017

Brecht hat das Gedicht «Die Seeräuberjenny» 1926 geschrieben.

Bertolt Brecht an der Friedenskundgebung des Kulturbundes am 24.10.1948 in der Deutschen Staatsoper (Admiralspalast) in Berlin.
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Bertolt Brecht an der Friedenskundgebung des Kulturbundes am 24.10.1948 in der Deutschen Staatsoper (Admiralspalast) in Berlin. Foto: image_author

22. Februar 2017
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Im selben Zeitraum wie die Ballade «Von der Kindesmörderin Marie Farrar», einer als Dienstmädchen schuftenden jungen Frau, die ihre (ungewollte) Schwangerschaft geheim hält (denn ein schwangeres Dienstmädchen wird auf die Strasse geworfen) und dann aus Verzweiflung ihr Neugeborenes umbringt.

Geschrieben wurden diese Gedichte für die 1927 erschienene «Hauspostille». Der Titel ist eine parodistische Anspielung auf christliche Predigtsammlungen, insbesondere auf die gleichnamige Sammlung von Martin Luther. Brecht hat dazu in einer Vorrede Leseanleitungen gegeben: „Diese Hauspostille ist für den Gebrauch der Leser bestimmt. Sie soll nicht sinnlos hineingefressen werden. (…) Es ist vorteilhaft, ihre Lektüre langsam und wiederholt, niemals ohne Einfalt, vorzunehmen. Aus (ihr) mag mancher Aufschluss über das Leben zu gewinnen sein.“

Brecht hat die «Seeräuberjenny» wenige Jahre später in seine «Dreigroschenoper» eingebaut. Hier dient das Gedicht als Unterhaltungseinlage zur Hochzeit des mafiosen Gangsterbosses Macheath mit Polly, der Tochter des ebenso mafiosen Chefs der Bettlerbande Peachum. Polly selbst singt dieses Lied. Sie klärt zuvor die Gäste über das Milieu auf, in dem Jenny arbeitet, und weist sie an, wie sie dazu beitragen sollen, die Szene bühnengerecht zu gestalten:

So, das ist die kleine Theke, Sie müssen sie sich verdammt schmutzig vorstellen. Das ist der Spüleimer und das ist der Lappen, mit dem sie die Gläser abwusch. Wo Sie sitzen, sassen die Herren, die über sie lachten. Jetzt sagt zum Beispiel einer von Ihnen – auf Walther deutend – Sie: Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny? – Walther: Na, wann kommt denn dein Schiff, Jenny?“ Und ein anderer sagt: „Wäschst du immer noch die Gläser auf, du Jenny, die Seeräuberbraut?“ (…) So, und jetzt fange ich an.

Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen
Und ich mache das Bett für jeden.
Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell
Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel
Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden.
Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen
Und man fragt: „Was ist das für ein Geschrei?“
Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern
Und man sagt: „Was lächelt die dabei?“
Und ein Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird liegen am Kai.

Man sagt: „Geh, wisch deine Gläser, mein Kind“
Und man reicht mir den Penny hin.
Und der Penny wird genommen, und das Bett wird gemacht
Es wird keiner mehr drin schlafen in dieser Nacht.
Und sie wissen immer noch nicht, wer ich bin.
Aber eines Abends wird ein Getös sein am Hafen
Und man fragt: „Was ist das für ein Getös?“
Und man wird mich stehen sehn hinterm Fenster
Und man fragt: „Was lächelt die so bös?“
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird beschiessen die Stadt.

Meine Herren, da wird ihr Lachen aufhören
Denn die Mauern werden fallen hin
Und die Stadt wird gemacht dem Erdboden gleich
Nur ein lumpiges Hotel wird verschont von dem Streich
Und man fragt: „Wer wohnt Besonderer darin?“
Und in dieser Nacht wird ein Geschrei um das Hotel sein
Und man fragt: „Warum wird das Hotel verschont?“
Und man wird mich sehen treten aus der Tür gen Morgen
Und man sagt: „Die hat darin gewohnt?“
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird beflaggen den Mast.

Und es werden kommen Hundert gen Mittag an Land
Und werden in den Schatten treten
Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür
Und legen ihn in Ketten und bringen zu mir
Und mich fragen: „Welchen sollen wir töten?“
Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen
Wenn man fragt, wer wohl sterben muss
Und dann werden Sie mich sagen hören: „Alle!“
Und wenn dann der Kopf fällt, sage ich: „Hoppla!“
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird entschwinden mit mir.

Jenny, etwa 16 bis 17 Jahre alt, möglicherweise schon ebenso reizlos wie jene Dienstmagd Marie Farrar und wie sie ebenfalls der von Marx abfällig bezeichneten Schicht des „Lumpenproletariats“ zugehörig, Jenny, so erzählt die Ballade, arbeitet vormittags als Stubenmädchen in einem lumpigen Hotel am Hafen, mittags und abends als Thekenmädchen in der dem Hotel angeschlossenen Kaschemme, sicherlich schlecht bezahlt, wäscht die Gläser, bedient die Gäste, Hafenarbeiter, Seemänner, Scheuerleute, muss sich von ihnen allerlei Zoten und Grapschereien gefallen lassen, darf sich aber darüber nicht beschweren, muss vielmehr, um nicht als verklemmt dazustehen, das johlende Gelächter mit gespielter Gelassenheit ertragen – diese Jenny erträgt ihre trostlose Gegenwart, in der sie lebenslang und ausweglos eingesperrt sein wird, nur durch die Flucht in eine phantasierte Zukunft.

Jennys Tagtraum

Sie trägt eine geheime Verheissung in sich, vergleichbar der biblischen Geheimen Offenbarung des frühchristlichen Propheten Johannes, verfasst gegen Ende des 1. Jahrhunderts n.u.Z., die Schrift wird auch Apokalypse genannt, was auf deutsch „Enthüllung“ bedeutet. Offenbart wird hier die Bestrafung der Missetäter am Ende der Welt und die erlösende Aufnahme der Leidenden und Auserwählten in einem himmlischen Jerusalem als einem Reich, von dem ihnen verheissen wird: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei und Schmerz. (Offb. 21,4)

Als auserwählt betrachtet sich auch Jenny, doch gibt sie sich nicht als solche zu erkennen und verbirgt vor den Gästen ihre höhere Bestimmung, verrichtet, innerlich hasserfüllt, äusserlich aber gleichmütig ihre Arbeit, und redet insgeheim für sich zu den Gästen: Und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel / Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden.

Die Geheime Offenbarung kündet von einem Buch mit sieben Siegeln, das am Ende der Zeiten aufgeschlagen wird. Die ersten vier verkünden das Erscheinen von Reitern auf verschiedenfarbigen Pferden, ausgestattet mit Waffen und der Waage der Gerechtigkeit, Reitern, die Furcht und Schrecken unter den Menschen verbreiten. Hier im Gedicht ist es ein Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen. Das ist kein gewöhnliches Piratenschiff, das kaum mehr als zwei Masten hat, sondern ein Schiff mit acht Segeln ist ein gewaltiger Viermaster und ein seltener und erhabener Anblick, und mit einer Artillerie von fünfzig Kanonen ist es ein veritables Kriegsschiff, das da am Kai anlegt.

Als dies sich ereignet, lächelt Jenny vielsagend, sodass sich die Gäste fragen: Was lächelt die dabei? Sie verrichtet weiter ihre Arbeit, wischt die Gläser, macht die Betten, doch weiss sie: Es wird keiner mehr drin schlafen in dieser Nacht. Sie wiegt sich in der Erwartung des Kommenden und geniesst ihr geheimes Wissen: Und sie wissen immer noch nicht, wer ich bin. Doch wenn am Abend ein Getös sein (wird) am Hafen, weil das Schiff mit seinen Kanonen die Stadt beschiesst, dann wird man sie stehen sehn hinterm Fenster / Und man fragt: Was lächelt die so bös?

Sie wird böse, denn der Wunsch nach Vergeltung für die niederdrückende Hoffnungslosigkeit ihrer Existenz und die erlittenen Demütigungen lodert auf zu einer Rachephantasie: Die Stadt wird gemacht dem Erdboden gleich, und nur ein lumpiges Hotel wird verschont von jedem Streich, sodass jeder fragt: Wer wohnt Besonderer darin? Und dann wird sie ihr Geheimnis enthüllen: Gleich einem biblischen Würgeengel wird sie treten aus der Tür gen Morgen, und alle werden entgeistert sagen: Die hat darin gewohnt? Diese Wahnvorstellung mag man als neurotisch bezeichnen. Aber was erklärt das?

Jenny läuft Amok

Ihre sadistische Rache- und Allmachtsphantasie, mit der sie verfügt, dass Alle! sterben müssen, gewinnt ihre Schreckensgewalt aus der Geheimen Offenbarung. Nach dem Erscheinen der vier apokalyptischen Reiter werden die weiteren Siegel des Buches geöffnet, die sieben Schalen des Zorns Gottes werden über die Menschheit ausgegossen, und sieben Engel blasen ihre Posaunen: Es sind Posaunen wie die, welche einst die Mauern von Jericho einstürzen liessen, so wie hier von den fünfzig Kanonen die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wird. Jennys Redeweise, die zunächst in einem schlichten Umgangston gehalten ist, erhebt sich zu einer feierlich-pathetischen Höhe, die den Duktus der Geheimen Offenbarung nachahmt; und dieser wird noch durch die anaphorisch einleitenden Kopula und sowie den wuchtigen parataktischen Gleichlauf der Sätze schicksalhaft drohend verstärkt. So heisst es im 8. Kapitel der Apokalypse:

Und die sieben Engel mit ihren sieben Posaunen hatten sich gerüstet. Und der erste Engel posaunte: Und es ward ein Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, und fiel auf die Erde. Und der zweite Engel posaunte: Und es fuhr wie ein grosser Berg mit Feuer brennend ins Meer; und der dritte Teil des Meeres ward Blut. Und der dritte Engel posaunte: Und es fiel ein grosser Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel. Und der vierte Engel posaunte: Und es ward geschlagen der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der Sterne Und ich sah und hörte einen Engel fliegen durch den Himmel und tönen mit grosser Stimme: Weh, weh, wehe denen, die auf Erden wohnen! (Offb. 8,6 ff.)

Statt der Engel ist es hier eine Hundertschaft von Männern, die gen Mittag an Land (kommen) / Und werden in den Schatten treten / Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür / Und legen in Ketten und bringen ihn zu mir / Und fragen: „Welchen sollen wir töten?“ Das ist nicht die Redeweise eines armen Thekenmädchens, das ist der Ton der Lutherbibel. Man wird sie sehen treten aus der Tür gen Morgen, wie es im Jakobusbrief (5,9) heisst: Siehe, der Richter ist vor der Tür, und im Psalm (30,6): Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens ist Freude. Die hundert Männer, die mit ihrem gewaltigen Schiff zu ihrer Rettung herbeigesegelt sind, kommen gen Mittag an Land, wenn also die Sonne am höchsten steht und brennt, und werden in den Schatten treten: Aber der Schatten ist hier nichts Bedrohliches, sondern das Bild spielt an auf den Schatten Gottes, der dem Menschen Schutz bietet, wie es beim Propheten Jesaja (49,2) heisst: Mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt, oder im Psalm 36,8: Mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt, oder im Psalm 36,8: Wie teuer ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! Die rächenden Männer fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür, wie der Prophet Jeremia von Gott weissagt: Ich, der Herr, gebe einem jeglichen nach seinem Tun (Jer. 17,10), und der Psalm (62,13) Gottes Gerechtigkeit bekräftigt: Du bezahlst einem jeglichen, wie er's verdient.

Brecht verfährt hier dichterisch ebenso wie Goethe, der im Faust in der Szene Gretchen am Spinnrad (Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer) Margarete, ein einfaches Bürgermädchen, in ihrer sehnsüchtigen Erinnerung an den geliebten Faust zur Sprachhöhe des Hohenlieds Salomonis sich aufschwingen lässt: Nach ihm nur schau ich / Zum Fenster hinaus, / Nach ihm nur geh ich / Aus dem Haus (Faust I, 3390 ff.) – Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Strassen und suchen, den meine Seele liebt (Hoheslied 3,2). Rüde durchbrochen allerdings wird der hohe Ton bei Brecht durch das saloppe Hoppla! beim Fallen des abgehauenen Kopfes. Das ist eben Brecht.

Jennys Reise ins Glück

Jennys Reise ins Glück
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird entschwinden mit mir.
Wahn und Wirklichkeit

„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. (…) Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volks ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. (…) Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde.“ Karl Marx: Zur Kritik der Hegel'schen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844)

Epilog

Muhammad D., 27 Jahre alt, hat am 24. Juli 2016 in Ansbach bei einem Musikfestival einen Selbstmordanschlag verübt, bei dem er 15 Menschen verletzte, drei davon schwer, und er selbst den Tod fand. Dies sind die Stationen seines Lebenswegs: Syrer, gute Schulbildung, seine Frau und sein Kind bei einem Bombenangriff getötet; er wird schwer gefoltert und zum Anschauen von Folterungen und Ermordungen gezwungen; Flucht aus Syrien zunächst nach Serbien, wo er von der Polizei nach Bulgarien weitergeschickt wird, dort als Flüchtling registriert; Granatsplitter in den Kniegelenken diagnostiziert, diese schmerzen, werden aber nicht operiert; im bulgarischen Gefängnis nach Misshandlungen und Einzelhaft auf die Strasse gesetzt; Weiterreise nach Deutschland, Asylantrag abgelehnt, da bereits in Bulgarien registriert, Abschiebung nach Bulgarien verfügt; er ritzt sich die Arme blutig, zertrümmert ein Waschbecken, begeht zwei Suizidversuche, wird danach in der Psychiatrischen Klinik Ansbach untergebracht; nach dem Ende der Therapie wird eine neue beantragt.

„Das letzte halbe Jahr, in dem er auf eine Verlängerung gewartet hat, da muss etwas passiert sein“, sagt sein Therapeut. Muhammad hat Verbindung zum IS und bezeichnet sich als Kämpfer Allahs. Auf seinem Handy wird ein Video gefunden, auf dem er dem IS-Führer Abu Bakr al-Badadi die Treue schwört. Jedoch stellt sein Therapeut fest: „Was Muhammad da als Bekenntnis zum IS wiedergibt, klingt für mich schon sehr auswendig gelernt. Diese Sätze passen einfach nicht auf ihn.“ Es habe keinerlei Hinweise gegeben, dass er gegenüber anderen Menschen Aggressionen hege. (Quellen: Süddeutsche Zeitung, 27.7.2016; Die Zeit, 28.7.2016)

Hermann Engster
streifzuege.org