Warum sich immer mehr Menschen dafür entscheiden, keine Kinder zu bekommen Anti-Natalismus

Gesellschaft

1. September 2016

Immer mehr Frauen und Männer entscheiden sich bewusst gegen Kinder, weil sie ihr Glücksempfinden gefährdet sehen. Diese Haltung wird als Antinatalismus bezeichnet und in der Gesellschaft gern ignoriert oder verdrängt. Doch es lohnt sich, das Thema nüchtern und reflektiert anzugehen.

Anti-Natalismus.
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Anti-Natalismus. Foto: Magdalena Roeseler (CC BY 2.0 cropped)

1. September 2016
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Der Philosoph und Berliner Gazette-Autor Patrick Spät blickt auf die Geistesgeschichte des Antinatalismus. Ein Streifzug:

“Man muss die Menschen bei ihrer Geburt beweinen, nicht nach ihrem Tode”, meinte der französische Philosoph Montesquieu. Harte Worte, die an ein Tabu rühren: Dürfen wir es bereuen, Kinder gezeugt zu haben? Dürfen wir gar fordern, erst gar keine in die Welt zu setzen? Einige mögen mit Kindern ihre “Selbstverwirklichung” und ihr Lebensglück erlangen, andere erblicken in den kleinen Gören ihr Unglück. So zum Beispiel jene israelischen Mütter, die 2015 für einen weltweiten Eklat sorgten, weil sie öffentlich kundtaten, dass sie es bereuen, Kinder auf die Welt gebracht zu haben.

Regretting Motherhood

Anlass war eine Studie der israelischen Soziologin Orna Donath, in der Mütter solche Dinge sagten wie: “Seit den ersten Wochen nach der Geburt habe ich die Entscheidung bereut. Eine Katastrophe. Sofort habe ich gemerkt: Das ist nichts für mich. Mehr noch: Es ist der Albtraum meines Lebens. Ich wollte keine Mutter sein.”

Die Studie stiess auf ein breites Medienecho, weltweit twitterten Mütter unter dem Hashtag #regrettingmotherhood, dass sie den vermeintlichen Kindersegen ebenfalls als Fluch empfänden.

Früher hatte man einfach Kinder, heute werden sie mehr und mehr zu einer bewussten Entscheidung. Dementsprechend prophezeite Sigmund Freud 1898, es wäre “einer der grössten Triumphe der Menschheit, eine der fühlbarsten Befreiungen vom Naturzwange, dem unser Geschlecht unterworfen ist, wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu erheben, um ihn von der Verquickung mit der notwendigen Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses loszulösen.”

Der Traum wurde Wirklichkeit: 1912 gab es die ersten nahtlosen Gummikondome, 1930 die ersten aus Latex, 1960 schliesslich kam die Antibabypille. Die Freuden des Sex und das Kinderkriegen lassen sich mittlerweile also entkoppeln; einzig die Frage – vielleicht eine der wichtigsten in unserem Leben – bleibt bestehen: Kinder, ja oder nein?

Mutterschaft als kulturelles und historisches Konstrukt

Für Orna Donath ist Mutterschaft vor allem ein “kulturelles und historisches Konstrukt”, und damit verbunden auch die gesellschaftliche Norm, Kinder in die Welt zu setzen. Mitverantwortlich für dieses Konstrukt ist wohl die Religion: Interessanterweise waren alle drei grossen Weltreligionen zunächst eher antinatalistisch – das Ziel war die Vereinigung mit Gott im Jenseits.

Hier und da zeugen noch ein paar Bibelstellen von diesen Wurzeln: “Selig sind die Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäugt haben!” (Lukas 23:29). Nach und nach wurden die drei Weltreligionen pronatalistisch, auch, um sich besser ausbreiten und missionieren zu können.

“Nicht geboren zu werden, ist unbestreitbar die beste Lage. Leider steht sie niemandem zu Gebot”, meinte der Philosoph E.M. Cioran in seinem Buch mit dem vielsagenden Titel Vom Nachteil, geboren zu sein (1973). Doch Menschen ohne Nachwuchs – vor allem Frauen – erregen Argwohn.

Ohne Kinder keine Zukunft?

In den Köpfen vieler Menschen hat sich anscheinend die Meinung eingenistet, dass der Mensch seine ihm ureigenste Aufgabe zu erfüllen habe: die Fortpflanzung, die evolutionstechnisch unabdingbare Reproduktion zum Fortbestand des Homo sapiens. Ohne Kinder keine Zukunft. Wer nicht zeugt, macht sich schnell verdächtig, ein egoistischer Menschenfeind zu sein. Viele unterschreiben ohne Wenn und Aber die Behauptung, dass Kinder glücklich machen.

Doch es gibt etliche Studien, die diesen Allgemeinplatz kritisch untersuchten. Eine 2003 publizierte Meta-Studie kommt zu dem Resultat, dass die meisten Paare mit Kindern unglücklicher sind als kinderlose Paare. Nach der Geburt sinkt das Glücksempfinden, während der Grundschulzeit gleicht es sich mit Kinderlosen wieder an und während der Pubertät sackt es wieder ab. Im statistischen Mittel, versteht sich.

Eine 2016 in Deutschland erhobene Studie von YouGov hat 1.228 Eltern befragt, wie sie zu ihrer Elternschaft stehen. Ergebnis: 19 Prozent der Mütter und 20 Prozent der Väter stimmen der Aussage zu, dass “sie heute keine Kinder mehr bekommen würden, wenn sie sich nochmal entscheiden könnten”.

Eine andere Langzeitstudie, bei der 218 Paare über 8 Jahre hinweg befragt wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass Paare mit frischem Nachwuchs ihre Beziehung als doppelt so unglücklich einschätzen wie Paare, die kinderlos geblieben sind. Und eine weitere Studie mit 2.016 Teilnehmern aus Deutschland zeigt wiederum, dass rund 70 Prozent der Eltern nach der Geburt des ersten Kindes unglücklicher sind als vor der Geburt.

Untersucht haben die Wissenschaftler vor allem die Tatsache, weshalb Eltern in Deutschland nach dem ersten Kind kein weiteres mehr zeugen – obwohl das zuvor vielleicht ihr Wunsch war. Die Gründe reichten von Schmerzen bei der Geburt bis hin zum Wunsch, wieder erwerbstätig sein zu können. Der Hauptgrund jedoch war Stress – ausgelöst durch die grosse Verantwortung, Zeit- und Schlafmangel, häusliche Isolation, Geldknappheit und Beziehungsprobleme.

Rollenmuster und Karriere

Für die Studie Was junge Frauen wollen wurden 2016 Frauen zwischen 18 und 40 Jahren aus allen gesellschaftlichen Milieus befragt. Sie beklagen vor allem, dass Eltern allzu oft in traditionelle Rollenmuster verfallen, sobald der Nachwuchs da ist.

Das Thema Karriere ist ebenfalls ein Hindernisgrund für Kinder, denn kinderlose Frauen arbeiten zu 77 Prozent in Vollzeit, bei den kinderlosen Männern sind 80 Prozent. Doch Frauen mit einem oder mehreren Kindern (die unter 18 Jahre alt sind und im Haushalt leben) arbeiten lediglich zu 22 Prozent in Vollzeit, bei den Männern sind es wiederum 90 Prozent.

Dem Gender Report des Bundesfamilienministeriums zufolge möchten 52 Prozent der kinderlosen Frauen unbedingt Kinder haben, aber nur 34 Prozent der Männer. Und 21 Prozent der kinderlosen Frauen lehnen ein Kind definitiv ab, während es bei den Männern 24 Prozent sind.

Es geht ums Glück

Die sinkende Geburtenrate in den globalen Industrienationen bestätigt diesen Trend. Das immer häufiger anzutreffende Modell “double income, no kids” dient den Wohlhabenden als Karrieresprungbrett, den prekär lebenden Paaren bleibt oft nichts anderes übrig. Aber abgesehen vom Geld überwiegt das Glücks- und Freiheitsempfinden, das viele Paare durch Kinder gefährdet sehen – und das weitgehend unabhängig von Einkommen, Alter, Nationalität oder sexueller Ausrichtung, wie die verschiedenen Studien zeigen.

Es geht also ums Glück. Von Sigmund Freud stammt noch eine andere, vermutlich zeitlose Prophezeiung: “Die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich' sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.” Und genau hier sind wir am Kern der Sache. Können wir ein glückliches Leben führen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass das Leid das Glück um Längen überwiegt? Und dürfen wir überhaupt Kinder in diese kriegerische und krisengeplagte Welt setzen?

Antinatalisten, also Personen, die das Kinderkriegen vehement ablehnen, führen ganz unterschiedliche Gründe für ihr Weltbild an. Es gibt etliche Berichte von KZ-Überlebenden, die sagen, dass man in einer solch grausamen Welt keine Kinder zeugen dürfe. Der Philosoph Robert Nozick meinte, dass die gesamte Menschheit nach der Shoa ihren Anspruch auf ein Fortbestehen verloren habe und sich besser aus dem Universum verabschieden solle. Andere Antinatalisten wiederum, wie David Benatar, halten bereits das durchschnittliche Menschenleben – auch eines ohne Armut, Mord und Totschlag – für derart miserabel, dass sie ein Ableben der Menschheit befürworten.

Die Argumentation der Antinatalisten

Der Philosophieprofessor David Benatar gilt als einer der weltweit führenden Antinatalisten. Benatar betont ausdrücklich, dass er Kinder nicht hasst und schon gar nicht eliminieren möchte. Allein die Geburt neuer Kinder sei fragwürdig – in seinem Buch Better Never to Have Been (2006) schreibt er:

“Es ist merkwürdig, dass gute Menschen alles dafür geben, ihre Kinder vor Leid zu schützen, während wenige von ihnen zu bemerken scheinen, dass der einzige garantierte Weg, alles Leid von ihren Kindern abzuhalten darin besteht, diese Kinder erst gar nicht in die Welt zu setzen. (…) Einige antinatalistische Positionen beruhen entweder darauf, dass man keine Kinder mag oder darauf, dass man die Interessen der Eltern berücksichtigt, die dann mehr Freiheit und Mittel haben, wenn sie keine Kinder haben oder welche aufziehen. Mein antinatalistisches Weltbild ist anders. Es entspringt nicht der Abneigung gegen Kinder, sondern im Gegenteil dem Anliegen, das Leid potentieller Kinder zu verhindern.”

Demzufolge bezeichnet sich Benatar nicht als Misanthrop, sondern im Gegenteil als Menschenfreund. Er geht davon aus, dass jedes menschliche Leben mehr Leid als Glück aufweist – und verweist bei dieser umstrittenen These auf etliche psychologische Studien. Benatar zufolge gebe es beispielsweise chronisches Leid, aber keine chronische Freude. Deshalb sei es moralisch verwerflich, Kinder zu zeugen. Die Kernargumentation von Benatar lautet:

1) Das Vorhandensein von Leid ist schlecht.
2) Das Vorhandensein von Glück ist gut.
3) Das Nichtvorhandensein von Leid ist gut (egal, ob es Menschen gibt oder nicht).
4) Das Nichtvorhandensein von Glück ist nicht schlecht (ausser dann, wenn ein bereits existierender Mensch seines Glücks beraubt wird).

Entscheidend ist die Asymmetrie zwischen Leid und Glück und folglich die Asymmetrie zwischen Punkt 3 und 4. Leid wiegt auf der ethischen Waagschale schwerer als Glück. Daraus folgt für Benatar: Es gibt eine moralische Pflicht, keine leidenden Menschen in die Welt zu setzen. Es gibt jedoch keine moralische Pflicht, glückliche Menschen in die Welt zu setzen. Deshalb sei es immer eine moralisch schlechte Tat, einen Menschen zu zeugen. Unterlässt man es jedoch einfach, einen Menschen zu zeugen, ist das nicht schlecht.

Vom Risiko geboren zu werden

“Weniger Glück ist nur dann ein Übel, wenn man eine Person ausmachen kann, für die das Fehlen von Glück auch ein Übel ist”, schreibt Benatar. Wenn ein Mensch erst gar nicht existiert, dann kann er auch kein Leid erfahren. Ist die Person aber auf der Welt, dann erfährt sie zwangsläufig Leid. Das fehlende Glück ist kein Glück, dessen jemand beraubt wird. Doch das Leid ist unwiderruflich in der Welt, sobald jemand geboren wurde: “Wenn Menschen Kinder haben, spielen sie russisches Roulette mit der Waffe an der Schläfe ihres Kindes”, so Benatar.

Mit dieser Argumentation erweitert Benatar die Glücksdiskussion, indem er nicht nur das Glücksempfinden der Eltern ins Visier nimmt, sondern auch das potentielle Leben der Kinder. In diesem Sinne schreibt der bekannte Kinderbuchautor und Antinatalist Janosch in seinem Wörterbuch der Lebenskunst-Griffe unter dem Stichwort Geburt:

“Ist für den zu Gebärenden das totale Risiko. Von 1000 Geborenen kommt nur einer halbwegs erträglich durchs Leben. Die anderen werden Rheuma und Gicht haben. Sie werden die falsche Frau und den falschen Mann bekommen. Keine Wohnung, aber viele Schmerzen haben. Man wird sie in den Krieg hetzen oder sonstwie erschiessen und foltern. Für die Eltern ist das Risiko dagegen kaum der Rede wert.”

Die meisten Antinatalisten möchten das Glück nicht verringern, sondern mehren. Und es ist gut möglich, dass solche Gedanken – mal unbewusst, mal explizit – bei all jenen Paaren mitschwingen, die sich über das Kinderkriegen Gedanken machen. Oder, um es mit Mahatma Gandhi zu sagen: “Ich meine ganz und gar nicht, dass die Fortpflanzung eine Pflicht ist oder dass die Welt ohne sie einen Verlust erleiden würde. Stell dir vor, jegliche Fortpflanzung würde eingestellt, diese würde nur bedeuten, dass es keinerlei Zerstörung mehr gibt.”

Patrick Spät
berlinergazette.de

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