Die vielen Enden der Welt willkommen heissen Die Klimakrise als Neuanfang

Gesellschaft

27. September 2019

Eines der drängendsten Probleme unserer Zeit: Es gibt wenige Menschen mit zu viel Welt und zu viele Menschen, die viel zu wenig Welt haben.

Wir wissen, dass heute vier Erden benötigt werden, um den Energie- und Materialbedarf des Planeten zu decken.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Wir wissen, dass heute vier Erden benötigt werden, um den Energie- und Materialbedarf des Planeten zu decken. Foto: Mathias Bigge (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

27. September 2019
2
0
9 min.
Drucken
Korrektur
Diese Diagnose verweist nicht zuletzt auf das verborgene Potenzial der vielen, vielen Menschen mit viel zu wenig Welt. Was wäre, wenn wir alle mehr Welt hätten? Was wäre, wenn das Ende der Welt, wie wir sie kennen, genau diese Chance bietet, die ungleiche Verteilung des Zugangs zur Welt zu verändern? Im MORE WORLD-Interview spricht die Philosophin Déborah Danowski über die Enden der Welt angesichts der Klimakrise.

Kannst du zunächst erklären, was Du damit meinst, dass “das Problem vor allem darin besteht, dass es zu wenige Menschen mit zu viel Welt und zu viele Menschen mit viel zu wenig Welt gibt”?

In “The Ends of the World” haben wir (das Buch erschien in Ko-Autorschaft mit Eduardo Viveiros de Castro, die Redaktion) gezeigt, dass “Welt” viele verschiedene Bedeutungen haben kann und dass es folglich viele verschiedene Möglichkeiten gibt, Welt zu verlieren. Aber man kann ganz allgemein sagen, dass der Verlust einer Welt der Bruch der grundlegenden Beziehung zwischen einem Subjekt oder einem Volk und seiner Welt ist. Dies kann entweder als Vereinfachung und Verarmung (kulturell, ökologisch oder ontologisch) oder im Extremfall in Form von Tod und Aussterben geschehen. Und beide sind miteinander verbunden, denn Verarmung (z.B. einer Kultur oder eines Bioms) kann zu physischem Aussterben führen, und dies (z.B. das Verschwinden eines Volkes oder das Aussterben einer Spezies) impliziert auch das Aussterben einer Perspektive, einer einzigartigen und unersetzlichen Existenzweise, also einer Verarmung der Welt.

Das Hauptmotiv des Buches war natürlich die aktuelle Umweltkatastrophe – sie hat diese einzigartige Eigenschaft, die darin besteht, dass sie zunächst die ärmsten Länder und Bevölkerungen am stärksten und verheerendsten treffen wird, aber schliesslich jeden erreichen wird, nicht nur jeden Menschen, sondern die meisten anderen Lebewesen auf der Erde. Das bedeutet, dass es eine Verallgemeinerung des Prozesses der Reduktion und Vernichtung von Welten gibt, der seit jeher die Grundlage der so genannten Modernisierung war, insbesondere seit der Kolonisierung Amerikas und in jüngster Zeit der Globalisierung.

Wir wissen, dass heute vier Erden benötigt werden, um den Energie- und Materialbedarf des Planeten zu decken. Doch nicht wegen der grossen Bevölkerung der Länder der so genannten Dritten Welt, sondern vor allem wegen des hohen Lebensstandards der meisten Länder in Europa und den USA. (China ändert dieses Szenario ein wenig, ist aber noch weit entfernt vom Pro-Kopf-Verbrauch dieser Länder.) Um den Reichtum der reichsten Minderheit in diesen Ländern zu ermöglichen, leben viele andere in einer verarmten Welt, viele verlieren oder haben ihre Welt bereits verloren. Anthropogene Klimaänderungen verstärken das, was für sie bereits Realität ist, nur radikal.

Wie wird Dein Denken hier von der Perspektive des Globalen Südens beeinflusst?

Du hast Recht, ich glaube, dass die Perspektive des Globalen Süden uns eine klarere Vorstellung davon vermittelt, was uns erwartet. Ich bin im Moment vielleicht zu pessimistisch wegen der aktuellen politisch-ökonomischen Situation Brasiliens, aber wir scheinen immer am Rande von Chaos und Barbarei zu stehen. Ökologische Katastrophen werden selten verhindert oder behandelt, sondern sie stapeln sich sozusagen. Deshalb erwarten wir in der Regel nicht viel von den Behörden. Weitreichende Präventionsmassnahmen sind nicht jedermanns Sache, und wir bekommen eine gute Vorstellung von allem, was bei den seltenen und unsicheren Anpassungsmassnahmen des Staates schief gehen kann. Wir hier in Brasilien wissen, dass wir es alleine schaffen müssen.

Viele Reaktionen auf den Klimawandel gehen Hand in Hand mit der Wiederbelebung der Idee, dass “der Westen die universelle Norm ist”. Was bedeutet es für Dich, dieses Paradigma in Frage zu stellen? Wie können andere Gespräche über die globale Erwärmung und andere Formen der kommunalen Rationalität eingebracht werden und uns aus der Klimakrise herausführen, die auch eine Krise der Welt ist, wie sie vom Westen konstruiert wurde?

Zweifellos wollen die meisten, die den Klimawandel ernst nehmen, unser Gesellschaftsmodell oder zumindest den besten Teil davon bewahren, vielleicht das, was Du die “universelle Norm” des Westens nennst. Was ich an diesem Phänomen merkwürdig finde, ist, dass viele Menschen im Grunde genommen denken, dass es erstens das ist, was jeder haben möchte, und zweitens, dass es überhaupt in unserer Hand liegt, zu wählen, was wir in der kommenden Welt behalten wollen und nicht aufgeben werden. Aber wie ich gerade sagte, hat diese “universelle Norm” des Westens für niemanden ausser für die Eliten sehr gut funktioniert, und jetzt ist es mehr denn je offensichtlich, dass es für alle falsch läuft.

Darüber hinaus betreten wir mit dem Klimawandel eine völlig andere Welt als die, die wir heute haben, und vielleicht sogar eine ganz andere als das, was ein Mensch je erlebt hat. Was wir als Gesellschaft sein werden, ist etwas, was es bisher nicht gibt, das noch nicht erfunden wurde. Ich glaube also nicht, dass es eine Frage der Wahl ist, sondern der Erfindung, der kollektiven Schöpfung.

Wie dem auch sei, es ist gut zu betonen, dass weder Spitzentechnologien noch eine kommunale Rationalität uns helfen werden, aus der Klimakrise herauszukommen. Das Anthropozän ist hier, um zu bleiben. Was wir tun können, ist uns zu bemühen, Zwischenräume, Zufluchtsorte zu erhalten und Lebensweisen zu ermöglichen, die dieser Norm nicht unterworfen sind. Deshalb ist es so wichtig, kommunale, nicht-ökokzide und gerechte Praktiken zu pflegen. Und den Zustand der ontologischen Ausnahme abzulehnen, in dem wir westlichen und modernen Menschen uns als die einzigen annehmen, die fähig sind, auf die Wahrheit zuzugreifen, die alle akzeptieren müssen.

Wenn wir nicht-westliche Diskurse über die globale Erwärmung berücksichtigen, welche Inspirationsquellen erscheinen auf Deinem Radar? Welche zukünftigen Vergangenheiten werden relevant?

Es gibt alle möglichen Arten von Inspirationen. Nicht nur die von den 370 Millionen Menschen, die die UN als indigen betrachtet (d.h., wie wir in “Die Enden der Welt” gesagt haben, Mitglieder von Völkern, die sich selbst nicht erkennen und/oder nicht als Standardbürger*innen von Nationalstaaten anerkannt werden), sondern auch von Kollektiven, die sich dem Verschlingen durch die dominante, ausschliessende und ungerechte westliche Logik widersetzen. Initiativen, wie die Besetzung der ZADs in Frankreich, die Kleinbauern der semi-ariden Region des brasilianischen Nordostens, die Rückgewinnung von Praktiken wie Wikas und Technoxamanismus, traditionelle Hebammen, Gemeinschaftswährungen, autonome Lollektive, kommunale Gesundheitsversorgung, kommunale Saatgutbanken und Kreolische Saatguthalter, städtische Landwirtschaft und viele andere.

In welchem Sinne sind indigene Völker der Schlüssel zur zukünftigen Entwicklung ökologischer Praktiken? Wie können indigene Völker in Zukunft zu einer Inspiration für eine gerechtere und nachhaltigere Welt werden?

Wie ich bereits sagte, was wir als Gesellschaft werden, ist etwas, das noch nicht kollektiv erfunden wurde. In diesem Sinne ist der Begriff “Inspiration” am besten geeignet, da es keine vorgefertigten Modelle gibt, denen wir in einem so anderen und oftmals schlechteren Umfeld folgen können, als unserem. Indigene Gemeinschaften auf der ganzen Erde sind besorgt über den Zusammenbruch des Himmels und andere Formen des “Endes der Welt”, und wir können von indigenen Völkern verschiedene Denkweisen erlernen, über das, was uns umgibt, nachzudenken. Wir können lernen, vorsichtig zu sein, wo wir hingehen und wie wir uns mit anderen Wesen verhalten, denn alles um uns herum kann ein*e Handelnde*r sein, so wie wir, ein Subjekt, eine Person, die existieren und bestehen bleiben will und die nicht unbedingt wie wir denkt. Wir können lernen, diese Besessenheit loszuwerden, dass wir uns nicht nur von allen anderen Tieren unterscheiden, sondern die einzigen wirklichen Subjekte sind, die einzigen mit einem moralischen Sinn, ausgestattet mit Vernunft, und damit die besten und klügsten im Universum. Dieselbe Zweiteilung, die die Moderne eingeführt hat, hat immer dazu gedient, nicht nur Nichtmenschen zu quälen, sondern auch diejenigen Menschen, die der Westen für weniger wertvoll hält, die “arm an Welt” oder “weltlos” und damit ohne Rücksicht ausbeutbar, wegwerfbar oder sogar tötbar sind.

Unser Gespräch zusammenfassend und einen Schritt weiter gehend: In welchem Sinne denkst Du über das Ende der Welt als den Beginn einer neuen Welt nach?

Eine völlig neue Welt, auch wenn wir es wollten, ist unmöglich. Anthropogene Veränderungen im Klimasystem und andere Umweltschäden haben uns vom Makrokurs des Holozäns abgelenkt, in dem unsere Zivilisation entstanden ist. Nach einigen neueren Studien sind wir (d.h. die gegenwärtige Phase der Erde) sogar vom glazial-interglazialen Zyklus der späten Quartärzeit abgewichen. Abhängig von unserer Flugbahn kann diese Abfahrt mehr oder weniger schwerwiegend werden (und wir sollten alles tun, um sie weniger schwer zu machen), aber sie kann nicht überschrieben oder rückgängig gemacht werden. Doch jedes Ende der Welt, es sei denn, es ist ein absolutes Ende (wie der Philosoph Günther Anders es sich vorgestellt hat), ist notwendigerweise auch ein Anfang. Oder zumindest setzt jeder Gedanke an das Ende der Welt den Gedanken nicht nur an den Anfang dieser Endwelt voraus, sondern auch an einen Neuanfang.

Aber dieser Neuanfang ist nicht der Beginn einer anderen Welt, hinter und ausserhalb unserer heutigen Welt, sondern die Erfindung neuer Lebensweisen mit dem, was wir haben, in den Ruinen der gegenwärtigen Welt. So leben wir eigentlich schon heute, und so haben die indigenen Völker Amerikas, die zur Zeit der “grossen Entdeckungen” fast ausgerottet wurden, gelernt, ihre Welt neu zu erfinden, um in der Welt ihrer Eindringlinge zu leben. So viele Menschen leben auf allen Kontinenten, Milliarden von “Enteigneten”, Klimaflüchtlinge, Wildtiere und sogar Pflanzen, die unter dem Asphalt einer Grossstadt erstickt sind, oder Flüsse, die von grossen Wasserkraftwerken gelenkt oder gesperrt wurden. Ich möchte mit den Worten schliessen, die den schönen Film von Charles Laughton, The Night of the Hunter, von 1955 schliessen: “Der Wind weht und der Regen ist kalt. Doch sie halten sich fest…. Sie bleiben und sie ertragen.”

Déborah Danowski
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.