Soziale Kämpfe und die Anliegen der Verlierer ins Bewusstsein rücken Kein Ende der Geschichte

Gesellschaft

17. Oktober 2016

Während einmal mehr das Ende der Geschichte besungen wird, scheint es drängender denn je, ein Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, das nicht zuletzt ein politisches Bewusstsein ist – für die sozialen Kämpfe um Gerechtigkeit sowie Gleichheit und für die Erfahrungen der Verliererinnen und Verlierer.

Wenn man die furchtbaren Toten, die in fast vierzig Jahren an den Grenzen der DDR ums Leben kamen, mit jenen vergleicht, die nur an einem einzigen Tag vor einer griechischen Insel ertrinken, kommt man zu realistischen Urteilen über die gegenwärtigen Verhältnisse.
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Wenn man die furchtbaren Toten, die in fast vierzig Jahren an den Grenzen der DDR ums Leben kamen, mit jenen vergleicht, die nur an einem einzigen Tag vor einer griechischen Insel ertrinken, kommt man zu realistischen Urteilen über die gegenwärtigen Verhältnisse. Foto: / Jochims (CC BY-SA 2.0 cropped)

17. Oktober 2016
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Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki unternimmt eine Bestandsaufnahme und formuliert drei Thesen.

Geschichte ist eine haarsträubende Ansammlung von Fabeln. Meistens werden sie gebraucht, um sich aus einer Gegenwart flüchten zu können, die viel zu unübersichtlich und komplex erscheint. Der Gegenwartsschock, wie der Gesellschaftskritiker Douglas Rushkoff diese Erfahrung nennt, ist dieser Tage besonders stark ausgeprägt, was auch daran liegt, dass die zunehmende Komplexität und Unübersichtlichkeit durch einen 24/7-Echtzeitmedienraum ins Unermessliche vervielfacht wird: Alles findet gleichzeitig im digitalen Jetzt statt.

Vor diesem Hintergrund gewinnt sicherlich nicht zufällig die Idee an Bedeutung, dass die Gesellschaft auf Algorithmen und Big Data angewiesen ist. Dabei repräsentiert Big Data eine wildwuchernde Zivilisation, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigt, während Algorithmen für jene post-humane Intelligenz stehen, die allein in der Lage ist, diesem Zustand einen Sinn abzuringen. Mehr noch: Sie soll in der Lage sein, ein weitgehend unfehlbares Zukunftsprogramm zu entwerfen – auf der Basis von umfassenden Analysen der Vergangenheit und Gegenwart. Wow!

In diesem Klima wird einmal mehr das Ende der Geschichte ausgerufen – beispielsweise in Publikationen wie Post-Gegenwart oder Absolute Gegenwart. Doch selbst wenn tatsächlich etwas zu Ende geht, so bringt dies auch zugleich einen Neuanfang mit sich. Einen Moment also, der eine Neubestimmung fordert, insbesondere von Geschichte jenseits der Fabel-Fabrikation. Geschichte könnte stattdessen als etwas imaginiert werden, das, wie der Prozess-Philosoph A.N. Whitehead vorschlägt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Geschichtsbewusstsein wäre hier nicht zuletzt ein politisches Bewusstsein für die sozialen Kämpfe um Gerechtigkeit sowie Gleichheit und somit auch für die Anliegen sowie Erfahrungen der Verliererinnen und Verlierer.

Frank Castorf hat zu einer solchen Neubestimmung der Geschichte und des Geschichtsbewusstseins zahlreiche Impulse geliefert. Nicht nur als “Grosskünstler vom Range eines Picasso für das Theater”, wie es bei der Laudatio zum Grossen Kunstpreis Berlin zu Beginn dieses Jahres hiess, sondern auch als Kommentator und Diagnostiker einer Gesellschaft, die stets eine wichtige Reibungsfläche für seine künstlerische Arbeit war und ist. Ich werde im Folgenden drei Thesen aufstellen und dabei immer wieder versuchen seine Position fruchtbar zu machen. Im Fokus steht das Verhältnis der Gegenwart zur Wende- und unmittelbaren Nachwende-Zeit (bekanntlich eine Zeit, in der Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausgerufen hatte).

1. Geschichte als Prozess ist zyklisch. Selbst, wenn man die Mikro- und Makro-Zyklen nicht fassen kann, weil sie zu gross oder zu klein sind, so kann man doch versuchen Meso-Zyklen zu fassen, um besser zu verstehen, was in der Gegenwart läuft. 1989 fallen Mauern, heute werden neue Mauern gebaut. So scheint sich ein Kreis zu schliessen. Doch da ist mehr. Frank Castorf weiss in einem Gespräch mit Frank Raddatz zu berichten, dass “wir uns in einem Durchgangsstadium befinden, von dem, was war – einem zufälligen Zustand – hin zu etwas, das diese Gesellschaft letztlich nur aus Angst und einer entsprechenden Abwehrhaltung nicht sehen will. Deshalb stellt man Mauern auf. Wenn man in Europa vor einiger Zeit Mauern eingerissen hat, baut man heute sehr viel höhere, die für diejenigen, die versuchen, diese Mauern zu überwinden, lebensgefährlich sind.”

Castorf weiter: “Wenn man die furchtbaren Toten, die in fast vierzig Jahren an den Grenzen der DDR ums Leben kamen, mit jenen vergleicht, die nur an einem einzigen Tag vor einer griechischen Insel ertrinken, kommt man zu realistischen Urteilen über die gegenwärtigen Verhältnisse. Diese historische Tatsache meint die Plattitüde von der Festung Europa. Dass diese Relationen im öffentlichen Bewusstsein keine Rolle spielen, erklärt sich damit, dass wir offenbar unterschiedliche Wertigkeiten, unterschiedliche Massnahmen akzeptieren, wenn jemand einer anderen Ethnie angehört. Schon seit Jahren ist von den Menschenrechten überhaupt keine Rede mehr.”

Der Blick auf 1989 ermöglicht also, über den Sinn und Zweck von Grenzen in neuer Weise nachzudenken. Was dabei nicht ausgeblendet werden kann: Ein gespenstischer Konsens – damals wie heute. Damals kontra, heute pro Mauern. Kaum Widerworte. Eine gesellschaftliche Debatte: Nicht in Sicht! Ist die Welt ohne Mauern, die man vor zwei Dekaden einhellig feiern konnte, so schnell nicht mehr aktuell? Es sollte stutzig machen. Es gilt den Konsens von gestern und von heute in Frage zu stellen.

So bedarf es einer kontroversen Auseinandersetzung über Grenzen. Die anarchistische Position zur Abschaffung aller Grenzen mag naiv anmuten, doch sie muss gehört werden. Linke Denker wie Régis Debray oder Konrad Liessmann, die ein “Lob der Grenzen” singen, mögen überraschen und einem Rechtsdenken verfallen sein, doch auch sie gilt es zu hören. Ein offener Konflikt, der zunächst lokal, regional sowie national, und dann schliesslich in der vielstimmigen Weltgesellschaft ausgetragen werden sollte.

2. Gesellschaften können epochenmachende Veränderungen nur durch ein historisches Bewusstsein angemessen verarbeiten. Was nicht heissen soll, dass die Gegenwart ein Produkt der Vergangenheit ist. So monokausal funktioniert die Welt dann doch nicht. Aber die “Quittung” kommt manchmal erst mit einer gewissen Verzögerung an. Zwischendurch ahnt man etwas, dann vergisst man es wieder. Konsequenzen für Fehler etwa, die in der Wende- und Nachwende-Zeite gemacht worden sind, sind heute spürbarer denn je. Doch werden sie entsprechend bearbeitet? Die Vehemenz und Aggressivität, mit der Pegida, AfD und Rechtsterror das Land rocken und dabei ihre Kraft aus dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR beziehen, können jedenfalls nicht geleugnet werden.

Man muss dem Feind in die Augen schauen – ein Blick, der sich auch in die Vergangenheit richten sollte. Wie konnte es dazu kommen? Doch nicht nur, um den Ursachen nachzuspüren. Sondern auch, um zu verstehen, inwiefern die damaligen Fehler heute wiederholt werden. Für Frank Castorf sind die Ost-Deutschen in einem Gespräch, dass er Mitte der 1990er mit Hans-Dieter Schütt führt, “siebzehn Millionen Separatisten, nicht berechenbare Menschen, die ganz schnell in der Lage sind zu sagen, ich will jetzt dies oder das.”

“Ich denke”, so Castorf weiter: “Nachdem sie nicht bekommen haben, was ihnen versprochen wurde und was ihnen die reiche Westgesellschaft suggeriert hat, werden sie wieder in ihren tiefsten kleinbürgerlichen Egoismus zurückfallen und den Liebesentzug, der hier auch ein Konsumentzug ist, bestrafen wollen. Und das kann dann durch politische Aktionen: dadurch nämlich, dass man den politischen Gegner wählt, der am meisten weh tut. Egal, ob das ganz nach links oder ganz nach rechts geht.”

Dann macht Castorf noch einen wichtigen Punkt: “Das Schlimme ist in Deutschland, dass nicht akzeptiert wird, wenn Anderes weiterlebt. Fremde psychologische Konditionierungen stören.” Und er gibt zu verstehen: “Es fällt mir schwer, mich mit grosser Unbedenklichkeit und Endgültigkeit einem Gesellschaftsprogramm anzuschliessen, dass andere Wirklichkeitserfahrungen ausklammert.” Damit legt er seinen Finger auf die Wunde. Statt seinen Horizont zu erweitern, statt sich neu zu erfinden, skaliert Deutschland einfach nur sein System, als es nach 1989 siebzehn Millionen neue Bürger aufnimmt.

Derselbe Ansatz wird auch heute verfolgt im Angesicht von Millionen Schutzsuchender aus Syrien, Irak oder Afghanistan. Der Zorn der Pegida-, AfD- und Rechtsterror-Akteure richtet sich gegen die Neuankömmlige. Doch die eigentlichen Gründe für den Zorn liegen woanders: Merkel-Deutschland versäumt es eine Geschichte des Landes zu entwerfen und zwar mit einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in der “andere Wirklichkeitserfahrungen” und “fremde psychologische Konditionierungen” nicht stören, sondern bereichernd wirken. Ausgeschlossen werden dadurch sowohl die schärfsten Gegner der Geflüchteten als auch die Geflüchteten selbst.

3. Statt Besitzstandswahrung sollten wir Geschichtsbewusstsein kultivieren. Anders gesagt: Statt Besitzstandswahrung zu kultivieren, sollte man sich fragen, wie man erreichen konnte, was man hat. Doch, wie Frank Castorf bei seiner Dankesrede für den Grossen Kunstpreis Berlin 2016 sagt: “Wir vergessen gerne, woher wir kommen und was der Aufbau unserer freiheitlichen Grundordnung am Anfang gekostet hat, wie lange es dann noch dauerte, bis das entstand, was wir der Welt immer noch als demokratische Glückseeligkeit verkaufen wollen, obwohl es schon längst nicht funktioniert.”

Dabei sind der Mauerfall und die Wiedervereinigung vielleicht genau jene Momente, in denen beides spürbar ist: Einerseits die hohen Kosten, um die freiheitliche Grundordnung auf- und ausbauen zu können. Andererseits die Desillusionierung gegenüber der freiheitlichen Grundordnung selbst. Als die Mauer fällt, findet die wohl grösste Revolution des 20. Jahrhunderts in Europa ihr glückliches Ende. Gleichzeitig ist die Veränderung hin zu einer freiheitlichen Grundordnung keineswegs vergleichbar mit den Folgen von 1789 – was Ausmass und Tragweite anbetrifft. 1989 haben liberté, égalité und fraternité nicht mehr die gleiche Strahlkraft, vielleicht auch, weil sie nicht so inbrünstig wie vor 200 Hundert Jahren erkämpft werden müssen.

Nachdem Castorf 1992 die Intendanz der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz übernimmt, setzt er zwei Jahre später Bertold Brechts “Der gute Mensch von Sezuan” auf das Programm. Für die Premiere wird ein gigantisches Logo auf das Dach des Theaters installiert: OST. Es steht für die Zigarettenmarke, die von den Arbeitern in der Tabakfabrik hergestellt wird. Als die nächste Premiere naht, steht das Logo da auch noch, bis heute. Längst ist der Anlass seiner Installation vergessen, doch es ist inzwischen ein inoffizielles Markenzeichen der Volksbühne geworden.

Ost, wie Ost-Deutschland? Ost, wie Ost-Europa? Ost, wie die Himmelsrichtung? Oder Ost als Kontrapunkt zu dem omnipräsenten Narrativ des Westens? Wahrscheinlich steht das OST für all das und noch viel mehr. Etwa auch für den globalen Osten, der in der Globalisierungskritik neben dem globalen Süden als eine kritische Grösse für das durch Eroberungs- und Expansionsprozesse zum Schweigen Gebrachte registriert werden muss.

So oder so, eine Projektionsfläche für “andere Wirklichkeitserfahrungen” und “fremde psychologische Konditionierungen”, die um 1989 besonders spürbar waren und welche die Volksbühne in den 25 Jahren der Castorf'schen Intendanz verlängert, amplifiziert und in einen künstlerischen Resonanzraum, ja, in ein Gesamtkunstwerk verwandelt, das von Eklektizismus lebt. Die Volksbühne produziert mit Theaterstücken, performativen Inszenierungen und Kongressen assoziative, politisch ambitionierte Schichtungen von Geschichte – und bringt sich damit selbst als lebendiges Archiv hervor. Mit dieser Methode wird auch die Geschichte Europas aufgefächert. Jenseits der üblichen Nabelschau, die lediglich West-Rom kennt, aber Ost-Rom, also Byzanz, systematisch ausklammert.

Die Frage, woher wir kommen, ist also nicht nur wichtig, um zu verstehen, wie wir zu dem kommen, was wir haben (oder zu haben glauben), sondern auch, was uns durch die Lappen gegangen ist und weiterhin durch die Lappen geht, weil wir nicht richtig wühlen: ein weitaus grösserer Reichtum an Erfahrungen und Denkweisen, Werten und Errungenschaften, die, wenn man sie auch nur erahnt, unverzichtbar scheinen, um eine freiheitliche Grundordnung auf der Höhe der Zeit auszugestalten.

Krystian Woznicki
berlinergazette.de

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