Wie wir mit der Flut an Ereignissen umgehen können Lob der Langsamkeit

Gesellschaft

18. Januar 2016

Flüchtlingskrise, Ebola, diverse terroristische Anschläge, TTIP, der NSA-Abhörskandal… Es fällt schwer, alle Schlagzeilen des vergangenen Jahres Revue passieren zu lassen und dabei den Überblick zu behalten.

Zeitungsstand in Athen, Griechenland.
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Zeitungsstand in Athen, Griechenland. Foto: -DiMiTRi- (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

18. Januar 2016
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Berliner Gazette-Autor Tobias Lentzler ist überzeugt: Wir müssen langsamer durch die Informationsfluten surfen. Ein Lob der Langsamkeit:

Versuchen Sie einmal, sich an alle für Sie relevanten Ereignisse des Jahres 2015 zu erinnern. Gelingt es Ihnen? Ufern Ihre Gedanken aus oder mag Ihnen partout nichts einfallen? Stellt sich Ihnen die Frage, welche Ereignisse letztes Jahr relevant waren oder nach welcher Form Sie selbige sortieren sollen?

Zumindest ging es mir so, als ich zuletzt versuchte, mir einen Überblick über das letzte Jahr zu verschaffen. Am Einfachsten gelang es mir auf privater Ebene, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden. Sobald ich versuchte, gesellschaftlich relevante Themen zu sortieren, überflutete mich eine schier unüberschaubare Menge an Ereignissen.

Die Anschläge auf die Pariser Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar, PEGIDA und die Selbstdemontage dieses Vereins, die unzähligen Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertranken, das schwere Erdbeben in Nepal, andauernde Kriege in Syrien und der Ukraine, die andauernden Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP, der noch immer aktuelle NSA-Abhörskandal und die undurchsichtigen Verbindungen des BND zu dieser US-Behörde, die FIFA-Korruptionsaffäre, die Anschläge von Paris im November.

Vordringliche Aufgabe: Einordnung

Es gab 2015 noch viele weitere Themen, die der Erwähnung bedürften, beispielsweise das irische Referendum zur Gleichstellung homosexueller und heterosexueller Paare. Ich habe hier ein paar herausgegriffen – recht wahllos, noch nicht sortiert.

Das hat seine Gründe. Es fällt mir immer schwerer, bei der Flut von Nachrichten, die jeden Tag über viele unterschiedliche Kanäle auf uns eindringt, den Überblick zu behalten. Wie leicht vergessen wir Themen, die nicht mehr in den Medien kursieren, aber dennoch aktuell sind (die Ebola-Epidemie, um nur ein Beispiel zu nennen).

Je schneller Nachrichten auf uns einprasseln, desto wichtiger wird eine vordringliche Aufgabe der Journalistinnen und Journalisten: Einordnung. Die Medien unseres Landes haben nicht bloss die Aufgabe uns angemessen zu informieren, vor allem haben sie die hohe Verantwortung, Themen in aktuelle und historische Kontexte einzuordnen. Je zeitnaher wir alle über alles und jeden informiert sind, desto schwieriger wird das.

Digitalisierung und Querfront

Neben einem enormen Vertrauensverlust, den die Medien zuletzt erlitten haben, stecken die meisten Verlage und Medienhäuser noch immer in einem Digitalisierungsprozess, der viele Ressourcen besetzt und die journalistische Arbeit lähmt. Die Angst vor einem Jobverlust führt bei einigen Journalistinnen und Journalisten die Federn, hemmt das Innovationspotenzial eines jeden Einzelnen und ist mit Sicherheit nicht der Kreativität und Stilsicherheit dienlich.

Ein weiteres Phänomen sind die so genannten „Querfront-Medien“, die sich einen seriösen Anstrich zu verpassen suchen, ihre Artikel jedoch oftmals mit rassistischem, anti-amerikanischem oder nationalistischem Tenor formulieren. (Die Otto-Brenner-Stiftung hat dazu 2015 eine interessante Mini-Analyse vorgelegt.)

Langsamkeit loben

Was können wir tun? Wie sollen wir in der Flut aus Informationen, die uns täglich umgibt und uns oft genug zumüllt, eine adäquate Auswahl treffen? Und wie verhindern wir es, dass die Querfront-Medien die Deutungshoheit über aktuelle gesellschaftliche Debatten gewinnen? Die Antwort erscheint sehr simpel zu sein – auch wenn ich vorweg schicken möchte, dass ihre Umsetzung alles andere als das ist.

Wir müssen Tempo aus unserer Informationsflut nehmen. Wir sollten die Langsamkeit loben. – Brauchen wir von jedem halbwegs wichtigen Event einen Liveticker, nehmen Eilmeldungen in ihrer Hülle und Fülle nicht inzwischen Überhand? Müssen alle sozialen Kanäle mit denselben Informationen und Nachrichten zum beinahe selben Zeitpunkt gefüttert werden?

In diesem Essay kann ich all diese Fragen stellen, sie erschöpfend zu beantworten, ist mir nicht möglich. Ein paar Denkanstösse oder Fragestellungen müssen genügen. Weiterwirken sollen diese Gedanken in anderen, in Ihren Köpfen.

Zwischen Tempo und Abstumpfung

Der Schauspieler Kai Wiesinger hat im April 2015 bei „3nach9“ davon gesprochen, dass er drei Jahre lang auf Medien verzichtet hätte, auf die überschnellen Informationen, das Tempo. Er hat die durchaus berechtigte Frage gestellt, wie es denn sein könne, dass in einer Talkshow neben einem Flüchtlingsaktivisten ein ehemaliger Verbrecher und heutiger Drehbuchautor sitzen könne und nach einem ernsten Gespräch über die aktuelle Situation im Mittelmeerraum auf einmal Knastgeschichten im Mittelpunkt stünden.

Er kritisierte das Tempo der heutigen Medienwelt. Einige andere Talkshowgäste (u.a. die EMMA-Redakteurin Chantal Louis) kritisierten die Abstumpfung, die durch die ständige Flut an schrecklichen Ereignissen entstünde.

Der Moderator und ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hat eine berechtigte wie beeindruckende Antwort gegeben: „Wenn man heute schimpft, dass alles so neu und brutal und abgestumpft ist, dann sage ich Ihnen – in einer Zeit, in der es all das nicht gab – im vergangenen Jahrhundert, gab es die schlimmsten Menschheitsverbrechen, die die Menschen bis dahin kennengelernt haben.“

Di Lorzenzo zeigt mit dieser Aussage auf, wie dünn das Seil ist, auf dem wir heute bei der Kritik an überschnellen Nachrichten, balancieren. – Kai Wiesingers Eskapismus ist eine Erfahrung, die sich nicht viele Menschen leisten können oder wollen. Es bleibt auch zu fragen, ob das empfehlenswert ist.

Deutlich wird aber in dieser Diskussion, dass wir Tempo herausnehmen müssen. – Bevor Nachrichten verbreitet werden, sollten sie mehrfach geprüft werden, bei den ersten längeren Berichten schon in einen Kontext eingeordnet werden – sofern es die Nachrichtenlage zulässt. Diese Forderungen sind nicht neu. Sie sind sogar in den meisten Leitlinien der meisten deutschen Redaktionen verankert. Doch weil wir heutzutage alle ständig mit der Welt verbunden sind, Offline-Zeiten immer seltener werden und wir beständig kommunizieren, stossen Medien auch immer weiter in dieses Gebiet vor.

Service-Journalismus

Damit es uns auch bei gesellschaftlich relevanten Themen wieder einfacher fällt, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden, sollten wir ein neues Vertrauen in die Journalistinnen und Journalisten unseres Landes gewinnen. – Allzu leicht lässt sich hier die Frage anschliessen, warum wir für das Sortieren von Nachrichten bzw. das Informieren über aktuelle Ereignisse überhaupt Journalistinnen und Journalisten brauchen.

Für mich beantwortet sich diese Frage sehr einfach: Diese Männer und Frauen haben in einer oftmals langen Ausbildung gelernt Fakten zu sortieren, Themen in einer verständlichen und bildhaften Sprache aufzubereiten und Quellen kritisch zu prüfen. Leserinnen und Leser können diese Arbeit nur bis zu einem gewissen Punkt übernehmen. Wenn ihr eigenes Leben einen anstrengenden Job, Familienverpflichtungen und Verabredungen kennt, werden sie nicht die Zeit finden Informationen so kritisch zu prüfen, wie Journalistinnen und Journalisten dies tun sollten.

Natürlich sollten wir uns informieren wollen, aber wir sollten auch auf Nachrichten warten können. Beständig an der Wahrheit von Informationen zu zweifeln, wird uns nicht voranbringen. Ein blindes Vertrauen in einzelne Blätter und Online-Seiten jedoch ebenso wenig. Wie oft im Leben, liegt die Wahrheit in der Mitte: Vertrauen und aufmerksam sein. Dann können wir das Tempo unserer Nachrichtenwelt mitbeeinflussen.

Habt Vertrauen und lasst euch Zeit!

Neues Vertrauen in die Medien zu gewinnen, erscheint mir im Jahr 2016 die grösste Hürde zu sein. Zu tief sind die Gräben, die mittlerweile zwischen Leserinnen, Lesern und den Redaktionen aufgerissen sind. Offene Konflikte, die Redaktionen gegen ihre Zuschauerinnen und Zuschauer bzw. Leserinnen und Leser führen, werden uns nicht helfen. Sowohl der Berufsstand der Journalisten als auch die Menge an Zuschauern und Lesern muss aufhören, ständig persönlich von Kritik betroffen zu sein.

Es gibt nicht nur die eine Wahrheit über ein Ereignis. Schmerz und Wut über ein Ereignis, Freude oder andere Emotionen versperren Leserinnen und Lesern sowie Journalisten manchmal den Weg zur Objektivität. Der Mensch ist nicht objektiv. Doch Journalisten können versuchen sich ihrer Subjektivität weitgehend zu entziehen, indem sie Themen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten oder viele unterschiedliche Parteien zu Wort kommen lassen.

Leser müssen in dieser Zeit eben einmal auf Nachrichten warten. Zeit und die Zuversicht, dass alle beteiligten Parteien lernfähig sind, bilden das Fundament für ein neues Vertrauen in den Journalismus. Diskussionsplattformen, die Leser mit Redakteuren in Verbindung kommen lassen, öffentliche Aussprachen und Blattkritiken von Lesern können dabei helfen diesen Prozess zu entwickeln. Es ist ein langer Weg. Aber wenn wir nicht anfangen ihn zu gehen, gewinnen hierzulande Medien die Deutungshoheit, die Ressentiments bedienen, die schon seit vielen Jahrzehnten keinen fruchtbaren Boden mehr in diesem Lande haben dürften.

Daher meine Bitte: Liebe Leserinnen und Leser, liebe Redakteurinnen und Redakteure, liebe Verlegerinnen und Verleger! Lassen Sie allein einander die Zeit, gut und ausgewogen zu recherchieren, mit Effet und Kraft zu schreiben sowie einander wieder zu vertrauen.

PS: Dieses Essay gibt lediglich ein paar Denkanstösse. Sie haben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Es mag Leserinnen und Leser geben, die Medien zurzeit aus unterschiedlichen Gründen ungerne vertrauen möchten. Ihnen sei gesagt: Blindes Vertrauen ist nur in den seltensten Fällen gesund. Ständiger Zweifel an allen Informationen macht allerdings auch weder glücklich noch bringt er Stabilität in ein Leben.

Tobias Lentzler
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.