Fussball-WM in Brasilien Kritik an der Weltmeisterschaft des Nationalismus

Gesellschaft

18. Juni 2014

Wenn im Sport die besten Spieler aus den besten Mannschaften in einer speziellen Auswahl neu zusammengestellt werden und gegeneinander antreten, verspricht das für die Interessierten meist spannend zu werden.

Kabine der iranischen Mannschaft vor dem Match gegen Nigeria an der Fussballweltmeisterschaft in Brasilien am 16. Juni 2014.
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Kabine der iranischen Mannschaft vor dem Match gegen Nigeria an der Fussballweltmeisterschaft in Brasilien am 16. Juni 2014. Foto: Portal da Copa (CC BY 3.0)Agência Brasil (CC BY 3.0)

18. Juni 2014
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Man kann sich zurücklehnen und das sportliche Kunstwerk angucken oder sich entscheiden irgendwie Partei für eine der Mannschaften zu ergreifen.

Wie beim Wetten kann man dann ohne Geld zu verlieren mitfühlen, sich also bequem und unanstrengend ein wenig Nervenkitzel ins Leben holen. In den Höhen des Profisports, zumal beim Fussball, kann man weiter davon ausgehen, dass anders als im wirklichen Leben, die Verlierer im Konkurrenzwettbewerb nicht mit einem Hungerlohn oder Hartz IV nach Hause gehen. Mitleid mit den Spielern der WM, abgesehen davon dass diese stupid ihr ganzes Leben dem runden Leder unterordnen, kann man also haben, muss man aber wirklich nicht.

Wenn allerdings mal wieder die Nationalmannschaften in einem Turnier gegeneinander antreten und sowohl die Spieler, die Bürger, die Politik und die Werbung die Nationalfarben flächendeckend ausbreiten, dann steht viel mehr auf dem Spiel als die Kunst den Ball zu treten. Sie tragen dann ihre nationale Zusammengehörigkeit zur Schau, behaupten allesamt eine Gemeinsamkeit – hierzulande deutsch zu sein – und man entschliesst sich nicht erst mit der deutschen Nationalelf mitzufiebern, sondern fiebert mit, weil die deutsche Elf doch nur stellvertretend für diejenige Gemeinschaft antritt, der man sich sowieso schon zugehörig fühlt.

Das Eintreten für die Nationalelf halten alle für eine Selbstverständlichkeit, und sofern man selber zum deutschen Kollektiv dazugerechnet wird, wird man am Kiosk oder bei der Arbeit genau mit dieser Selbstverständlichkeit angesprochen: „Den Amis haben wir es aber ganz schön gezeigt, wa?“ Begegnet man dieser Frage mit Gleichgültigkeit („ist mir doch egal“) oder aber sagt man frei raus, dass man für die Nationalelf nichts übrig hat, sind die Leute verwundert bis verärgert. Sie vermuten einen übertrieben ernsten Umgang mit dem deutschen Nationalismus und selbst so mancher Linker sieht allenfalls anti-deutsche Reflexe bei denjenigen, die noch aus der total unschuldigen, weil bloss sportlichen Weltmeisterschaft einen Gegenstand politischer Auseinandersetzung machen wollen.

Warum soll man denn nicht für die Mannschaft des Landes sein, in dem man aufgewachsen ist?

Zunächst möchten wir einfach mal zurückfragen: Warum sollte man es denn sein? Weil „wir“ angeblich dasselbe Blut in unseren Adern haben? Ein Schwachsinn sondergleichen, aber mal angenommen so wäre es: Warum sollte eine Eigenschaft der Biologie eine gesellschaftliche Einheit stiften? Und warum sollte man über eine Natureigenschaft in einen Jubel darüber ausbrechen nach dem Motto: „Juhu, wir haben alle fünf Finger und ich möchte aller Welt demonstrieren, dass ich für diese Gemeinsamkeit bin“? Soll man für Deutschland sein, weil es seit mehr als einem Jahrhundert besteht (manche setzen da ja auch schon bei den germanischen Stämmen an)? Die Dauer des Ladens, in dem man lebt, soll Anlass für positive Gefühle hergeben? Warum denn?

Soll man sich mit anderen als „wir“ betrachten, weil der Staat manche Menschen mit einem Personalausweis ausgestattet hat und sie damit als seine Untertanen identifiziert? Weil man in einem Territorium geboren ist, deren Grenzen der Staat nach einigen Kriegen festgezogen hat? Die letzten beiden Punkte sind schliesslich die einzigen tatsächlichen Gemeinsamkeiten, die so ein Volk hat. Ansonsten haben die Menschen hierzulande noch jede Menge Alltagssorgen, und der Grossteil hat genau mit der Gemeinschaft zu tun, zu der sich so zugehörig fühlen, dass sie sich in ihre Fahnen kleiden wollen.

Von wegen Gemeinsamkeit! Für Nationalisten leider kein Problem...

Im ökonomischen Alltag ist von der Gemeinsamkeit, die da behauptet wird, nicht viel zu sehen. Unternehmen versuchen die Löhne zu drücken, die Arbeitszeit zu verlängern und die Intensität in den Betrieben zu erhöhen, wenn sie nicht gleich die Leute wegen Rationalisierung entlassen. Vermieter wiederum versuchen möglichst hohe Mieten durchzudrücken und hier in Berlin kann man in manchen Bezirken gut beobachten wie dadurch sogar eine ganze Mieterschaft durch eine materiell besser ausgestattete ersetzt wird. Diese Gegensätze sind dabei so alltäglich zu erfahren, dass man die Idee der grossen Gemeinschaft mal wirklich in den Mülleimer schmeissen könnte.

Paradoxerweise sind aber genau diese Erfahrungen für Nationalisten gar kein Grund den Glauben an die grosse Gemeinschaft zu verlieren, sondern ständiger Anlass Elemente ausfindig zu machen, welche sich an der Gemeinschaft vergehen, die doch eigentlich vorhanden sei oder zumindest sein sollte. Sie schielen dabei auf den Staat, der doch mit seinen Gesetzen die Gegensätze so regeln soll, dass angebliche Egoisten nicht zum Zuge kommen und die Sache daher für alle positiv aufginge. Wieder so ein grosser Irrsinn.

Die Gegensätze sollen gar nicht verschwinden, sondern man akzeptiert sie und findet sie sogar ganz gut, weil z.B. der Mensch angeblich so ein fauler Sack sei, dass er ohne Leistungszwang, der ihm durch andere Konkurrenten aufgenötigt wird, zu nichts komme. Weiter wird der Nationalist geständig, dass seine schöne Gemeinschaft ohne einen grossen Gewaltapparat mit Polizei und Justiz und Politikern, welche Gesetze beschliessen, denen sich dann die Bürger zwangsweise unterordnen müssen, gar nicht auskommt.
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Bild: Fans von Costa Rica am Match gegen Uruguay, 15. Juni 2014. / Portal da Copa (CC BY 3.0)

Der wirkliche ökonomische Alltag strukturiert sich ja auch nicht deswegen so auffällig einheitlich, weil alle nur von Deutschland beseelt sind. Leute gehen Lohnarbeiten, weil sie sonst keine Einkommensquelle haben. Sie müssen sich auf Löhne einlassen, die vorne und hinten nicht reichen, weil alleine Unternehmen über diejenigen Geldmassen verfügen, die es ihnen erlauben, Land, Produktionsmittel, Wissenschaft und Leute einzukaufen, um darüber reicher zu werden. Der Staat mit seiner Gewalt sorgt über Eigentum und Gesetze dafür, dass den meisten Menschen nichts anderes übrig bleibt als sich diesen fremden Interessen dienstbar zu machen. Sie müssen sich von Betriebskalkulationen abhängig machen, in denen ihr Lohn ständig zu hoch ist und ihre Leistung gesundheitsschädlich strapaziert wird; mit dem Nebeneffekt, dass man in der Freizeit nicht nur zu wenig Geld hat, um sie zu gestalten, sondern auch noch zu kaputt ist, um das vielfältige Warenangebot geniessen zu können. Gewalt und daraus abgeleitete Abhängigkeiten sind der Grund für den armseligen Alltag, den die meisten Leute geniessen dürfen.

Nationalismus ist das Ja zur Herrschaft

Wenn anlässlich der WM lauter Autos, Balkone und Menschen sich in Plakatwände für die Nationalfarben verwandeln, dann verleihen die Untertanen ihrer positiven Einstellung zu dem ökonomischen und politischen Zwangszusammenhang, dem sie untergeordnet sind, Ausdruck. Unternehmen, von deren Kalkulationen sie abhängen, staatliche Institutionen, welche mit Gewalt die Regeln des Zusammenlebens vorschreiben, die Nachbarn und Leute, mit denen man sein ganzes Leben nichts zu tun haben wird, werden in der Nation als grosse Einheit zusammengedacht. Vom Staat, der die gewaltsame Klammer um die hiesige Konkurrenzgesellschaft ist, sind die Menschen abhängig gemacht. Sie aber besetzen diese Abhängigkeit vom Staat positiv und vollziehen in ihren Gefühlen die Erfolge und Misserfolge des Staates nach. Heutzutage anhand der Nationalelf, weil es vor allem darum geht, „wie unser Land sich repräsentiert.“ (Merkel, SZ, 07.06.2008)1

Der Nationalismus der Leute ist also keine Dummheit ohne Konsequenzen. Erstens machen sie damit ihr dauerhaftes Abmühen an den Konkurrenten und den Gesetzen des Staates auf einer abstrakten Ebene erst gangbar. Mit dem Glauben, dass alles an der richtigen Einstellung zum Grossen und Ganzen, abhängt, gelingt es ihnen auf höherer Ebene jedem Scheiss, der ihnen passiert (z.B. Arbeitslosigkeit), noch einen Sinn für sich abzulauschen.2 Über die höheren Gesundheitskosten ärgert sich so jeder einzelne, weil noch mehr Belastung auf ihn zukommt. Dass aber Deutschland für einen selbst nur funktionieren kann, wenn alle sich ein wenig zurücknehmen, also Opfer bringen, nimmt so einer Gesundheitsreform die kritikable Spitze. Zweitens ist der Nationalismus für den Staat unverzichtbar, wenn er von seinen Bürgern ihr Leben verlangt. Im Krieg oder auch an der Heimatfront des Kampfes gegen den Terror ist der Nationalismus eine wichtige Stütze, wenn Untertanen aus eigener Überzeugung bereit sind, ihr Leben für das grosse Ganze aufs Spiel zu setzen.

Daran denkt wahrscheinlich keine besoffene Sau, die sich in Schwarz-Rot-Gold eingehüllt irgendwelchen Leuten auf der Fan-Meile in die Arme schmeisst. Der brutale Inhalt dessen, auf dem die Fussball-Fans gerade ihre grosse Party knüpfen, ist das schon.

Warum ausgerechnet ein Fussballtunier als Feier der Nation?

Wegen der tatsächlich vorhandenen Gegensätze im politischen und ökonomischen Leben, eignen sich Sportveranstaltungen für solche Demonstrationen der Einheit besonders, da hier das Ereignis selbst keine direkte materielle Auswirkung auf dieses Leben hat. Auch wenn die Bahn die Dauer der Bahncard als Werbetrick an gewonnene Spiele der Nationalelf knüpft, hängt vom Erfolg der Elf kein Arbeitsplatz und auch nicht der Krieg in Afghanistan ab. An jedem Gesetz aber, das die Politik beschliesst, hat irgendein Anteil der Bevölkerung etwas auszusetzen. Von daher eignet sich z.B. eine Gesundheitsreform nicht, um die deutsche Einheit herauszukehren. Auch der Bericht über eine gross angelegte Rationalisierungsmassnahme bei BMW oder Daimler zeugt nicht von Einheit und gibt Anlass zum gemeinsamen Jubeln.

Sportveranstaltungen illustrieren die Konkurrenz der Nationen und unterstellen sie als Selbstverständlichkeit

Nicht zuletzt findet aber die Nation zu ihrer Einheit immer noch am zielsichersten, wenn gegen die Anderen gekämpft werden muss und Geschlossenheit in den eigenen Reihen gefordert ist. Bei der WM oder ähnlichen Veranstaltungen treten Repräsentanten der Nationen gegeneinander an und mindestens ideell fühlt sich da jeder Bürger berufen, die eigene Mannschaft zu unterstützen und dies allen anderen zu zeigen. Dass eine Weltmeisterschaft oder sonstige internationale Wettkämpfe nicht einfach in Volksbelustigung aufgehen, zeigt sich auch am folgenden Statement der Bundeskanzlerin:

„Auch wenn mir Fussball ziemlich gleichgültig wäre, würde ich einer EM oder WM im eigenen Land als Kanzlerin trotzdem die Ehre geben, ja sogar geben müssen, weil es auch darum geht, wie unser Land sich repräsentiert.“ (Merkel, SZ, 07.06.2008) Die Agenten der Staaten, die ansonsten damit beschäftigt sind gegeneinander, um Handelsbedingungen und politische Einflusssphären zu streiten, die jeweils ihrem Standort auf Kosten des anderen zum Vorteil gereichen sollen, fühlen sich genötigt auf internationalen Sportveranstaltungen aufzutauchen.
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Bild: Eröffnungsspiel der Fussballweltmeisterschaft in Brasilien am 13. Juni 2014. / Agência Brasil (CC BY 3.0)

Aus der blöden Gründungsidee der neuzeitlichen Olympiade, nach der weniger Kriege herrschen würden, wenn die Nationen ideell zum Konkurrenzkampf antreten würden, hat noch fast jedes Staatspersonal die Gelegenheit entnommen, auf internationalen Sportwettkämpfen könne die Grösse der Nation ideell gut dargestellt werden. Klar ist, dass z.B. Frankreich nicht auf die Idee kommen wird, dass Deutschland keinen Krieg mehr führen könne, weil die deutsche Elf beim Fussball mal unterliegt. Aber wie ein grossangelegtes neues Regierungsviertel die beanspruchte Grösse des neuen Deutschlands ausdrücken soll, so halten die Regierenden aller Länder es für notwendig auch im Sport Anerkennung von den Konkurrenznationen einzusammeln.

Da fiebert der nationalistische Untertan mit und vollzieht gefühlsmässig - in den Formen des Stolzes die gewonnene Ehre und in den Formen der Trauer bzw. des Ärgers die entgangene Ehre - die Staatenkonkurrenz auf der ideellen Ebene nach. Dass Staaten konkurrieren, dass es schwer um die Anerkennung durch die anderen Nationen ankommt, dass man sich von bestimmten Staaten, z.B. Russland, auch nichts zu sagen haben lassen muss, also eine Hierarchie von Über- und Unterordnung vorhanden ist, dass man diese Hierarchie auch letztendlich mit Krieg durchsetzen würde, das ist bei dieser Form der Völkerfreundschaft als Selbstverständlichkeit unterstellt.

Wegen der Staatenkonkurrenz um politische und ökonomische Macht, taugt auch die Unterscheidung von Patriotismus und Nationalismus nicht. Erster soll angeblich nur die Liebe zu den Seinigen sein, während letzterer sich gegen die Anderen richten würde. Die Liebe zum Vaterland schliesst nun mal notwendig die Gegnerschaft gegen die anderen ein.

Auch das gehört zum brutalen Inhalt des erhofften neuen Sommermärchens.

Besonderheit in Deutschland: Die Freude über die ungezwungene Freude über die Nation

Wegen des verlorenen Krieges, hielten es die deutschen Nachkriegs-Politiker für angebracht, den Nationalismus nicht allzu vehement zur Schau zu stellen, ja sogar die Scham für die NS-Zeit zu einem Teilstück des deutschen Nationalismus zu machen. Damit sollte ein alternativer Weg zur Weltmacht eingeschlagen werden. Nicht gegen die sonstigen Weltmächte – wie Hitler – sollte die deutsche Nation gross gemacht werden, sondern mit Hilfe der westlichen Alliierten. Für diesen politischen Weg sahen sich deutsche Politiker gezwungen die ständige Läuterung als Moment des deutschen Nationalismus ins Feld zu führen. Was in anderen Ländern üblich ist, einfach ungebrochen stolz auf die Nation zu sein, wurde in der deutschen Öffentlichkeit zwar durchaus akzeptiert, aber immer mit einem kleinen Kommentar dazu, dass man selbstverständlich nicht übertreiben dürfe.

Seit der vollzogenen Vereinigung allerdings ist der öffentliche Diskurs ein wenig anders. Es wird behauptet, dass die Deutschen heutzutage in eine andere Richtung übertreiben würden, sich zu sehr schämen und verstecken würden, obwohl das so nicht nötig wäre. Relativ zu dieser Einschätzung wurde der WM-Taumel 2006 (das sogenannte „Sommermärchen“) geradezu als Befreiungsschlag gesehen.

Zunächst ist zu bemerken, dass dieser Taumel gar nicht so einmalig war und das Bild, dass die Deutschen nie so recht ungezwungen ihr Deutsch-Sein gefeiert hätten, stimmt angesichts des Mauerfalls und der WM 1974 überhaupt nicht.

These: Der schräge Blick auf den tatsächlichen Nationalismus resultiert vielmehr aus den neuen Ansprüchen, die Deutschland gegenüber der Welt stellt, seit es mit der Vereinigung die Souveränität wiedererlangt hat.

Gruppen gegen Kapital und Nation

Fussnoten:

1 Die Zitate stammen von vergangenen Meisterschaften.

2 „Süddeutsche Zeitung: Klinsmann wollte ‚der Welt zeigen, wer wir sind': Eben kein mutloses Volk, das über zweistellige Arbeitslosenquoten jammert und im Zeitalter der Globalisierung den Anschluss verpasst. Wie wichtig sind Siege im Fussball für den Nationalstolz? Merkel: Wir haben gefeiert und uns gefreut, obwohl wir gar nicht Weltmeister, sondern Dritter geworden sind. Ich war über die grossartige Stimmung in Deutschland sehr, sehr froh. Sie hatte eine wunderbare Leichtigkeit.“ (SZ, 07.06.2008)