Über das Elend der Arbeiter in Chittagong, Bangladesh Ordnung und Seefahrt

Gesellschaft

13. Februar 2013

An manchen Tagen muss der Mensch für mehr Ordnung in seinen Sachen sorgen, als er sonst braucht, um über den gewöhnlichen Tag zu kommen. Dann heftet er Papiere von einem Ordner in einen anderen; um sie in ein paar Jahren in einem nächsten Ordner unterzubringen.

Verrostetes Schiffswrack wartet vor der Küste in Chittagong auf seine Verschrottung.
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Verrostetes Schiffswrack wartet vor der Küste in Chittagong auf seine Verschrottung. Foto: Stéphane M Grueso (CC BY-SA 2.0 cropped)Stéphane M Grueso (CC BY-SA 2.0 cropped)Stéphane M Grueso

13. Februar 2013
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Dann schaut er um sich in seinem Märchenbüro und wundert sich über all die Stapel an Büchern, über die Mitbringsel einstiger Ausfahrten, über das Schwemmgut des Lebens hinter ihm. Beispielsweise über den ein Meter langen, an ein mythologisches Vieh erinnernden Ast, den das Wasser des lappländischen Akka-Sees bleich geschrubbt hat. Oder über die beiden verdrehten Marionetten, Hurvinek und Spejbel, die nun auch schon seit über zehn Jahren an einen Gang zur Prager Burg erinnern und nur noch dann wahrgenommen werden, wenn es, eben! ans Ordnen geht. So ein Zimmer kann eine ziemliche Wunder-Tüte sein. Und wie mit der eigenen Stube so mit dem ganzen Planeten?

Seit Tagen fasziniert mich das ehemalige Kreuzfahrtschiff „Ljubow Orlowa“. Es driftet führungslos über den Atlantischen Ozean, die einzigen Passagiere seien tausende Ratten. Nicht sie verliessen das vermutlich demnächst sinkende Schiff, sondern die Menschen. Angetrieben „durch Wind und Wetter“ steuert es „unaufhaltsam auf die Küsten Europas zu“ (huuu!). Das Schiff heizt den Katastrophen-Phantasien der Redakteure ein und sorgt für Unordnung.

Zudem: dieser Name! Die Orlowa war ein sowjetischer Filmstar, Lenin- und Stalin-Preisträgerin, überstand die Zeiten und starb 1975. Zudem: die Herkunft!

Ein Jahr nach dem Tod der Namensgeberin lief das Schiff in Wladiwostok vom Stapel, gebaut für Passagen im Eis, umgebaut zum Kreuzfahrtschiff für Polargebiete, schliesslich von iranischen Geschäftsleuten gekauft, die es verschrotten wollten (1). Um die Ordnung wieder herzustellen zwischen Produktion, Gebrauch und Entsorgung, eine Entsorgung, die gewinnträchtig ist:

Die „Orlowa“ wird es allerdings nicht schaffen bis in die Bucht von Bengalen. Nicht in die Nähe der Hafenstadt Chittagong, wo riesige Schiffswracks zerlegt werden. Wo sich Männer, Jugendliche, Kinder knietief durch einen Matsch aus Öl, Eisenspänen, Asbest und Rost bewegen.

Ein lebensgefährlicher Job. Verrichtet an Tausend-Tonnen-Monstern, die das „Aussehen von Lebewesen“ haben, die – spricht hochfliegender journalistischer Geist in der Süddeutschen Zeitung– „statt in Fleisch, in Eisen mit dem Seewasser stoffwechseln“ (hä?). „Man möchte ein solches Schiff mit einem Wal vergleichen, müsste man sich nicht sagen, dass ein Wal ein Spielball dagegen ist“; schweigen wir davon, dass der Mensch (und erst die Ratte) ein Spielbällchen dagegen ist. „Mit den Walen haben diese Giganten dann doch das eine gemeinsam, dass man sie erst an Land, wenn sie ihrem Element entzogen sind, wahrhaft zu Gesicht bekommt.

Erst im Tod flössen sie jene Bewunderung ein, der sie zuvor unzugänglich waren, ja, jenen Stolz auf das, was Menschen zuwege bringen, der aus der nautischen Sphäre sonst ganz zurückgewichen ist.“ Menschen …, der … ist?? Also der Mensch, der …ist; womit wir wieder auf der „Orlowa“ wären:
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Bild: Schiffsdemontage in Chittagong, Bangladesh. / Stéphane M Grueso (CC BY-SA 2.0 cropped)

Auf der sorgen zur Zeit die Ratten für Ordnung, die Menschen sind zurückgewichen. Während es auf der „Triumph“, einem Schiff der Carnival Cruise Line (Motto: „All for fun, fun for all“), für 3.000 Kreuzfahrer und 1.000 Passagiere im Moment drunter und drüber geht.

Seit einem Brand im Motorenraum seien die Klimaanlagen ausgefallen und die hygienischen Zustände an Bord katastrophal. Die Leute weinen „und sind hysterisch, weil sie nach Hause wollen … Sie müssen ihre Notdurft in Eimer und Tüten verrichten … Einige Passagiere benähmen sich wie die Wilden und zofften sich um Nahrungsmittel … ‚Die Bedingungen werden immer schlechter von Stunde zu Stunde. Teppiche in den Kabinen sind nass von Urin und Wasser. Toiletten in Innenkabinen sind überfüllt … Wir standen vier Stunden Schlange, um eine Hamburger zu bekommen'“ Das sind scheussliche Zustände. Urin und Eisenspäne, Öl und Wasser, Asbest und knapp Hamburger.

Es müssen diese Zustände der Unordnung sein, diese Umstände der plötzlichen Brüche, das unerwartete Ausser-Kraft-gesetzt-Sein, die Volker Braun zu dem Text „Die Bucht der Hingeschiedenen“ brachte. (Jene FAZ-Zeitungsseite vom 6. März 1998 findet sich, ungelogen!, während des Aufräumens meines Märchenbüros.) „Bewohnt vom Wetter und der Salzflut, ist die Bucht der Sammelplatz der Hingeschiedenen. Es spült sie an aus ihren gescheiterten Lebensläufen und Rinnsalen, von ihren zerborstenen Booten, deren Kiele aus dem Grund ragen. …“

Wie? Schon wieder Schiffe, Boote, der Müll, der herumtreibt? Oder ist es der Müll, der uns umtreibt? Etwa die Geschichte voller Ambitionen, Niederlagen, Hoffnungen, voller Scheiternder, Triumphierender. „Was war unser Verbrechen? Dass wir die Welt, die hinweggeschwemmt wurde, verändern wollten. Jetzt antwortet uns Hohngelächter.“

Und von Inseln schreibt der Braun auch. Von einer Brücke, die zu ihnen führt. Wo die Umtriebigen Ruhe fänden und glücklich ein könnten. Im Rahmen des süssen Rahms sozusagen. „Wir könnten die Sache begraben dort.“ Doch wie töricht. Wir (wer immer das ist) sagen, „nicht um diesen Preis“; also nicht um jeden Preis? „Das sagten wir (wer immer das ist – E. M..) und spürten, während wir noch lachten, wie wir tiefer sanken, auf den Grund zu den Verlorenen, nicht Entmutigten, …“

Vor Jahren las ich von einem Schiff, die „Break Of Dawn“, deren Ladung aus Müll bestand. Müll, der irgendwo weit weg von denen, die ihn hervorbrachten, entsorgt werden sollte. Es begab sich aber, horch! ein Märchen!, dass sämtliche Häfen, wo die „Break Of Dawn“ einlaufen sollte, das Anlanden verhinderten. Niemand wollte das Schiff bzw. den Müll. Es begab sich weiter, dass das Schiff schliesslich eine Insel fand, die bereits – aus Müll bestand. Eie Insel nur aus Müll. Eine weithin stinkendes, verwesendes Eiland, über den bereits Vögel kreisten, die nie ein Mensch zuvor gesehen. Wesen, die aus Müll geboren wurden, die sich von Müll ernährten, die selber Müll waren und zu Müll wurden.
Verrostetes Schiffswrack wartet vor der Küste in Chittagong auf seine Verschrottung.

Bild: Arbeiter in Chittagong, Bangladesh. / Stéphane M Grueso (CC BY-SA 2.0 cropped)

Las ich von einem Märchen? War ich einem Fake aufgesessen? Aber sind nicht auch jene Quadratkilometer weiten Plastikteppiche, die auf dem Ozean strudeln Wirklichkeit? Und nisten in denen nicht bereits Vögel, legen Fische ihre Eier, verwandelt sich Plastik in Organisches, Organisches in Plastik?

Die Chemie spricht dagegen. Der Wunsch nach Ordnung spricht dafür. Der Wunsch nach Ordnung ist der Wunsch nach Bequemlichkeit, Sicherheit, Überschaubarkeit. Müllinseln und Plastikstrudel – sind in Ordnung. Gescheiterte Systeme – auch in Ordnung. Weil: Das Chaos in der Stube habe ich delegiert nach da hinten, in die scheinbare Unermesslichkeit des Planeten, wo ich es nicht sehen und nicht riechen muss. Weil: Gescheiterte Systeme überstehen die meisten Menschen. Allerdings hinken sie ein bisschen.

Sie ziehen am linken oder am rechten Huf was nach und mit sich, was einen recht unordentlichen Gang macht. Richtig aufrecht sieht es nicht aus, geduckt freilich auch nicht, bizarres Wesen, der Mensch … „Is jut jetzt!“, fällt mir Freund Tütenholz ins Wort. Er las bis hierher mit, schüttelt den Kopf und schimpft: „Unfassbar, worin einer versinkt, unglaublich, wohin es ihn treibt, lässt er sich von Zeit zu Zeit darauf ein, ein bisschen Ordnung zu schaffen!“

Eckhard Mieder

[1] Quelle: Wikipedia